Laudatio gehalten von Prof. Dieter Senghaas

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Laudatio Anlässlich der Verleihung des Ibn Rushd Preises an Samir Amin 2009

Prof. Dr. Dieter Senghaas

Zeitdiagnostik, von kreativer Utopie inspiriert


Laudatio auf Samir Amin aus Anlass der Verleihung des Ibn Rushd-Preises für Freies Denken am 4. Dezember 2009 in Berlin

Samir Amin ist ein überragender Intellektueller mit einem wirklich weltweiten Horizont und von großer Produktivität. Sein Werk ist das Gegenteil jener Schmalspurigkeit, die viele Entwicklungstheoretiker und –planer kennzeichnet. Deren szientivistische Verengungen, ihr Modellplatonismus, ist Amin fremd. Seine Fähigkeit, erfahrungswissenschaftliche Forschungen im besten Sinne des Begriffes, also auch unter historischer und komparativer Perspektive, zu betreiben, ist ohnehin eine Seltenheit. Dass er seine Analysen immer im Hinblick auf soziostrukturelle Gegebenheiten, politische Machtlagen sowie Programmatiken, Ideologien und Mentalitäten betreibt, macht ihn zu einer nicht versiegenden Inspirationsquelle eines jeglicher Orthodoxie und Dogmatik abholden historischen Materialismus. Amins ständiger Impetus besteht darin, neue Entwicklungstrends zu registrieren, eigene Positionen neu zu überdenken, Debatten anzustoßen und in laufende einzugreifen. Die Quelle für diesen intellektuellen und politischen Impetus ist eine anhaltende Neugier, auch eine politische Streitlust. Und die Neugier und die Streitlust reichen weit: von den analytischen Beiträgen über weltgeschichtliche Entwicklungen vor der Existenz des Kapitalismus bis hin zu Reflexionen über aktuelle Entwicklungsprojekte im kleinsten Umkreis. Seine Beiträge entfalten eine empirisch fundierte, grundlegende Kapitalismuskritik, aber auch programmatische Ausblicke auf eine wünschbare Zukunft. Wie Samir Amin einmal formulierte: Er sei niemals „tiers mondiste“ gewesen, sondern immer „mondiste“. Dies, und nicht nur dies, unterscheidet ihn von vielen, die im Who is Who der Gesellschafts- und Entwicklungstheorie und neuerdings der Welt-Analyse prominent figurieren. Und überdies dokumentiert sein Lebenswerk ein freies Denken, das sich niemals gängeln ließ.

Samir Amin gehört zu den bedeutendsten und einflussreichsten Intellektuellen der Dritten Welt. Im Unterschied zu vielen Entwicklungsforschern, die aus den Industrie- und den Entwicklungsländern hervorgegangen sind, folgte er in seinem nunmehr fast sechs Jahrzehnte umspannenden umfangreichen Werk immer einer weltweit orientierten Perspektive. Akkumulation auf Weltebene: dieses Paradigma – Diagnosen, die die Geschichte, Struktur und Entwicklungsdynamik der Welt insgesamt und nicht einzelner Kontinente, Gesellschaften oder Regionen zum Ausgangspunkt und Ziel haben – wurde zum analytischen und politischen Widerpart fast aller gängigen analytischen und politischen Entwicklungsorientierungen, vor allem jener neoklassischer und sowjetmarxistischer Provenienz.

I


Samir Amin wurde am 3. September 1931 als Sohn eines Ägypters und einer Französin (beide waren Mediziner) in Kairo geboren. Seine Kindheit und Jugend verbrachte er in Port Saïd; dort besuchte er das französische Gymnasium, das er 1947 mit dem „baccalauréat“ beendete. Von 1947 bis 1957 studierte er in Paris, wobei der Promotion in Ökonomie (1957) ein Diplom in Politikwissenschaft (1952) und in Statistik (1956) vorausging. In seiner frühen Autobiographie Itinéraire intellectuel (1993) schreibt Amin, dass es ihm in dieser Zeit darauf ankam, nur ein Minimum an Arbeit in die Vorbereitung von Universitätsexamen zu investieren, um die wesentliche Zeit der „action militante“ widmen zu können. Die schon während der Gymnasialzeit vorhandene Politisierung setzte sich offensichtlich in Paris unmittelbar fort, was nicht verwundert, da Paris damals eine Metropole war, die ein unvergleichlich lebendiges intellektuelles Leben aufwies: Die Stadt war der geistige Umschlagplatz für Intellektuelle und Studenten aus aller Welt, nicht nur aus den frankophonen Teilen Afrikas.

Amin schloss sich unmittelbar nach seiner Ankunft in Paris der KPF an, geriet darüber unausweichlich in die intellektuellen und politischen Auseinandersetzungen der Linken und ihrer diversen Fraktionen, wie sie die intellektuelle Szene der französischen Metropole weitere Jahrzehnte kennzeichnen sollten. Seine spätere Distanz zum Sowjetmarxismus und dessen Entwicklungsparadigma finden ihre biographischen Hintergründe in jenen frühen Jahren, in denen Amin mit anderen Studenten aus der Dritten Welt eine Zeitschrift Étudiants Anticolonialistes herausgab. Sie war vom ZK der KPF nicht immer gut gelitten. Manche der Mitstreiter Amins besetzten später führende Positionen in den Administrationen der inzwischen unabhängig gewordenen Staaten der Dritten Welt, vor allem Afrikas.

