Das Fehlen des Individuums in der arabischen Kultur: ein unerwähntes Paradoxon beim Ruf nach Demokratie in der arabischen Welt

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von Adel Mtimet

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1. Das Problem: ein Paradoxon der aktuellen arabischen politischen Szene. Die Grundbedingung  für eine Demokratie ist offenkundig der Respekt für die Freiheit des Individuums. Aber die erste Frage, die sich in diesem Zusammenhang stellt, ist die Frage nach der Natur dieses Individuums und dem Umfang der individuellen Freiheit, auf der die Demokratie basiert. Dies war und bleibt eine der zentralen Fragen im  politischen Diskurs und den Staatstheorien.

Doch die Bedeutung der individuellen Freiheit ist hier klar und wird weithin anerkannt:

In diesem Zusammenhang ist nicht die natürliche Freiheit oder nur die durch die Natur begrenzte tierische Freiheit  (Naturzwänge wie Instinkte, Vererbung), sondern eine bürgerliche Freiheit gemeint, die durch das Kalkül und die Vernunft begrenzt und  vom Zivilrecht im Rahmen der allgemeinen der gemeinsamen Interessen zwischen den Individuen geleitet wird.

Dies kristallisierte sich seit  der Philosophie des Gesellschaftsvertrages (Hobbes, Spinoza, Rousseau …) im siebzehnten Jahrhundert durch Theorien heraus, die trotz erfolgter Kritik und Revisionen noch heute als Referenz dienen. Denn der in den Philosophien des Gesellschaftsvertrags beschriebene Übergang vom Naturzustand in den Zustand der zivilen und politischen Gesellschaft hat nicht die Individualität des Einzelnen negiert, sondern er erzieht sie und bietet ihr definierte Grenzen, um ihr Raum zu schaffen in der Gemeinschaft.

Daher ist das Individuum, über das wir reden, hinsichtlich der Demokratie kein absolut egoistisches Individuum, das ausschließlich seinen eigenen Vorteil sucht, sondern ein Individuum, das seine Interessen im Rahmen der Interessen der Gemeinschaft sieht.

Die Individualität wird aus politischer und moralischer Perspektive nicht als Isolation oder Zurückziehen gesehen, die zu einer Fragmentierung der Gesellschaft führen, sondern als Teil des allgemeinen Systems von gemeinsamem Interesse.

Dies folgt aus der Definition der bürgerlichen Freiheit nach Rousseaus  „Gesellschaftsvertrag“ (Contrat social, 1762). Das Individuum verliert durch den Gesellschaftsvertrag die absolute Freiheit, alles zu machen, was es kann; dafür gewinnt es die bürgerliche Freiheit und das Recht, alles zu besitzen, was es verdienen konnte. Daher müssen wir unterscheiden zwischen natürlicher Freiheit, die nur durch die Macht des Individuums begrenzt ist, und bürgerlicher Freiheit, die durch den Willen der Allgemeinheit begrenzt wird.

„Der Verlust, den der Mensch durch den Gesellschaftsvertrag erleidet, besteht in dem Aufgeben seiner natürlichen Freiheit und des unbeschränkten Rechtes auf alles, was ihn reizt und er erreichen kann. Sein Gewinn äußert sich in der bürgerlichen Freiheit und in dem Eigentumsrecht auf alles, was er besitzt. Um sich bei dem Abwägen der Vorteile beider Stände keinem Irrtum hinzugeben, muss man die natürliche Freiheit, die nur in den Kräften des einzelnen ihre Schranken findet, von der durch den allgemeinen Willen beschränkten, bürgerlichen Freiheit genau unterscheiden und in gleicher Weise den Besitz, der nur die Wirkung der Stärke oder das Recht des ersten Besitzergreifers ist, von dem Eigentum, das nur auf einen sicheren Rechtsanspruch gegründet werden kann. Nach dem Gesagten würde man noch zu den Vorteilen des Staatsbürgertums die sittliche Freiheit hinzufügen können, die allein den Menschen erst in Wahrheit zum Herrn über sich selbst macht; denn der Trieb der bloßen Begierde ist Sklaverei, und der Gehorsam gegen das Gesetz, das man sich selber vorgeschrieben hat, ist Freiheit.“(1)

Wir gehen von der Annahme aus, dass diese Wahrnehmung der Individuen und der Freiheit des Individuums die Basis der Demokratie im Westen heute ist, und das diese Wahrnehmung das Ergebnis einer kulturellen und politischen Entwicklung ist, die im Westen geschehen ist. Es gibt keine Hinweise, dass die arabische Kultur diese Entwicklung vollzogen hat.

