Rede des Preisträgers

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Ibn Rushd (Averroes) katapultiert die Medizin zur Ebene der Wissenschaft

Der vernichtende Schlagstock“, der in Europa „alle Ärzte diskreditierte“

Mohammed Abed al-Jabri

1. Grundsätze der Medizin – Colliget (al-Kulliyyat fi t-tibb)

Ein Buch, das es in der Form noch nicht gegeben hat

Ibn Rushd wurde durch seine originellen Kommentare zu Aristoteles’ Werken sowie durch seine theologischen Schriften zum islamischen Recht und zur Glaubenslehre berühmt – genannt seien die Werke Fasl al-maqal fi-ma baina l-hikmati wa-schari’ati min al-ittisal (Endgültiges Traktat über die Harmonie von Religion und Philosophie), al-Kaschf an manahig al-adilla fi aqa’id al-milla (Traktat über die Methoden der Beweisführung von Glaubensdogmen), Tahafut at-tahafut(Inkohärenz der Inkohärenz), Bidayat al-mugtahid wa-nihayat al-muqtasid (Juristisches Handbuch: Die Anfänge des auf Quellenforschung beruhende selbstständigen Urteilfindens). Aber auch sein medizinisches Kompendium al-Kulliyat fi t-tibb (Colliget) war nicht weniger originell und nicht weniger wichtig als andere Werke in der Geschichte der Medizin.

Das Ziel dieses Essays1 ist es, diesem Buch Colliget den Platz im Kontext der Geschichte der arabischen Medizin bzw. Universal-Medizin zu geben, den es verdient. Um das Buch verstehen zu können, darf man es nicht als medizinisches Sachbuch betrachten, aus dem man Fakten und Daten erfährt, denn die Medizin von heute ist eine andere als die von damals. Ibn Rushd wollte die Medizin als Wissenschaft sehen und die Geschichte der Wissenschaft ist – wie Gaston Bachelard (1884-1962) einmal gesagt hat – die Geschichte der „Fehler der Wissenschaft“. Die Bedeutung dieses Buches liegt daher nicht darin, welche medizinischen Meinungen er zu dieser oder jener Krankheit, zu diesen oder jenen Symptomen und Maßnahmen der Prävention hat, sondern liegt unserer Meinung nach darin, dass Ibn Rushd mit seinem Buch einen Wendepunkt in der Geschichte des wissenschaftlichen Denkens in der Medizin setzt. Das Buch gehört mehr dem Bereich des wissenschaftlichen Denkens als der praktischen Medizin an. Ibn Rushd selbst hat dies mehrmals in seinem Buch betont.

Es ist hier erforderlich, zwischen der Geschichte der Wissenschaften, die sich mit den wissenschaftlichen Entdeckungen und ihrer Praktizierung in der Geschichte und in den verschiedenen Kulturen befasst, und der Geschichte der Entwicklung des wissenschaftlichen Denkens zu unterscheiden. Beim Erstgenannten handelt es sich um die „Geschichte der Wissenschaft“, deren Ausübung am gängigsten ist. Diese Geschichtswissenschaft kennt man in unserer arabischen Kultur allein über die Forschungen der Orientalisten, die vor den Arabern wussten, wie sie sich die arabischen medizinischen Handschriften und übersetzten Medizinbücher, von denen es in den alten arabischen Bibliotheken im Überfluss gab, zu Nutze machen konnten. Beim Zweitgenannten handelt es sich um die „Entwicklung des wissenschaftlichen Denkens“. Für diese Geschichtswissenschaft interessiert man sich auch im Westen erst in neuer Zeit. Die arabische Kultur hat sich mit dieser Wissenschaft noch nicht genügend auseinander gesetzt.