1957 legt Amin seine Dissertation vor (einer der Betreuer war François Perroux). Als Titel schlug er vor Aux origines du sous-développement, l’accumulation capitaliste à l‘échelle mondiale. Selbst im Paris der damaligen Jahre war dieser Titel zu brisant, und seine Betreuer überzeugten ihn, den eher esoterischen Titel zu wählen Les effets structurels de l‘intégration internationale des économies précapitalistes. Une étude théorique du mécanisme qui a engendré les économies dites sous-développées. Amin ging in dieser Dissertation korrekterweise davon aus, dass die These, Unterentwicklung sei ein Produkt des Kapitalismus, in der von ihm verfochtenen Zuspitzung zuvor noch nicht vergleichbar formuliert worden war. Die zentrale Idee war, dass die „unterentwickelte Ökonomie“ nicht als eine eigenständige (selbstreferentielle) Größe begriffen werden könne, sondern nur als ein Baustein der kapitalistischen Weltökonomie, und dass die Gesellschaften der Peripherie einer ständigen strukturellen Anpassung („adjustement“) an die Reproduktionsdynamik der Zentren des Weltkapitalismus, also der fortgeschrittenen kapitalistischen Industrieländer, unterworfen seien – so 1957 argumentiert!

Man muss sich in diesem Zusammenhang an die 1950er Jahre zurückerinnern. Amins These war im Umkreis von entwicklungstheoretischen und entwicklungspolitischen Debatten, die ihrerseits erst in einer anfänglichen Aufschwungphase waren, in der Tat neu: In Lateinamerika bildete sich zu jener Zeit der sogenannte „desarrollismo“ (CEPAL, Prebisch u.a.), der erst im Jahrzehnt darauf in der Dependenz-Diskussion seinen Widerpart fand, heraus. Die Weltsystem-Analyse à la Wallerstein war zeitlich noch später gelagert. Aber auch die gängigen konventionellen Entwicklungstheorien, deren Vertreter ( W.A. Lewis, A. Hirschman, G. Myrdal, W.W. Rostow, P. Rosenstein-Rodan u.a.) die Weltbank 1984 in einem Band Pioneers in Development vorstellen sollte, waren noch nicht wirklich prominent; auch das war erst in den 1960er Jahren zu beobachten, so wie auch erst seit den späten 1960er Jahren entwicklungspolitische Diskussionen maßgebliche Impulse von internationalen Organisationen wie der UNCTAD, der Weltbank und noch später der ILO erfuhren. Das Erstaunliche also ist, dass Amin 1957 die Kritik an Positionen vorweggenommen hatte, die erst in den zehn bis zwanzig Jahren danach von seinen späteren intellektuellen Widerparts in aller Differenziertheit vorgetragen wurden. Seine Kritik traf auch den Sowjetmarxismus und dessen Entwicklungsprogramm des „Einholens und Überholens“ („rattrapage“). Diese hier geschilderten Sachverhalte wurden oft übersehen, weil Amins Dissertation von 1957 in erweiterter Buchform erst 1970 unter dem Titel L’accumulation à l’échelle mondiale erschien.

Nach Abschluss seiner Dissertation ging Amin nach Kairo zurück, wo er von 1957 bis 1960 Chef du Service des Études de l’Organisme de Développement Économique war. Er kam also, gewissermaßen, in die Höhle des Löwen: Denn in dieser Planbehörde wurde die weitere Entwicklung Ägyptens auf eine Art geplant, die Amins Erkenntnissen widersprach. Auch um persönlichen Gefährdungen und Schwierigkeiten zu entgehen, verließ Amin Kairo, um Berater im Planungsministerium in Bamako (Mali) zu werden (1960 bis 1963). Es war die Zeit, in der viele afrikanische Länder unabhängig wurden und auf diesem Kontinent eine politische Radikalisierung („afrikanischer Sozialismus“) zu beobachten war. 1963 wird Amin eine Mitarbeit im Institut Africain de Développement Économique et de Planification (IDEP) angeboten. Bis 1970 arbeitet er an diesem in Dakar (Senegal) von der UNO eingerichteten Institut, zwischenzeitlich auch als Professor an der Universität von Poitiers, später gleichzeitig an den Universitäten von Dakar und Paris (Paris VIII-Vincennes). 1970 übernimmt Amin dann die Leitung des IDEP, dem er bis 1980 vorsteht. In diese Zeit fallen auch einige große Konferenzen, die der Vernetzung der mit Entwicklungsfragen beschäftigten Intellektuellen aus der Dritten Welt dienten: so 1972 die erste Konferenz zwischen Theoretikern des peripheren Kapitalismus à la Amin und den prominentesten Dependenztheoretikern Lateinamerikas (Cardoso, Quijano u.a.). Ich selbst hatte seinerzeit die Ehre und das intellektuelle Vergnügen, einer von drei Wissenschaftlern aus den Industrieländern zu sein, die damals, durchaus mit Vorbehalten, zur 1972er Konferenz zugelassen wurden (Diese Konferenz gab den wesentlichen Anstoß für das von mir herausgegebene Buch Peripherer Kapitalismus. Analysen über Abhängigkeit und Unterentwicklung, 1974). Im Rückblick auf seine IDEP-Zeit betont Amin, dass es darum ging, über dieses Institut ungefähr 1000 junge afrikanische Intellektuelle auszubilden, die die Fähigkeit erlangen sollten, mit kritischem Geist Entwicklungsprogramme und Entwicklungspolitik zu beurteilen.