Daraus folgt die Aussage, dass die Rufe nach demokratischen Regierungsformen in den arabischen Gesellschaften verhallen müssen, da es (noch) keine kulturelle Basis für deren Errichtung gibt.

Daher müssen Vordenker und Politiker dieser Region nicht die Demokratie als Endziel eines Prozesses anstreben, sondern zuerst Bedingungen schaffen, unter denen die Demokratie ausgeübt werden kann.

Es ist wichtig, an diesem Punkt, so einfach er scheinen mag, kurz zu verweilen. Denn das Ausgehen von falschen Annahmen/Axiomen führt zu falschen und katastrophalen Praktiken. Es ist daher hoffnungslos/illusorisch, politische Demokratie in Gesellschaften auszuüben, die deren Voraussetzungen nicht akzeptieren.

Um Missverständnissen vorzugreifen: Ich bin kein Verteidiger Freiheit negierender politischer Systeme, ich bin kein Unterstützer des Despotismus oder der Tyrannei. Ich möchte jedoch eine sehr wichtige, aber vernachlässigte Frage genauer betrachten: die nach den Bedingungen für eine (erfolgreiche) Demokratie.

Das moderne arabischen Denken und vor allem die arabischen Gesellschaften müssen die moralischen und gedanklichen Voraussetzungen ausmachen, die eine Demokratie ermöglichen, bevor Politiker und Intellektuelle die Schaffung demokratischer Systeme fordern, ohne einen klaren Plan zu haben.

Die Wahrheit, die wir anerkennen müssen, und die vor allem die arabischen Denker und Politiker anerkennen müssen, ist, dass die arabische Kultur die ethischen und politischen Konzepte der Individualität nicht integriert hat; also die Konzepte, auf denen die demokratischen politischen Systeme im Westen beruhen – seit der ersten englischen Revolution (englischer Bürgerkrieg, 1642- 1651), der französischen Revolution (1789), und den danach erfolgten Erweiterungen des demokratischen Modells in Europa und Amerika folgte.

Wenn die meisten von uns erkennen (sei es aus Überzeugung oder nur als Behauptung), dass das republikanische System, welches aus der römischen Erfahrung vor der Entstehung des Römischen Reichs des Okzidents entstand, wie auch das demokratische System in Athen und die aktuellen demokratischen Modelle vorbildliche Modelle sind, deren Mechanismen wir anwenden sollten, um den politischen Zustand in der arabischen Welt zu reformieren und zum Besseren zu wandeln, dann sollten wir zugleich zugeben, dass diese Anwendung nicht gelingen wird, wenn sie keinen inneren Einklang in der Gesellschaft findet. Wir sollten also nicht einfach die Begrifflichkeiten kopieren, die das Konzept der Demokratie bilden.

Denn Demokratie ist ein Gesamtkonzept, das als Ganzes genommen oder abgelehnt werden muss. Wenn man nur Elemente wie zum Beispiel den Wahlmechanismus nimmt, aber die Gleichstellung von Männern und Frauen oder den Respekt für die universellen Rechte des Individuums ablehnt, wird das nicht zu einer in sich harmonischen Demokratie führen, sondern zu einem verzerrten Abbild, wie zum Beispiel die sogenannte Volksdemokratie,(2) die nichts anderes als Totalitarismus ist oder gar ein theokratisch geneigtes System, eine Theokratie – je nachdem, zu welcher Richtung die politische Mehrheit der Wahlurnen neigt.

Laizität als eine inhärente Wahrnehmung der individuellen Freiheit und der politischen Demokratie:

