Rede des Preisträgers

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Rede der Preisträgerin Aisha Odeh anlässlich der Verleihung des Ibn Rushd-Preises für Freies Denken 2015 („Gefangenenliteratur“)

27. November 2015

Liebe Mitglieder des Vorstands des Ibn Rushd Fund für Freies Denken,
lieber Herr Hikmat Bushnaq-Josting, Vorsitzender des Ibn Rushd Fund,
Meine sehr geehrten Damen und Herren,

Es ist mir eine große Freude und Ehre, heute hier bei Ihnen sein zu dürfen und den Ibn Rushd Preis für Freies Denken, der für das Jahr 2015 im Bereich Gefängnisliteratur ausgeschrieben war, für mein Buch „Träume von der Freiheit“ entgegenzunehmen. Ich möchte hier die Gelegenheit nutzen, dem Fund und allen, die sich für seine Ziele engagieren, meine hohe Wertschätzung und meinen Respekt auszudrücken.

Verehrtes Publikum !

Erlauben Sie mir, ein Wort an meinen Onkel zu richten. Ich zitiere aus meinem Buch Träume von der Freiheit:

„Wo bist du, geliebter Onkel. Du glaubtest an die Überlegenheit des Mannes über die Frau. Wenn Du heute noch leben würdest, dann hätte ich dir Tatsachen vorgeführt, die Deine Meinung ändern würden. Männer sind den Frauen nicht überlegen, und sie sind nicht zuverlässiger als Frauen.“ (Träume von der Freiheit), S. 71.

Heute suche ich dich, Onkel, um dir zu sagen, die Tochter deines Bruders, von der du gewünscht hattest, sie wäre ein Junge gewesen, hat eine Ausbildung gemacht und einen Beruf ausgeübt. Sie bereiste die entferntesten Teile der Erde, so wie sie es sich als Kind immer erträumt hatte. Sie wurde aktiv in öffentlichen Angelegenheiten und stellte sich in Konfrontation zu der israelischen Besatzungsmacht. Sie nahm immer wieder Verantwortung auf sich. Und es wäre ihr nie in den Sinn gekommen, dass sie weniger wert sei als ein Mann.

Obwohl dies für mich von enormer Bedeutung ist, fühle ich mich heute geschwächt. Wir alle, Onkel, sind sehr geschwächt: Männer, Frauen, Alte und Kinder. Uns wurden alle Rechte geraubt, beginnend mit dem Recht auf ein freies Heimatland und der Freiheit der Selbstbestimmung bis zu den einfachsten Dingen der Bewegungsfreiheit oder gar noch bescheidener, das Recht von Kindern auf eine Geburtsurkunde!

Verzeih mir, Onkel, dass ich mit dir die ganze Zeit über nicht gesprochen habe und dir erst jetzt, nach einer so langen Zeit, schreibe. Der Grund ist, dass ich dauernd wie besessen in Bewegung bin. Ich gehe von einer Mahnwache zur nächsten, mal, um mich mit einigen Administrativgefangenen (Inhaftierten ohne Anklage) zu solidarisieren, die in den Hungerstreik getreten sind, mal,  um einen Gefangenen zu unterstützen, der im Sterben liegt und immer noch ans Bett gekettet ist, mal, um mich für die Mütter, Ehefrauen und Kinder einzusetzen, denen der Besuch zu ihren Angehörigen in israelischen Gefängnissen verwehrt wird. Ich eile mit den Anderen, um die Brände, die die israelischen Siedler in den Olivenhainen und Kornfeldern anzünden, zu löschen, oder um mich in den Weg eines Bulldozers zu stellen, der Erde und Bäume aufwühlt, um eine breite Straße exklusiv für israelischen Siedler zu graben oder um mehr Siedlungen zu bauen oder bestehende auszubauen.