1980 verließ Amin das IDEP und wurde der Direktor des Forum du Tiers Monde, das seinen Sitz ebenfalls in Dakar hat. Das Forum ist eine Nichtregierungsorganisation, deren Aufgabe es ist, durch weltweit ausgerichtete gemeinsame Projekte, Konferenzen, Plattformen etc. die interkontinentale Entwicklungsdiskussion aus der Perspektive Lateinamerikas, Afrikas und Asiens zu vernetzen und voranzubringen. 1996 übernahm Amin zusätzlich die Präsidentschaft des Forum Mondial des Alternatives, das sich unter anderem als Widerpart des Weltwirtschaftsforums von Davos versteht und 1997 ein entsprechendes Manifest (Il est temps de renverser le cours de l’histoire) vorlegte.

II


Samir Amin hat ca. 50 Bücher publiziert; die meisten von ihnen wurden in viele Sprachen übersetzt. Sein bedeutendstes frühes Werk ist ohne Zweifel das schon zitierte Buch L’accumulation à l’échelle mondiale (1970). Ein weiterer Markstein ist das seinerzeit auch auf deutsch erschienene Buch Le développement inégal (1973). Zwischen den beiden zitierten Büchern liegt eine Reihe von Publikationen, in denen sich Amin im Lichte seiner Theorie mit konkreten Länderstudien auseinandersetzte (Ägypten, Mali, Guinea, Ghana, Maghreb-Staaten, Elfenbeinküste, Senegal, Westafrika insgesamt, arabischer Raum). Classe et Nation dans l’histoire et la crise contemporaine (1979) ist eine weitere wichtige Veröffentlichung, weil in ihr eine über die engere entwicklungstheoretische Diskussion hinausgehende welthistorische und entwicklungsgeschichtliche Perspektive eröffnet wurde. Amins Auseinandersetzung mit der Option sozialistischer Entwicklung findet sich insbesondere in L’avenir du maoïsme (1981). Als Zwischensumme seines Denkens kann das Buch über die Abkopplungsproblematik La déconnexion (1985) begriffen werden. Nach 1989/90 legte Amin mehrere Bücher über Globalisierung und der in ihr enthaltenen Krisenproblematik vor (z.B. L’Empire du chaos, 1991, ebenfalls auf deutsch greifbar). Eine Auseinandersetzung mit dem Zeitgeist, insbesondere einem dogmatisch vertretenen Postmodernismus, wird in Critique de l’air du temps (1997) vorgetragen. Amins Buch L’hégémonisme des États-Unis et l’effacement du projet européen (2000) ist ein fulminantes Plädoyer, das „europäische Projekt“ als Gegengewicht zum unbestreitbaren Hegemonismus der USA voranzubringen und sich, anders als im Golf- und Kosovo-Krieg, nicht weiterhin dem „Diktat Washingtons“ zu unterwerfen. Später hat Amin immer wieder bedauert, dass dieses wünschbare europäische Projekt halblebig blieb und keine eigenen weltpolitisch relevanten Akzente zu setzen imstande war. Angesichts der Unterwürfigkeit gegenüber dem hegemonialen Washington ist es gescheitert – so Amins Diagnose.

Spätere Werke vertiefen die Kapitalismuskritik und die Kritik der Machtstrukturen der Welt (Au-delà du capitalisme sénile, 2002); sie greifen aber auch in die Debatte über postmodernistische und kulturalistische Bewegungen und Modeerscheinungen ein (Modernité, religion et démocratie, 2008).

In allen Werken zeigt sich Amin als scharfsinniger Analytiker, gleichzeitig jedoch immer auch als politischer Schriftsteller.

III


Was ist nun der intellektuelle Beitrag Amins zur Welt- und Entwicklungsanalyse: der Beitrag des Wissenschaftlers, Zeitdiagnostikers, des mit spitzer Feder schreibenden, immer auch bewusst politisch argumentierenden Intellektuellen?

Welthistorisch betrachtet ist Entwicklung identisch mit kapitalistischer Entwicklung. Aber anders als Marx und allemal die bürgerliche Ökonomie geht Amin von der Beobachtung aus, dass der real existierende Kapitalismus eine analytisch zureichend nur von der Weltebene her erfassbare Erscheinung ist. Deshalb der programmatische Titel L’accumulation à l’échelle mondiale. Amin unterstellt jedoch nicht, dass die Plünderung der südlichen Kontinente in der Zeit des Frühkolonialismus und des Merkantilismus bei den erfolgreichen Frühindustrialisierern den Durchbruch zum Agrar- und Industriekapitalismus verursacht hat. Und er geht auch nicht davon aus, dass die industrielle Entwicklung in den so genannten Zentren oder Metropolen des Kapitalismus ohne die Peripherien in den südlichen Kontinenten (Kolonien, informal empire usf.) nicht zustande gekommen wäre. In der Frühphase der nur in Europa zum Durchbruch gelangenden agrar- und industriekapitalistischen Entwicklung wurde dieser Prozess durch die Existenz von Peripherien erleichtert, aber nicht funktional verursacht. Denn die Entwicklungsdynamik der Zentren folgte vielmehr aus einer inhärenten Akkumulationsdynamik, deren struktureller und politischer Hintergrund in der Folge von Entfeudalisierung eine durchgängige Agrarrevolution war. Diese setzte sich synchron bzw. zeitverschoben in einer breitenwirksamen Industrialisierung fort, die zur Produktion von einfachen, nicht dauerhaften Gütern für einen Massenmarkt führte, wobei gleichzeitig bzw. wiederum zeitverschoben ein Kapitalgütersektor entstand, dessen Produkte die Produktivität im Agrar- und im Konsumgütersektor, schließlich auch im Kapitalgütersektor selbst, nachdrücklich erhöhten. Für Amin ist dabei wichtig zu beobachten, dass – säkular betrachtet – in den europäischen Zentren kapitalistischer Entwicklung als Folge erfolgreicher politischer Kämpfe die Erhöhung der Reallöhne leidlich der Zunahme der gesamtwirtschaftlichen Produktivität folgte – und sich damit eine Binnenmarktdynamik entfaltete, die ihrerseits in allen Sektoren Produktivitätsschübe auslöste. Arbeitskräfteknappheit hatte in den USA und in den europäischen Siedlerkolonien schon viel früher eine solche Dynamik ausgelöst.