Einige Analysen zeigen, dass die Demokratie in ihrer Endform nur verbunden mit Laizität verwirklicht werden kann, weil diese ein politisches System repräsentiert, das sich  mit dem Individuum befasst auf der Grundlage seiner einfachen Individualität, und nicht auf der Grundlage seiner Zugehörigkeit zu einer homogenen Glaubensgruppe. Laizität erfordert nach Catherine Kintzler  ein System der „paradoxen Klasse“,(3) eine Kategorie, die einen Bereich  repräsentiert, in dem sich das Individuum zugehörig fühlt und zugleich unabhängig von ihm ist: Ein Individuum, das in der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe seine Unabhängigkeit behält und die Freiheit des Glaubens genießt. Keiner Mitglied dieser Gruppe oder der Mehrheit dieser Gruppe hat das Recht, ihm durch seine politische Macht  einen bestimmten Glauben aufzuzwingen: das ist die Bedeutung einer paradoxen Zugehörigkeit. Catherine Kintzler versteht diesen Begriff als gemeinsame Grundlage für Demokratie und Laizismus und definiert ihn Begriff in folgender Weise:

Eine Republik zu bilden, in der die Abhängigkeit gegenüber der politischen Autorität als Motiv und als Wirkung hat, jeden Bürger unabhängig von jedem anderen und frei von jeder anderen Vereinigung zu machen, das heißt sich dem System einer paradoxalen Klasse einzuordnen. Die für alle definierten Rechte führen dazu, dass ein jeder sie auf eine sich radikal von allen anderen unterscheidende Weise ausüben kann.(4)

Die individuelle Unabhängigkeit von anderen und die  Befreiung von jeder  kollektiven Bindung  ist eine kollektive Motivation für die Bildung der Republik und die politische Macht.

Um das System der paradoxen Kategorie unter Beweis zu stellen: In diesem System genießt  jeder Einzelne die allen gewährten Rechte in einer ganz anderen Weise als alle anderen.

Auf diese Weise wird das Recht, anders zu sein, zum Prinzip der Existenz des Einzelnen in der laizistischen Gemeinschaft:

«Ausgehend von der Dimension des „citoyen“, des Bürgers, könnte sich die Frage der Unterordnung unter das System der paradoxen Klasse folgendermaßen stellen: in einer laizistischen Gesellschaft ist die Aussage «ich bin nicht wie die restlichen Menschen» nicht nur möglich, sondern man muss sie zum zum Gründungssatz des Gemeinwesens  machen. Indem ich der Gemeinschaft beitrete, verlange ich von Euch, mir zu versichern, dass ich sein dürfen werde wie die anderen nicht sind, vorausgesetzt dass ich die Gesetze respektiere, die kein anderes letztes Ziel haben als mir dieses Recht zuzusichern.»(5)

Die Aussage „ich bin nicht wie die anderen“ ist nicht nur eine mögliche Aussage, sondern  in einer Gesellschaft auf die Zugehörigkeit zur Kategorie der paradoxen Klasse begründet, vielmehr soll sie ein Zentralthema für den Selbstentwurf dieser Gesellschaft sein. Das heißt: Wenn der Einzelne einer Gesellschaft beitreten  will, um Mitglied zu werden, verlangt er erst von dieser Gesellschaft, ihm das Recht zu garantieren, nicht wie die anderen zu sein mit der einzigen Verpflichtung, die Gesetze zu respektieren, die nichts anderes bezwecken als diese Rechte zu bewahren.

Das Recht auf Religionsfreiheit zum Beispiel wird in einem republikanischen und demokratischen Rahmen jedem Einzelnen gewährt, und jeder Einzelne kann es auf seine eigene Art ausüben.

In den arabischen Gesellschaften ist diese Form der Zugehörigkeit nicht verfügbar oder steht bis heute nicht zur Verfügung, da  sie entweder durch die Logik der Blutsverwandtschaft des Stammes oder die Logik der Zugehörigkeit zu einer geschlossenen religiösen Gruppe (Muslime, Schiiten, Sunniten , …) definiert wird.  Wie sollen diese Gesellschaften dem Muster der vollen und absoluten Zugehörigkeit zu einer Gruppe entkommen – oder wollen sie es womöglich gar nicht -, und wie sollen sie den Ehrgeiz besitzen, gleichzeitig  ein demokratisches System zu bilden? Wie können  Politiker und Journalisten dieser Gesellschaften über Demokratie sprechen, wenn in ihren Gesellschaften die Hauptbedingung für eine Demokratie fehlt: Denn in einer offenen Gesellschaft zählt die Individualität des Einzelnen und dessen Zugehörigkeit zur Kategorie der paradoxen Klasse. Ist diese paradoxe Situation nicht  die Hauptbedingung  für jede zivile Freiheit, für jedes unabhängige Recht und schließlich für  jede Demokratie?