Onkel, Du willst bestimmt wissen, wie es unserem Dorf geht. Erinnerst du dich an die vom Dorf östlich gelegene fruchtbare Hochebene? Ich meine das Nagma-Plateau, das wir beackerten und von dem wir lebten? Erinnerst du dich an unsere alten Träume, es in Haine und blühende Obstgärten zu verwandeln? (Aus „Preis der Sonne“, S. 126)


Diese Hochebene gehört uns nicht mehr, Onkel. Keiner im Dorf wagt heute, sich ihr zu nähern. Die israelische Armee beschlagnahmte das Land und hat es talmudischen Fundamentalisten übergeben. Sie errichteten dort eine Siedlung, die den Namen „Kokhav HaShahar“ trägt und sich am Anfang der Hochebene befindet. Sie haben das Land mit Stacheldrahtwellen umzogen, von schussbereiten Gewehren bewacht. Für sie bauten sie Straßen und bohrten nach Grundwasser. Die Hochebene verwandelte sich in Weinberge und Obstgärten, deren Erträge heute exportiert und auf dem europäischen Markt verkauft werden.


Ich sehne mich nach dem Nagma-Plateau, es wiederzusehen, wenn auch nur von weitem. Ich verbinde damit viele Kindheitserinnerungen und hörte damals den Zukunftsträumen der Jugend über die Hochebene zu, während ich auf dem Schoß meines Bruders saß, Träume, die in meiner kindlichen Fantasie lebendig wurden (Preis der Sonne, S. 126). Eines Tages saß ich auf einem Felsen oberhalb der Ebene. Ich sah die Siedlung und die mit roten Ziegeln bedeckten Häuser. Die Pflanzen strotzten in einem frischen Grün. Die Sonnenstrahlen spiegelten sich im Schwimmbecken. Und der Zufall wollte es, dass in dieser Zeit das Trinkwasser in unserem Dorf an 21 aufeinander folgenden Tagen gesperrt war! Ja, richtig, 21 Tage lang!
Plötzlich kam ein Auto herangefahren und hielt in meiner Nähe an, es stiegen zwei Siedler aus, ihre Finger am Abzug ihrer Gewehre. Sie fragten: Was tust du hier? Die Öffnungen ihrer Gewehre wandten sich nicht von mir ab, bis ich den Platz verlassen hatte.


Ich werde Dir von unserem nördlich auf dem Asour-Hügel (die höchsten Hügel des Westjordanlands) gelegenen Weinberg erzählen. Meine Eltern hatten dort viele intime Erinnerungen, die mir meine Mutter anvertraut hat, da ich die Frucht dieser Erinnerung war. O, wie ihre Augen funkelten, als sie sie mir erzählte. Während meiner Jahre im Gefängnis und im Exil vertrieb ich mir meine Zeit mit dem Malen von Träumen. Ich träumte, ich verwandelte den Weinberg in einen Ort, der so schön war wie das Funkeln der Augen meiner Mutter. Als ich nach einem Vierteljahrhundert Verbannung in das Dorf zurückehrte, fand ich, dass der Weinberg zu einem Teil einer israelischen Spionageanlage geworden war, die die wichtigste im Nahen Osten ist.


Onkel, ich sehe du willst schnell noch die Nachrichten über eure Farm westlich des Dorfes erfahren? Fürchtest Du, dass bald auch noch die Erinnerungen beschlagnahmt werden? Die schönen Abende mit Bambusflötenmusik, Mawwal-Gesang und Gelächter, das im Tal als Echo zurückhallte unter Mond und Sternen und der kühlen Morgenbrise? Wir Kinder verfolgten die Geister und die Heuschrecken und sammelten Schildkröten, und wir wachten mit den Vögeln in der Morgendämmerung auf und pflückten die vom Tau feuchten Feigen. Es tut mir leid, dir mitteilen zu müssen, dass wir dort nicht mehr hingehen dürfen. Die Siedlung Ofra hat sich der Farm bemächtigt, uns trennen jetzt Stacheldraht und auf uns gerichtete Gewehre. Diese Siedlung Ofra stellt sich in unseren Weg nach Ramallah und den benachbarten Dörfern Ein Yabrud und Betein und Deir Dibwan. Wir sind deshalb jetzt 25 km von Ramallah entfernt statt 10 km. Wenn sie die Straßen mit ihren Sandsack- oder Betonbarrikaden sperren, dann sind wir sogar 45 km von Ramallah entfernt. Und dann wird uns immer noch gesagt – und das ist wahr – unser Dorf sei das durch die Besatzung am wenigsten betroffene.