So wie die metropolitane Akkumulationsdynamik nicht ökonomistisch zu erklären ist, sondern nur im Kontext einer Analyse von sozialstrukturellen Entwicklungen und politischen Konfliktlagen (von politischen Kämpfen mit historisch prinzipiell offenen Folgen), so ist auch die periphere Akkumulationsdynamik nicht rein ökonomistisch erfassbar. Für Amin kommt sie dadurch zustande, dass die Peripherien als Außenposten, also Exklaven der kapitalistischen Zentren gezwungen waren, sich in eine ungleiche internationale Arbeitsteilung einzugliedern, wodurch eine Struktur asymmetrischer Interdependenz entstand. Anders als es die Dualismus-Konzepte über Modernisierungstheorien unterstellten, führt eine solche Eingliederung in den Weltmarkt zur Verfestigung des Peripherie-Profils, da als Folge der in Peripherien vorherrschenden Akkumulationsdynamik das Reservoir billiger und billig bleibender Arbeitskraft nicht versiegt – ungeachtet dessen, ob im konkreten Fall eine agrarische oder mineralische Exklavenökonomie vorliegt oder ob erste Stufen der Industrialisierung („Importsubstitutions-Industrialisierung“) zu beobachten sind.

Warum versiegt das Reservoir billiger Arbeitskraft nicht? Warum kommt es nicht zu einer Synchronisation von Produktivitätsentwicklung und Entlohnung in Peripherien? Warum gibt es keine breitenwirksame flächendeckende Kapitalvertiefung? Die Antwort findet sich im Modell peripherer Akkumulationsdynamik, das Amin als Ergebnis vieler Länderstudien immer weiter ausdifferenzierte. Wie im Falle vergleichbarer großer „Entdeckungen“ lässt sich der Sachverhalt jedoch relativ einfach beschreiben: Die periphere Akkumulationsdynamik ist systematisch verzerrt. Sie hat zum Hintergrund eine ausbleibende breitenwirksame Agrarrevolution. Sie gewinnt ihre Dynamik durch eine exklavenhaft strukturierte Exportwirtschaft. Deren Pendant ist ein Importsektor für „Luxuskonsumgüter“, definiert als Nachfrage aus dem konsumierten Teil des Profits. Was dieser Akkumulationsdynamik fehlt, ist die für eine „autozentrierte Entwicklung“ unerlässliche Rückkopplung eines Konsumgütersektors für Massenkonsumgüter und eines Sektors für Ausrüstungsgüter (also einen letztlich vor Ort selbst produzierten Maschinenpark) vor dem Hintergrund einer wachsenden breitenwirksamen Agrarproduktivität.

Aus der Darstellung wird klar, dass für Samir Amin die Agrarfrage von zentraler entwicklungsstrategischer Bedeutung war und ist. Deshalb widmete er diesem Problem sehr viele seiner empirischen Untersuchungen. Wobei, von der Sache her unausweichlich, die Agrarfrage nicht nur als Bodenverteilungsfrage, sondern als das Problem begriffen wurde, wie auch in diesem Sektor Rechtssicherheit zustande kommt und in welchem Ausmaße ein entsprechender industrieller Sektor willens und imstande ist, Ausrüstungsgüter bereitzustellen, die eine breitenwirksame Dynamisierung des Agrarsektors überhaupt erst ermöglichen.

Aus Amins Analysen ließ sich prognostizieren, dass der Übergang aus einer peripheren Akkumulationsdynamik in eine breit gefächerte volkswirtschaftliche Entwicklung vom Typ des metropolitanen Kapitalismus unwahrscheinlich bleibt, wenn nicht gar unmöglich ist („développement bloqué“). Deshalb sein Plädoyer für „déconnexion“/„delinking“, also Abkopplung. Abkopplung wird darin definiert als die Ausrichtung („soumission“) der externen Beziehungen eines Landes unter die Logik breit gefächerter interner Entwicklung – das ist das schiere Gegenteil der üblichen Ausrichtung der Peripherien auf die Bedürfnisse des metropolitanen Kapitalismus mit der daraus unausweichlich folgenden Polarisation des real existierenden Kapitalismus auf Weltebene: seinen Ausprägungen qua metropolitanem und als von diesem abhängigen peripherem Kapitalismus. Eine so definierte Strategie „autozentrierter Entwicklung“ mit dem Hilfsmittel der Abkopplung ist nicht vorstellbar ohne eine aktive Intervention des Staates. Zusammen mit interessierten gesellschaftlichen Kräften besteht dessen Aufgabe darin, jene Mischstrategie zu finden, deren Ziel es sein muss, selektiv die Chancen des Weltmarktes – sofern mit dem eigenen Projekt kompatibel – zur Dynamisierung einer breit gefächerten internen Entwicklung zu nutzen. 1988 hatte Samir Amin in einer längeren Auseinandersetzung mit meinem Buch Von Europa lernen (1982) die darin analog entwickelte These kommentiert.