Entweder handelt es sich um Unkenntnis der Prinzipien einer Demokratie oder der Begriff Demokratie ist nur ein Slogan des Sich-Überbietens oder als Logo des Handels veranschlagt, um Menschen zur Solidarisierung zu locken. In Wahrheit existieren die soziokulturellen Bedingungen der Demokratie nicht einmal. Dieser Widerspruch zeigt sich glasklar  in der arabischen politischen Szene, in der wir religiöse Parteien finden, deren Ideologien auf der Logik der homogenen Glaubensgruppe (dh. die Logik der absoluten Zugehörigkeit) basieren und die zugleich die Ausübung der Demokratie fordern. Es ist klar, dass diese Parteien nur einige Mechanismen von der Demokratie übernehmen, vor allem den Wahl-Mechanismus, um die Wahl zu gewinnen, an die Macht zu kommen, und schließlich die Logik des Siegers zu implizieren.

2- Das Individuum in der westlichen Kultur als Grundlage der Demokratie

Trotz aller Kritik am demokratischen System und trotz seiner gefährlichen Abweichungen nach der französischen Revolution wie der totalitären Demokratie nach Jacob Talmons Definition, lobt die gesamte Welt noch immer die Demokratie. Sie wird als das beste politische System für das Management der Beziehungen betrachtet – horizontal zwischen den Individuen untereinander, und vertikal zwischen den Individuen einerseits und der politischen Gewalt andererseits. Trotz aller Irrwege, die die Demokratie durchlaufen hat, kann heute niemand behaupten, er besäße die Legitimität, ein politisches System zu fordern, das den Menschen ihre Freiheit nimmt. Sogar totalitäre Systeme und politische Bewegungen, die totalitäre und absolutistische Projekte in sich tragen -insbesondere in unserer arabischen Welt- halten für die Augen der Öffentlichkeit den Slogan Demokratie ganz hoch. Alle lobpreisen die Demokratie und bezeichnen sich als ihre Förderer, egal ob sie zu denen gehören, die sie wirklich einfordern oder zu denen, die die Demokratie als Pseudo-Slogan hoch halten möchten.

Warum?

Weil alle davon ausgehen oder stillschweigend anerkennen, dass das Ziel eines politischen Systems ein moralisches Ziel ist, nämlich die Menschen zu schützen und ihnen Voraussetzungen für ihr Glück zu bieten. Und alle erkennen auf die eine oder andere Weise an, dass der Mensch an allererster Stelle ein Individuum ist, bzw. die Summe seiner individuellen Rechte verkörpert. Ferner gab es in Klassifizierung der Herrschaftsform weder in der Vergangenheit noch in der Gegenwart keine Form, die näher an Wertschätzung und Respekt dieser individuellen Rechte ist als das demokratische System. Deshalb wird die Demokratie weiterhin allgemein gefordert, und dass niemand es wagen wird, Despotismus gegen die Menschen einzuführen. Demokratie bleibt die beste Alternative; die Feinde individueller Rechte und Gegner der Aufklärung können ihre Ansichten nicht vor Menschen, die die Freiheit des Individuums und die Wahrung seiner Würde als Grundziele und Grundwerte betrachten, verteidigen.

Aber der Begriff der Individualität/des Individuums im Westen ist nicht plötzlich aus dem Nichts entstanden. Es war ein langer historischer Entwicklungsprozess, der zur Entstehung des Begriffs der Individualität als grundsätzlicher gesellschaftlicher Realität führte, und der die westlichen Gesellschaften veranlasst hat, sich für die Demokratie als alternativloses politisches System zu entscheiden. Wir können die Grundetappen dieses Entwicklungsprozesses wie folgt zusammenfassen:

Erstens: eine wissenschaftliche Revolution, die das Weltbild in der westlichen Kultur seit dem siebzehnten Jahrhundert auf dem Kopf gestellt hat. Das Ergebnis dieser Revolution war das, was man als die materielle und mechanische Autonomisierung des Universums von jeder äußeren Verursachung bezeichnen kann. Die Historiker der modernen Wissenschaft wie P. Duhem und A. Koyré haben die metaphysische moralische und tiefgreifende politische Wirkung dieser Revolution exzellent beschrieben. In diesem Zusammenhang möchte ich Interessierte auf die ausgezeichneten Studien des schweizerischen Denkers Jan Marejko aus den neunziger Jahren verweisen, in denen er die kulturellen Auswirkungen der modernen wissenschaftlichen Revolution betrachtet (ich habe diese Studien ins Arabische übersetzt und im tunesischen Magazin „MADARAT“ unter dem Titel: „Die philosophischen Konsequenzen des Prinzips der Unsicherheit“ (Les conséquences philosophiques du principe d’inertie) veröffentlicht. Ferner ist die kosmologische Autonomie des Universums physikalisch verbunden mit der Realität, die das galiläische und cartesianische [# Descartes]  Prinzip der Unsicherheit fordert, das zwischen dem Bewegenden und dem Bewegten trennt – im Gegensatz zum Prinzip der Abhängigkeit, was für Peripatetiker seit Aristotelis das leitende Prinzip gewesen war.