Onkel, wir haben schon Angst, schlafen zu gehen.
Im Juli dieses Jahres 2015 berichteten israelische Zeitungen von einer extremistischen Organisation, die sich in den Siedlungen gebildet hat und dort ihre Mitglieder rekrutiert, mit dem Ziel, in den kommenden 15-20 Jahren die volle Machtübernahme über das Westjordanland zu bekommen und die Araber zu vertreiben oder zu verbrennen oder zu töten, und den Staat Judäa und Samaria frei von Nicht-Juden zu etablieren, so berichteten die israelischen Zeitungen! Die Zeitungen erwähnten damals auch, dass die Regierung keinen von ihnen festgenommen habe und sie sich damit begnüge, sie zu beobachten. Nach zwei Wochen griffen diese Siedler nachts die Familie Dawabsheh im Dorf „Doma“ – westlich von Nablus – an, sie zündeten das Haus an, während die Familie schlief. Das 18 Monate alte Kind Ali starb an den Verbrennungen. Der Vater und die Mutter des Kindes litten Monate lang unter schweren Verbrennungen und starben schließlich auch an den Folgen. Weder die Organisation noch die Tat an sich wurden als Terrorismus bezeichnet! Und bis heute wurde niemand festgenommen, obwohl die Regierung sagt, ihr seien die Täter bekannt, sie habe nur nicht genügend Beweise, um sie zu verhaften!

Du fragst mich nach der Stadt Jerusalem? Ja, weißt du denn nicht, dass wir nicht hingehen dürfen? Die Besatzungsmacht hat sie mit einer Mauer umgeben, die den Bruder vom Bruder und das Auge vom Horizont trennt? Und sie hat den Qalandiya-Checkpoint errichtet, der zu einem Grenzübergang geworden ist, an der Stelle des Flughafens Qalandiya-Jerusalem, von dem ich einst – 1966 – nach Kairo geflogen bin. Ja, verfolgst du denn nicht die sozialen Netzwerke im Internet und Nachrichten auf den Satelliten-Kanälen, Onkel? Oder soll ich dir einige Live-Mitschnitte schicken? Aber, Onkel, ich will, dass dir die öffentlichen Hinrichtungsszenen von Kindern, Frauen und Jugendlichen erspart bleiben, die in Wut ausgebrochen waren und den schwer bewaffneten Soldaten schutzlos und nur mit Steinen in der Hand entgegen traten.


Die Konfrontationen der Jungen und Mädchen Palästinas mit den Panzern und den Soldaten der Besatzungsmacht in Jerusalem – schutzlos, mit bloßen Steinen in den Händen – erinnert mich an jene Aisha, die ich während der Tage in der israelischen Untersuchungshaft Anfang März des Jahres 1969 war. Sie benutzten all ihre Arroganz, um den Stolz der jungen Frau zu zerstören. Sie nahmen ihr alles, was sie hatte. Sie fesselten sie und traten sie von Kopf bis Fuß mit Füßen, in der Absicht, sie zu demütigen, auf ihre Würde zu trampeln und ihren Willen zu brechen, damit diese junge Frau ein erschreckendes Beispiel für alle Söhne und Töchter unseres Volkes sein würde. Das konnte ich nicht akzeptieren, Onkel. Ich war inspiriert von den Kämpfen der Menschheit, die in mir als Willenskraft fließen, die jede Zelle meines Körpers beleben und mein ganzes Wesen erfüllen. Und ich schrie: „Nein!“ Nein zu ihrem grauenvollen Vorhaben gegen unser Volk und unsere Nation, dessen Ausmaße in diesem Moment mir bewusst wurde wie nie zuvor. Ich schrie „Nein!!!“ und ich war überzeugt, dass diese Nacht das Ende meines Lebens sein würde. Ich verlor mein Bewusstsein in dem Moment, als ich sicher war, dass es ihnen nicht gelungen war, mich zu überwältigen. Als mein Bewusstsein zurückkehrte, rief ich: „Mein Wille hat gesiegt, ich werde neu geboren“ (Träume von der Freiheit p. 155)