Obwohl einige arabisch-medizinische Schriften, die vor und nach Ibn Rushd verfasst wurden, ansatzweise dieser Art der modernen Geschichtswissenschaft Stoff bieten können, ist Ibn Rushds al-Kulliyyat fi t-tibb (Colliget) zwingend als das erste Buch anzusehen, welches das wissenschaftliche Denken in der Medizin als Thema zur Diskussion stellt. Der Philosoph von Cordoba, von dem seine Biographen sagten, „seine Urteile in der Medizin sind genauso ernsthaft und überzeugend wie seine Urteile in der Jurisprudenz“, nimmt hier ganz bewusst und entschieden die Rolle des Mufti [offizieller Ausleger des islamischen Rechts] ein, der bestimmt, was ein Medizinwissenschaftler tun kann, damit die Medizin von einer Ansammlung von Erkenntnissen, die in der Praxis auf der Basis von Erfahrungen ermittelt wurde, zur Ebene der Wissenschaft erhoben wird. Diese Wissenschaft wird im Colliget in Grundsätzen, Prinzipien und Methoden als Fundamente des medizinischen Denkens, die man kennen und unbedingt berücksichtigen muss, zu Grunde gelegt. Deshalb kann man sagen: ein solches Buch ist in dieser Form noch nicht da gewesen. Erst im 19. Jahrhundert erschien ein dem Inhalt nach ähnliches Buch, als die Philosophie der Wissenschaft an Bedeutung gewann. Das Buch in unseren Händen ist demnach mehr ein Buch der Medizinphilosophie oder der Erkenntnistheorie (Epistemologie), wenn man den heutigen Sprachgebrauch nimmt, als ein Buch der praktischen Medizin, obwohl Ibn Rushd in seinem Buch ausreichend und in konzentrierter Form auch die medizinische Praxis seiner Zeit erklärt, nicht als Überlieferer, sondern als eifrig bemühter Arzt mit eigener Meinung.2

2. Die Medizin ist ein praktischer Beruf, der auf reale Grundlagen basiert

Ibn Rushd stellt sein Projekt in der Einleitung seines Buches al-Kulliyyat fi t-tibb (Colliget) wie folgt vor:

Damit wollte ich sagen, dass ich [mit diesem Buch] das medizinische Handwerk einschließlich der Grundsätze des Handwerks zusammenfassen werde. Es soll als Einführung dienen für all jene, die die Medizin mit ihren Teildisziplinen studieren, und als Eintrittskarte für jene, die das Handwerk genau erforschen wollen. Es wird hier alles genau auf seine Richtigkeit untersucht, selbst wenn dies der Meinung anderer Mediziner widersprechen sollte.

Es geht hier um ein genau definiertes, Ziel orientiertes Projekt: um die Grundsätze des medizinischen Handwerks, d. h. die Medizin als Wissenschaft. Dieses Werk von Ibn Rushd ist Teil eines größeren Projekts, in dem er die „eigene Urteilsbildung“ und „kritische Revision“ verfolgt, wie ich beschrieben habe. Dieses Buch umfasst daher beide Aspekte: Auf der einen Seite die Bildung der eigenen Meinung in den angewandten Wissenschaften und Darbietung von gegensätzlichen Meinungen, die der bisherigen üblichen Meinung widersprechen. Auf diesen Aspekt des Buches gehe ich hier nicht ein, er wird ausführlich in meiner Einleitung behandelt, die ich zu der von mir betreuten Edition von Colligetverfasst habe. Auf der anderen Seite beschreibt das Buch die Medizin als Wissenschaft: Im Folgenden werde ich mich vor allem auf diesen Aspekt konzentrieren. Dies steht im unmittelbaren  Zusammenhang mit der „kritischen Revision“, also mit dem Wiederaufbau der medizinischen Erkenntnisse auf eine Art und Weise, die die Medizin zur Wissenschaft macht. Aber wie soll das gehen?

Ibn Rushd definiert die Medizin wie bisher kein Mediziner vor ihm. Zumindest fand ich nichts Ähnliches bzw. keine Quelle, auf die er sich bezogen hätte. Er sagt:

Die Medizin ist ein praktischer Beruf, der auf reale Grundlagen basiert. Man sucht den Mediziner auf, um die Gesundheit des menschlichen Körpers zu erhalten und die Krankheit so effektiv und so schnell wie möglich zu heilen.