Für Amin war klar, dass eine solche Entwicklungsoption (Abkopplung, nicht Autarkie!) entsprechender politischer Voraussetzungen bedarf. Seine Länderstudien, zunächst auf Nord- und Schwarzafrika begrenzt, lehrten ihn, dass eine entsprechende Elite, vor allem eine auf ein nationales Projekt ausgerichtete nationale Bourgeoisie, nicht existierte und auch nicht im Entstehen war. Er beobachtete vielmehr allenthalben die Herausbildung einer Kompradorenbourgeoisie (was mehr oder weniger dasselbe meint, was André Gunder Frank später als „Lumpenbourgeoisie“ bezeichnete). Diese Kompradorenbourgeoisie, das zeigte das empirische Material, konnte sich ihre Zukunft nur über die Integration ihrer jeweiligen Länder in einen asymmetrisch strukturierten kapitalistischen Weltmarkt vorstellen, denn sie selbst war ja der eigentliche Nutznießer solcher Integration. Abkopplung konnte also nur das Instrument im Dienste einer anders ausgerichteten Entwicklung sein – einer Entwicklung jenseits des Kapitalismus (einschließlich seiner staatssozialistischen Variante). Diese Überlegung war für Amin auch Anlass, sich eingehend mit dem chinesischen Entwicklungsweg zu beschäftigen.

IV


Dieses Entwicklungsparadigma, das von Amin einer ständigen Ausdifferenzierung und auch Korrektur im Detail unterzogen wurde, widersprach von Anfang an jeglichem Modell linear-evolutionistischer Entwicklung. Seine Vorstellungen richteten sich demzufolge gegen den „developmentalism“ der bürgerlichen bzw. neoklassischen Variante der Entwicklungstheorie. Insonderheit widersprach Amin auch explizit dem aus der CEPAL-Schule entstandenen „desarrollismo“-Konzept. Er hielt dieses für analytisch leidlich tragfähig (wenngleich nicht voll überzeugend), aber für politisch illusionär. Amin widersprach mit seinem Paradigma auch der sowjetmarxistischen Entwicklungsideologie, die in der Phase des Entkolonisierungskampfes und auch in den postkolonialen Aufbaujahren vielfach bei den neuen Eliten der Dritten Welt auf viel Sympathie stieß. Und es war nur konsequent, dass Amin später, also in den 1970er und 1980er Jahren, einigen der prominenten entwicklungspolitischen und entwicklungsplanerischen Hilfskrücken mit größter Skepsis, oft mit fundamentaler Kritik begegnete: so der Programmatik über eine Neue Internationale Wirtschaftsordnung (und ihren operativen Konzepten), der Grundbedürfnis-Strategie, der ILO-Programmatik im Hinblick auf den informellen Sektor usf.

Seiner Überlegung folgend konnte das Ziel nicht ein „Einholen und Überholen“ sein, sondern eine andere Entwicklung („faire autre chose“!). Eine anders ausgerichtete Entwicklungsstrategie der in der peripheren Akkumulationsdynamik systematisch benachteiligten bzw. marginalisierten Bevölkerungsgruppen setzte jedoch deren Politisierung und eine Demokratisierung voraus. Nach der „libération des peuples“ in der Folge eines erfolgreichen Entkolonisierungskampfes ging es Amin zufolge nunmehr um sozialrevolutionäre Bewegungen, eine „révolution des masses“: Denn ökonomische Entwicklung war und ist für Amin immer politische Ökonomie, überdies ein kulturrevolutionärer Vorgang, denn „faire autre chose“ ist nicht denkbar ohne ein entsprechendes Bewusstsein.

V


Im zeitlichen Umkreis seiner Dissertation beobachtete Samir Amin drei gesellschaftliche Projekte: den Fordismus mit der Folge (zumindest in Europa) des sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaates, den „Sowjetismus“ als Gegenprojekt kapitalistischer Entwicklung und den „desarrollismo“ bzw. „developmentalism“ als das Projekt nachholender Entwicklung. Schon vor 1989/90, aber insbesondere in den 1990er Jahren des vergangenen Jahrhunderts und auch später diagnostizierte Amin in diversen Schriften das Scheitern dieser drei Projekte: Der sozialdemokratische Wohlfahrtsstaat und die ihn kennzeichnenden Regulationsmechanismen erodieren, weil mit der Globalisierung des Kapitals die politischen Steuerungsmöglichkeiten im einzelstaatlichen Rahmen untergraben werden und entsprechende Steuerungsmechanismen auf regionaler oder gar Weltebene, wie sie in internationalen Organisationen ausgebildet sein müssten, nicht oder noch nicht existieren. Das sowjetische Modell scheiterte an seinen inneren Widersprüchen, insbesondere, weil der Übergang von extensiver in intensive Ökonomie misslang, neben anderen Faktoren eine Folge nicht gewagter bzw. abgeblockter politischer Reformen. Damit wurden alle Hoffnungen auf dieses Gegenmodell, die in der Dritten Welt über Jahrzehnte hinweg weit verbreitet waren und die Amin nicht teilte, begraben. Und schließlich scheiterte „Bandung“, begriffen als ein Etikett für nachholende Entwicklung. Entstanden ist eine Differenzierung innerhalb der Dritten Welt in wenige Zentren, die Amin als die neuen semi-industrialisierten Außenposten der eigentlichen Industrieländer begreift, und in einen Bereich der Marginalität, der „quart mondialisation“, also der „Verviertweltlichung“ der Welt, der nunmehr nicht nur große Teile der südlichen Kontinente, sondern auch Teile der ehedem sozialistischen Länder umfasst.