Zweitens: Diese wissenschaftliche Revolution, die den Bewegenden vom Bewegten trennte, und die Idee der Autonomie des Wesens durch die Beweiserbringung der Autonomie des Universums und die Trennung zwischen Bewegendem und Bewegtem verkörperte, hat auch ein anderes Prinzip bestätigt, dessen tiefgreifende kulturelle Auswirkungen viele nicht ermessen: es ist das Prinzip der galiläischen Relativität. (Ich mache immer wieder ein lustiges Experiment mit meinen Studenten, in dem ich sie nach dem Bild eines bewegten Körpers über einem anderen Körper frage: ein Körper, der vom Turm eines sich auf der Wasserfläche gleichmäßig bewegenden Schiffes fällt. Ich habe festgestellt, dass ihr Verständnis für die Bewegung, dem physikalischen Unterricht, in der Schule zum Trotz, sich immer noch am aristotelischen Prinzip orientiert). Die grundlegende Idee dieses Prinzip war die Idee des Beobachters, der die Bewegung nur im Verhältnis zu sich selbst bestimmt hat.

Drittens: Dies ist ein Wendepunkt, der mit den vorigen Gedanken verbunden ist. Es ist die philosophische Revolution, die dieser wissenschaftlichen Revolution folgte, und die sich als Befreiung des Verstandes von der Macht der Vorurteile und der Macht der äußeren Erkenntnisquellen darstellte. Der französische Philosoph hatte eine Vorreiterrolle in dieser Bewegung durch sein berühmtes Prinzip des Zweifelns… Jenes Prinzip, das die Fähigkeit des menschlichen Verstands aufzeigte, grundsätzliche Wahrheiten erkennen zu können, ohne dass der Mensch der Hilfe einer transzendentalen höheren Erkenntnismacht bedürfe.

Viertens: Aber vor der Etablierung der neuen wissenschaftlichen Vorstellung der Welt und vor der cartesianischen philosophischen Revolution gab es einen entscheidenden historischen Moment, der, vielleicht, einen großen Impuls für die beiden erwähnten  Entwicklungen gab. Und zwar die lutherische Reform in Deutschland. Wir können dieses geschichtliche Ereignis als Befreiung oder Demokratisierung des Glaubens durch die Ablehnung der katholischen seelischen Macht nennen: Denn die Abschaffung der Mittelrolle (Kontrolleur) zwischen Gläubigen und Gott, und somit die Befähigung des gläubigen Menschen, den religiösen Textes selbst zu lesen und zu deuten, gab dem Individuum eine Glaubensfreiheit, die es niemals zuvor genossen hatte, und machte aus dem Glauben eine unabhängige, freie, individuelle und offene Angelegenheit.

Fünftens: Die Aufklärung, die insbesondere Kant durch seine kritischen Schriften und speziell durch seinen berühmten Essay „Was ist Aufklärung?“ vom Jahr 1784 prägte. Wir sollten hier erwähnen, dass die Grundidee dieses berühmten Essays die Unterscheidung zwischen „Mündigkeit“ und „Unmündigkeit“ gewesen ist, d.h. zwischen dem unterwürfigen Menschen, unfähig seine Haltung selbst aufzubauen bzw. zu bestimmen, und dem mündigen Menschen, der sich von der Macht der Anderen befreit  und befähigt hat, seine Haltung selbst zu bestimmen. Das ist nach Kant die Voraussetzung für Freiheit und Fortschritt.