Auf S. 157 meiner Biografie schrieb ich: „Ich wachte auf wie die Pflanzen nach einem langen Winterschlaf erwachen. Meine Seele schwebte in klaren, freiem Welten des Lichts ohne Not und Furcht, ohne Hass und Rache, ohne Sieg und Niederlage.“


Siehst du, Onkel, so geht es einer Seele, die siegt. Sie übertrifft sich selbst. Es ist ein Sieg, der nicht vergleichbar ist mit dem Sieg des Stärkeren, der die Augen blendet, die Dunkelheit in der Seele vertieft und Ungerechtigkeit und Aggression vermehrt. Es ist der Triumph des Willens zur Freiheit, der aus dem Geist der folgenden Generationen hervorgeht, genau wie Wellen aus den Tiefen des Meeres entstehen. Das Mädchen Aisha, das mit den Füßen der Ermittler und ihrer endlosen Gewalt getreten wurde, hat bewiesen, wie alle Kinder und Jugendliche Jerusalems und ganz Palästinas bestätigen, dass der vermeintliche Sieger kein Sieger ist und die Besiegten keine Besiegten, trotz der Brutalität und Grausamkeit der Besatzer.

In den beiden Büchern „Träume von der Freiheit“ und „Der Preis der Sonne“, für die ich hier geehrt werde, fließen die Leiden dieser Gefängniserfahrung, ihre Schmerzen, ihre Erwartungen und Enttäuschungen. Heute wird hierfür der Ibn Rushd Preis für Freies Denken vergeben, während wir gleichzeitig dem arabischen Philosophen Ibn Rushd gedenken, der sich vor fast 900 Jahren für die Gleichberechtigung von Frauen und Männern einsetzte und für Freiheit und Gleichheit aller Menschen aufrief.
Ich danke den Gründern und Aktiven des Ibn Rushd Funds für Freies Denken, ich danke ihnen dafür, den Preis in diesem Jahr zum Thema Gefängnisliteratur zu vergeben, die im wahrsten Sinne eine Literatur für die Freiheit ist.

Diese Feier öffnet ein Fenster zur Welt der mutigen Gefangenen, die in Gefängnissen der israelischen Besatzungsmacht verharren und schreiben. Und es wird bestätigt, dass der Kampf gegen Ungerechtigkeit, Aggression und Unterdrückung, so klein er sein mag, nicht vergebens ist, … und darüber zu schreiben ist eine humanitäre Pflicht.

Meine Damen und Herren


Ich möchte hier auch meinen Schriftstellerkollegen Mustafa Khalifa und Ahmed Marzouki herzlich für ihre Auszeichnung mit dem 2. Preis gratulieren. Sie verdienen noch mehr als das. Ihre Werke werden von vielen gelesen und sind einflussreich und weit verbreitet.


Und wenn ich schon bei dieser würdigen Gelegenheit sprechen darf, so möchte ich sie nutzen, um meine Stimme gegen das Todesurteil zu erheben, welches in Saudi-Arabien gegen den Dichter Asharf Fayyad aufgrund einer böswilligen Zeugenaussage [mit dem Vorwurf der Apostasie] verhängt wurde! Es ist ein Urteil, welches nach den Regeln des Ermessens ausgesprochen wurde. Gott selbst hat aber all seinen Propheten diese Art des Urteilens – wegen seiner schwerwiegenden Folgen – verboten. Er sprach; „[Du bist ja nur ein Warner] und hast keine Gewalt über sie“ [Koran Sure 88, Vers 21-22]. und „Und wir haben dich nicht zum Hüter über sie gemacht“ (Sure 6, Vers 107) “ Gott, „der am Tag des Gerichts regiert“ (Sure 1, Vers 4), gab allein sich selbst das Recht, solch ein Urteil zu treffen, wie es in der Fatiha Eröffnungssure des Korans heißt.


So lasset uns laut rufen: Hebt das gegen den Dichter Ashraf Fayyad verhängte Todesurteil auf! Lasst ihn frei!


Freiheit den Gefangenen in israelischen Gefängnissen!


Freiheit für die politischen Gefangenen in den arabischen Gefängnissen!


Freiheit für das palästinensische Volk!


O Ihr freien Menschen dieser Welt, vereint euch!

27. November 2015
Aisha Odeh


Übersetzt von Abier Bushnaq

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