Es ist nicht überraschend, dass angesichts dieser Beobachtungen Samir Amin das diagnostiziert, was einige Buchtitel der 1990er Jahre zugespitzt signalisieren: Le grand tumulte (1991); L’Empire du chaos (1991). Eine Welt ohne leidlich verlässliche Regulationsmechanismen auf nationaler und internationaler Ebene, ohne inspirierendes Gegenmodell und ohne erkennbare Aussichten auf Entwicklungserfolge – eine Welt, in der jedoch auch eine zunehmende Polarisierung auf Weltebene und in Einzelgesellschaften nicht mehr so ohne weiteres toleriert wird und die sich mehr und mehr politisiert: eine solche Welt lässt das Schlimmste befürchten, von hier nicht genannten Weltproblemen (Ökologie usf.) ganz zu schweigen.

Für Samir Amin hat sich die weltweite Krise des Kapitalismus in den vergangenen 25 Jahren anhaltend zugespitzt – und dies ungeachtet zwischenzeitlicher konjunktureller Wachstumsschübe, die – rückblickend betrachtet – im Endeffekt die grundlegenden Widersprüche des Systems: den Trend zur Polarisierung, zur Ungleichheit und zur Ausgrenzung eher noch akzentuiert und keineswegs abgeschwächt haben. In dieser Zeit breitete sich der „liberale Virus“ aus, d.h., die Manie, alles und jedes zu deregulieren (Le virus libéral. La guerre permanente et l’américanisation du monde, 2003). Die aus einer Kombination von wachsender Ungleichheit der Einkommen, Deregulierung der Finanzmärkte, unseriöses Geschäftsgebaren und anderen Faktoren sich aufbauende Finanzmarktkrise hat Amin sehr frühzeitig prognostiziert, so beispielsweise 2001: „Aber die ‚Finanzblase’ kann nicht unbegrenzt anschwellen; eines Tages muß sie platzen. Sie gibt bereits Anlass zu Beunruhigung. Deshalb schlagen manche Reformisten vor, die Gefahr durch Beseitigung der Anreize zu spekulativen kurzfristigen Platzierungen zu mindern, so etwa durch die famose Tobin-Steuer.“ Gerade die Entwicklung des Finanzmarktes – seine Entgrenzung und eigendynamische (selbstreferentielle) Aufblähung bar aller Selbstkorrektur – ist ein prototypisches Beispiel für das, was Amin als „Fetischisierung des Marktes“ bezeichnet hat.

Diese und andere katastrophenträchtige Entwicklungen vor allem in den vergangenen zwei Jahrzehnten sind auch das Ergebnis eines politischen Herdentriebes im Verhalten gerade auch der führenden kapitalistischen Industriegesellschaften: Alle folgten der insbesondere in der angelsächsischen Welt aufblühenden Orthodoxie: TINA („There is no alternative.“), was Amin veranlasst, weiterhin eine Hegemonie der USA zu diagnostizieren, allerdings nunmehr kombiniert mit der Entwicklung eines „kollektiven Imperialismus“ insbesondere zwischen den Gesellschaften der so genannten Triade (USA bzw. Nordamerika, EU-Europa, Japan). Dieser Klub versucht überdies, die für die weitere Entwicklung der Welt relevanten Handlungsfelder zu monopolisieren: Technologie, Finanzflüsse, Zugang zu den Naturschätzen des Erdballs, Kommunikation und Medien sowie Massenvernichtungswaffen. An diesen Klub des kollektiven Imperialismus abhängig angegliedert würden dann die so genannten Semi-Peripherien. Der Übergang von G-8 zu G-20, wie er auf weltpolitischer Ebene allerjüngst zumindest deklaratorisch vollzogen wurde, wäre dann möglicherweise genau ein solcher Schritt in Richtung abhängiger Kooptation. Der Rest der Welt wäre weiterhin eben „der Rest“. In ihn würde weiterhin, wo es die Interessen gebieten, militärisch interveniert, wobei angesichts der chaotischen Situation in vielen Ländern der Welt die Aussicht auf eine erfolgreiche und kostengünstige Intervention gering ist.

Gibt es Auswege aus dieser katastrophenträchtigen Lage? Samir Amin war niemals nur ein scharfsinniger Zeitdiagnostiker, sondern immer auch ein politischer Aktionist mit klaren programmatischen Vorstellungen. Einige von diesen seien hier stichwortartig genannt:

1. Es bedarf eines „Neustarts der Entwicklung“, d.h. eines kritischen alternativen Entwicklungskonzeptes, das nicht auf „nachholende Entwicklung“, sondern auf eine andere, nichtkapitalistische Entwicklung ausgerichtet ist. Das wäre nach Amin eine „sozialistische Entwicklung“, allerdings nicht im Sinne einzelner sozialistischer Entwicklungsprojekte à la Sowjetmarxismus. Dieser Neustart muss aus sozialen Bewegungen resultieren. Und es ist diese Prämisse, die die weltweiten und unermüdlichen Aktivitäten von Samir Amin in diversen Nichtregierungsorganisationen motiviert. Denn von den Eliten ist in aller Regel ein Neustart nicht zu erwarten.