Ich möchte daran erinnern, dass diese freiheitliche Entwicklung, die das Bewusstsein und die Kultur des Westens epistemologisch, philosophisch, moralisch und politisch prägte, schon seit jener Zeit Feinde hatte (insbesondere im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert). Erwähnenswert in diesem Zusammenhang die tiefgreifende Untersuchung des israelischen Forschers Zeev Sternhell „Les Anti-Lumières,“  die Anti-Aufklärung. Letztendlich hat jedoch die freiheitliche Entwicklung gesiegt und behauptet sich weiterhin recht souverän, trotz aller Überprüfungen der Moderne und trotz aller Kritik an der liberalen Demokratie. Denn diejenigen, die heute Gleichheit und soziale Rechte fordern, fordern nichts anderes als die Festigung derselben Prinzipien der Aufklärung und der Moderne, die sich auf den Grundsatz der Freiheit des einzelnen Menschen, des Individuums, stützen.

3- Wie steht die arabische Kultur zu diesen Gedanken?

Wir können ohne Unterstellung sagen, dass die arabische Kultur nichts davon begriffen hat:

Nach der Unabhängigkeit bestimmt trotz der Zwangs-Modernisierungsversuche des Staates immer noch die Zugehörigkeit zu Religion oder Sippe das Bewusstsein des Einzelnen in den arabischen Gesellschaften. In einer Studie der Forscherin Manuela E. B. Giolfo zum Buch des deutschen Soziologen Norbert Elias „Die Gesellschaft der Individuen“  mit dem Titel: „Besitzt das Individuum eine Existenz in der arabisch-muslimischen Gesellschaft?“  untersucht die Forscherin die grundsätzliche Abwesenheit des Begriffs im „Register“ der arabischen Kultur: Das Wort „Individuum“ bedeutet in der arabischen Sprache zuerst ein Muster, das von der Gesamtheit entfernt werden kann. Es bedeutet nicht genau dasselbe, was der Begriff Individuum in der westlichen Kultur bedeutet – ein Wesen, das sich durch seinen Willen und Selbstverständnis auszeichnet. Die Forscherin betont die Abwesenheit der sozio-linguistischen Bedeutung des Wortes „Individuum“ in allen zum selben Bedeutungsfeld gehörigen Wörtern. Sie stellt fest, dass es in der arabischen Sprache kein Wort gibt, das dieselbe Bedeutung hat wie das Wort Individuum im westlichen „Register“.(9)

Wir können die Analyse des verstorbenen ägyptischen Wissenschaftlers Ghali Shukri zur Situation der Denker und Intellektuellen in der arabischen Gesellschaft als ein lebendiges Zeugnis für die Distanz des arabischen gesellschaftlichen Bewusstseins vom Verständnis der Unterschiedlichkeit des Individuums und seiner persönlichen Freiheit, vor allem, wenn es um die Freiheit des Denkens geht. Ich empfehle dem Leser das erste Kapitel seines Buches „Erinnerungen einer sterbenden Kultur. Die Freiheit des Denkens: Vom liberalen Traum zur Revolutionstheorie“: Diesbezüglich sagt Ghali Shukri:

Von Anfang an merken wir, dass das Individuum die Achse dessen ist, was ich die Theorie des freien Denkens nenne, denn das persönliche Gewissen – die Quelle des freien Denkens – ist das heiligste aller Heiligkeiten des menschlichen ICHs, das in seiner ganzen Individualität mit der herrschenden Macht, mit der Gesellschaft und mit dem herrschenden Glauben zusammenstößt.(10)

Der verstorbene ägyptische Denker zeigt tiefgreifend, dass die Problematik nicht ausschließlich mit dem Zusammenstoß des Individuums mit der politischen Macht zu tun hat, sondern auch mit dessen Zusammenstoß mit der Gesellschaft, die der Logik der Wiederholung und des Gleichartigen unterworfen ist:

Das Problem des Individuums besteht hier nicht mit der Herrschaft, die meistens unparteiisch an der Seite der Mehrheit steht. Das Problem des Individuums besteht auch nicht mit dem herrschenden Glauben. Sondern in der Einnahme einer individuellen sehr persönlichen Haltung gegenüber der Herrschaft, den Volksmassen und dem herrschenden Glauben gleichermaßen. Die Unzugehörigkeit (oder was wir bei Katherine Kintzler die paradoxe Zugehörigkeit nannten) ist selbst der Mittelpunkt der Krise zwischen dem Individuum und der Gesamtheit.(11)