2. Weiterhin und sachlogisch konsequent vertritt Samir Amin die These: Ohne Abkopplung (was, es sei wiederholt, nicht identisch ist mit Autarkie) wird es keinen Neustart von Entwicklung geben. Abkopplung meint: „die Unterordnung der Außenbeziehungen unter die Erfordernisse des inneren Aufbaus, nicht andersherum (einseitige Anpassung an die auf globaler Ebene wirkenden Tendenzen)“.

3. Nachdrücklich plädiert Samir Amin für eine Regionalisierung der Welt (Pour un monde multipolaire, 2005). Hier handelt es sich um ein Plädoyer für eine regional umgrenzte „collective self-reliance“ als der Grundlage für die Restrukturierung weltweiter Beziehungen und den zu vereinbarenden Regulierungserfordernissen auf Weltebene.

Sind diese einzelnen Programmpunkte, hier kurz umrissen, und insbesondere ihre Summe nicht ein Ausdruck purer Utopie – so ist zu fragen. Amins Antwort auf diese Frage lautet: ja, aber diese programmatischen Vorschläge folgen einer Logik der „kreativen Utopie“. „Die Geschichte wird nicht von der unfehlbaren Entfaltung der ‚Gesetze der reinen Ökonomie’ regiert. Erzeugt wird sie von den sozialen Reaktionen auf die Tendenzen, die sich in diesen Gesetzen äußern und die ihrerseits die sozialen Verhältnisse bestimmen, in deren Rahmen diese Gesetze fungieren. Die ‚antisystemischen’ Kräfte… wirken ebenso gestaltend auf die wirkliche Geschichte ein wie die ‚reine’ Logik der kapitalistischen Akkumulation.“

Samir Amin bewegte sich sein Leben lang in solchem Spannungsfeld konträrer Logiken.


 
Schriften von Samir Amin

Sämtliche Bücher von S. Amin sind im französischen Original in Paris erschienen. Die Hauptwerke wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt.


–    Les effets structurels de l‘intégration internationale des économies précapitalistes. Une étude théorique du mécanisme qui a engendré les éonomies dites sous développées (1957) (thèse)
–    L’Egypte nassérienne (1964)
–    Trois expériences africaines de développement: le Mali, la Guinée et le Ghana (1965)
–    L’économie du Maghreb, 2 Bde. (1966)
–    Le développement du capitalisme en Côte d’Ivoire (1967)
–    Le monde des affaires sénégalais (1969)
–    Le Maghreb moderne (1970)
–    L’accumulation à l’échelle mondiale (1970), (erweiterte Aufl. 1988)
–    Histoire économique du Congo 1880-1968, zus. mit C. Coquery Vidrovitch (1970)
–    L’Afrique de l’Ouest bloquée (1971)
–    Le développement inégal (1973); dt. Die ungleiche Entwicklung, Hamburg 1975
–    L’échange inégal et la loi de la valeur (1973)
–    La question paysanne et le capitalisme, zus. mit K. Vergopoulos (1974)
–    La crise de l‘impérialisme, zus. mit A. Faire, M. Hussein und G. Massiah (1975)
–    L’impérialisme et le développement inégal (1976)
–    La nation arabe (1976)
–    La loi de la valeur et le matérialisme historique (1977)
–    Classe et nation dans l’histoire et la crise contemporaine (1979)
–    L’économie arabe contemporaine (1980)
–    L’avenir du Maoïsme (1981)
–    La crise, quelle crise?, zus. mit G. Arrighi, A.G. Frank und I. Wallerstein (1982); dt. Dynamik der globalen Krise, Opladen 1982
–    Irak et Syrie 1960-1980 (1982)
–    La déconnexion (1985)
–    L’eurocentrisme (1988)
–    La Méditerranée dans le système mondial, zus. mit F. Yachir (1988)
–    Impérialisme et sous-développement en Afrique (1988, erweiterte Aufl. von 1976)
–    La faillite du développement en Afrique et dans le tiers monde (1989)
–    Le grand tumulte, zus. mit G. Arrighi, A. Frank et I. Wallerstein (1991)
–    L’Empire du chaos (1991); dt. Das Reich des Chaos, Hamburg 1992
–    Les enjeux stratégiques en Méditerranée (1991)
–    Itinéraire intellectuel (1993)
–    L’Ethnie à l’assaut des nations (1994)
–    La gestion capitaliste de la crise (1995)
–    Les défis de la mondialisation (1996); dt. Auswahl Die Zukunft des Weltsystems, Hamburg 1997
–    Critique de l’air du temps (1997)
–    L’Hégémonisme des États-Unis et l’effacement du projet européen (2000)
–    Au-delà du capitalisme sénile. Pour un XXIe siècle non-américain, Paris 2002
–    Le monde arabe. Enjeux sociaux, perspectives méditerranéennes, zus. mit Ali El Kenz, Paris 2003
–    Le virus libéral. La guerre permanente et l’américanisation du monde, Paris 2003
–    Pour un monde multipolaire, Paris 2005
–    Du capitalisme à la civilisation, Paris 2008
–    Modernité, religion et démocratie. Critique de l’eurocentrisme, critique des culturalismes, Paris 2008
–    La crise. Sortir de la crise du capitalisme ou sortir du capitalisme en crise, Pantin 2009

Biografie Prof. Dr. Dieter Senghaas

Prof. Dr. Dieter Senghaas

Prof. Dr. Dr. h. c. Dieter Senghaas wurde 1940 in Geislingen/Steige geboren. Er studierte Politikwissenschaft, Soziologie, Geschichte und Philosophie an den Universitäten Tübingen, Amherst (Mass.), Frankfurt, Ann Arbor (Mich.). 1967 Promotion („Kritik der Abschreckung. Ein Beitrag zu einer Theorie der internationalen Politik“). Nach einem Forschungsaufenthalt am Center for International Affairs an der Harvard University, Cambridge (Mass.) von 1968 – 1970 wurde er Forschungsgruppenleiter in der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK) (1970 – 1978). Von 1972 – 1978 war er Professor für Internationale Beziehungen an der Universität Frankfurt/M und von 1978 bis 2005 Professor für Internationale Politik und internationale Gesellschaft, insbesondere Friedens-, Konflikt- und Entwicklungsforschung am Institut für Interkulturelle und Internationale Studien (InIIS) an der Universität Bremen; seit 2005 Senior Fellow am InIIS.

Prof. Senghaas war Forschungsprofessor in der Stiftung Wissenschaft und Politik, Ebenhausen bei München von 1986 – 1987 und 1992 – 1994.

Er ist in mehreren Funktionen als Friedensforscher aktiv, zuletzt von 1979 – 1985 als Mitglied des Exekutivkomitees der International Political Science Association (IPSA); von 1985 – 1990 als Mitglied der „Issue Group on Peace“ des International Social Science Council (ISSC), Paris; von 1990 – 1996 als Mitglied der Senatskommission für Friedens- und Konfliktforschung der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) ; 1991 als Mitglied der Studiengruppe Internationale Sicherheit der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, Bonn; 1995 – 1999 als Mitglied des Fachausschusses Humanitäres Völkerrecht des Deutschen Roten Kreuzes, Bonn und 1995 – 2000 als Mitglied des Beirats der Bundesakademie für Sicherheitspolitik, Bonn. Er ist ferner Mitglied in verschiedenen wissenschaftlichen Vereinigungen und im wissenschaftlichen Beirat diverser Vorstände. Seit 1973 ist er Mitherausgeber von Leviathan. Zeitschrift für Sozialwissenschaft.

1987 wurde er mit dem International Peace Research Award und 1999 mit dem Göttinger Friedenspreis der Stiftung Dr. Roland Röhl ausgezeichnet

Schwerpunkte: Friedensforschung; Militärstrategie; Rüstungsdynamik; Rüstungskontrolle; Abrüstungsforschung; Dritte Welt; Gewaltproblematik; Analyse von internationalen Konfliktformationen; Zivilisierungsproblematik und Friedenstheorie; europäische und weltpolitische Entwicklungen nach dem Ost-West-Konflikt; Entwicklungsforschung; die Friedensproblematik in klassischer Musik.

Schriften [Erscheinungsort von Übersetzungen]

  • Abschreckung und Frieden (Frankfurt/Main 1969);
  • Aggressivität und kollektive Gewalt (Stuttgart 1971);
  • Rüstung und Militarismus (Frankfurt/Main 1972) [Mexiko-Stadt 1974];
  • Aufrüstung durch Rüstungskontrolle (Stuttgart 1972);
  • Gewalt – Konflikt – Frieden (Hamburg 1974);
  • Weltwirtschaftsordnung und Entwicklungspolitik (Frankfurt/Main 1977) [Jakarta 1988];
  • Von Europa lernen (Frankfurt/Main 1982) [Leamington Spa/Dover 1985; Barcelona/Caracas 1985; Seoul 1990; Damaskus 1996];
  • Die Zukunft Europas (Frankfurt/Main 1986);
  • Europas Entwicklung und die Dritte Welt (Frankfurt/Main 1986);
  • Konfliktformationen im internationalen System (Frankfurt/Main 1988); Europa 2000.
  • Ein Friedensplan (Frankfurt/Main 1990) [Tokyo 1992];
  • Friedensprojekt Europa (Frankfurt/Main 1992) [Venedig 1999];
  • Wohin driftet die Welt? Über die Zukunft friedlicher Koexistenz (Frankfurt/Main 1994);
  • Zivilisierung wider Willen. Der Konflikt der Kulturen mit sich selbst (Frankfurt/Main 1998) [London/New York 2001; Peking 2004; Tokyo 2006; Seoul 2007; Teheran 2009];
  • Klänge des Friedens. Ein Hörbericht (Frankfurt/Main 2001); Zum irdischen Frieden. Erkenntnisse und Vermutungen (Frankfurt/Main 2004) [Oxford/New York 2007].

Hrg. u. a. von

  • Den Frieden denken (Frankfurt/Main 1995);
  • Frieden machen (Frankfurt/Main 1997);
  • Konstruktiver Pazifismus im 21. Jahrhundert (Münster 2006);

Mithrg. u. a. von

  • Vom hörbaren Frieden (Frankfurt/Main 2005);
  • Global Governance für Entwicklung und Frieden (Bonn 2006);
  • Sektorale Weltordnungspolitik (Baden-Baden 2009);
  • Den Frieden komponieren? (2009 i.V.).
  • Frieden hören! Annäherungen an den Frieden über klassische Musik, CD-ROM mit Musikbeispielen, Kommentaren und Hintergrundinformationen (Tübingen 2003: www.friedenspaedagogik.de)
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