Ich glaube meinerseits, dass die von Dr. Ghali Shukri erwähnte Bemerkung über die Beziehung zwischen dem Individuum und der Gesamtheit sehr genau ist. Denn diese Beziehung erscheint in den arabischen Gesellschaften gefährlicher als die Beziehung zwischen dem Individuum und der politischen Macht, vor allem weil diese politische Macht in vielen Fällen in Form einer modernisierenden Macht erschien, die die Last der Gesamtheit auf das Individuum lindert (wie im tunesischen Beispiel).Zusammenfassend können wir sagen, dass die aktuelle arabische politische Situation keine politische Änderung braucht, die in einem historischen (sozialen, moralischen und gedanklichen) Vakuum hängende demokratische Regierungssysteme aufbaut. Was sie braucht, ist eine Erschütterung der Grundlagen einer traditionellen Kultur, die verhindert, dass das Individuum ein Mittelpunkt der gesellschaftlichen Dynamik wird. Was wir brauchen, ist eine moralische, und keine politische Revolution.

Dr Adel Mtimet, Institut Supérieur de Sciences Humaines, Université de Gabès, Tunesien

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1)  Der Gesellschaftsvertrag,I, 8.Kapitel: Vom staatsbürgerlichen Zustand.
2)  Siehe hierzu Jacob Talmon, The Origins of Totalitarian Democracy, London, 1952.
3)  Siehe hierzu: Catherine Kintzler Qu’est-ce que la laïcité ?, Vrin, coll.«Chemins philosophiques», 2007, S.128.
4)  Catherine Kintzler,  Laïcité et philosophie,  (erschienen in Archives de philosophie du droit «La Laïcité», Vol. 48, Paris: Dalloz, 2005, S.43-56),  Text online (http://disciplines.ac-montpellier.fr/philosophie/sites/philosophie/files/fichiers/2008/kintzler_laicite_03.pdf)
5)  Ibid.
6)  Les Anti-Lumières, édition Fayard, Paris, 2006
7)  Die Gesellschaft der Individuen ist ein Werk des deutschen Soziologen Norbert Elias, auf deutsch 1983 erschienen und 1991 auf französisch (mit einem Vorwort von Roger Chartier). Die Gesellschaft der Individuen (suhrkamp taschenbuch wissenschaft), Frankfurt, November 1991.
8)  L’individu existe-t-il dans la société arabo-musulmane? Parcours individuels et insertion societale: Une lecture de N. Elias, die Gesellschaft der Individuen, Suhrkamp, Frankfurt 1987. (Text online:  www.ojs.unito.it/index.php/kervan/article/view/962).
9)  „Die Wörter, mit denen man in arabischer sprache einen einzelnen Menschen (Mann) in seiner individuellen Wirklichkeit bezeichnet sind zahlreich: wâïid, ƒaïad, šaðñ, maðlûq, ƒað. Der erste Terminus hebt die Singularität hervor, der zweite den unbestimmten Charakter, der dritte die komplexe Psychologie, der vierte seine Grenzen als Kreatur/menschliches Wesen, der fünfte sein Sein gleich allen anderen („Der Gläubige ist der Bruder des Gläubigen“). ‘Abd ist ein sechster Terminus, mit dem ein Mann unter anderen bezeichnet wird, der nur von seiner Unterwerfung unter Allah determiniert wird. Keiner der Termini bezieht sich auf das Individuum als etwas für sich selbst, als etwas Absolutes, sondern bezieht das Individuum sofort auf einen generelleren Terminus, durch den es seine Bestimmung erhält: wâïid bezeichnet den einen unter anderen, die Singularität im Gegensatz zur Pluralität; ƒaïad dbezeichnet eine unbestimmte Singularität, die sich der Einheit als Einzigartigkeit der Göttlichkeit entgegenstellt: die Unbestimmtheit der vielfältigen Wirklichkeit des menschlichen Singular stellt sich dem Absoluten der göttlichen Einheit-Einzigartigkeit entgegen. Šaðñ steht für die Komplexität, die Widersprüchlichkeit, die Verwundbarkeit und die Unbeständigkeit der menschlichen Person gegenüber der perfekten göttlichen Dichte und der Unzerstörbarkeit der göttlichen Essenz (ñamad).“ Ibid.
10)  Ghali Shukri, Memoiren einer sterbenden Kultur, Arabisches Haus Buch, 1984 , S. 19
11)  ibid.

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