In unserem heutigen Sprachgebrauch würde das heißen: Die Medizin ist eine angewandte Wissenschaft, die bestrebt ist, den Körper von dem einen Zustand in den anderen zu führen. Diese Wissenschaft basiert auf bewiesene Grundlagen, das heißt, dass die Veränderungen, die die Medizin verursacht, eine Folge von wissenschaftlichen Maßnahmen sind, die auf praktischen Erfahrungen und Beweisführungen beruhen. Dies hat nichts mit den eingebildeten Veränderungen zu tun, die durch unseriöse Methoden erbracht werden, wie durch die Ausübung von Magie und Wahrsagerei. An einer anderen Stelle bringt Ibn Rushd dies noch einmal zur Sprache:

Der Beruf des Mediziners will – mithilfe der Wissenschaft und der Praxis – die Gesundheit erhalten und von Krankheiten heilen. (…) In meiner Definition heißt es `mit Hilfe der Wissenschaft und Praxis´, denn in diesem Beruf zählt weder die Wissenschaft allein noch die Praxis allein, beide sind gleich wichtig.3

Ibn Rushd erläutert die Bestandteile des „praktischen Berufes“ bzw. der „angewandten Wissenschaft:

Die praktischen Berufe bestehen aus drei Teilen: Der erste Teil ist das sich Vertrautmachen mit dem zu untersuchenden Gegenstand, der zweite Teil ist die Definition des Zieles, der dritte Teil ist die Kenntnis über die Methoden und Instrumente, mit denen man das Ziel erreichen kann. Demnach wird auch der Beruf des Mediziners zunächst einmal in diese drei Teile aufgegliedert.

Bestimmt hat der Leser längst bemerkt, dass wir es hier mit einer neuen Sichtweise der Medizin und ihrer Bestandteile zu tun haben, die uns eine neue Perspektive bietet, die so anders ist als die von al-Majusi [auch als Masoudi oder unter dem Latein-Namen Haly Abbas bekannt] und Ibn Sina [Avicenna, 980-1037]. Demnach ist die Medizin eine angewandte Wissenschaft. Diese angewandte Wissenschaft sollte [durch Wissenschaftler] in ihren einzelnen Schwerpunktthemen so gut beherrscht werden, dass sie auch in der Praxis ausgeübt werden kann. Ein Ziel, das man mit diesem Schwerpunkt erreichen will, sollte es unbedingt auch geben, ebenso Hilfsmittel, mit denen das Ziel erreicht werden soll. Dies sind die Bestandteile, auf die die Medizin basieren sollte, damit sie auch deren Inhalte und nicht nur Symptome darstellt.

3. Klassifizierung der Medizin in Untersuchungsgegenstand, Ziel und Methoden

Demnach wird die Medizin zunächst in diese ersten drei Bestandteile aufgeteilt: Der Untersuchungsgegenstand ist hier der menschliche Körper, das Ziel ist die Erhaltung der Gesundheit und die Behandlung von Krankheiten. Die Hilfsmethoden sind jene Methoden, mit deren Hilfe die Krankheit besiegt wird. Da die Erhaltung der Gesundheit das Wissen über sie und ihre Erscheinungsformen voraussetzt und die Behandlung der Krankheit das Wissen über diese und ihre Symptome voraussetzt, muss diese Einteilung weiter untergliedert werden: Gesundheit, Krankheit, Erscheinungsformen der Gesundheit und Symptome der Krankheit. Weil die Erhaltung der Gesundheit hauptsächlich durch Ernährung erreicht wird und die Behandlung von Krankheiten hauptsächlich durch Arzneimittel, muss man sich mit den Nahrungsmitteln und Medikamenten vertraut machen. Auf diese Weise erfolgt das Studium der Medizin in sieben Schritte: Die Lehre des menschlichen Körpers (Anatomie), die Lehre der gesunden Körperorgane (Physiologie), die Lehre der Erscheinungsmerkmale der Krankheit (Pathologie), die Lehre der Krankheitssymptome (Semiologie), die Ernährungslehre und Lehre der Arzneimittel (Pharmazie), Methoden der Erhaltung der Gesundheit (Prävention) und schließlich die Lehre der Behandlung der Krankheit (Therapie). Demzufolge hat Ibn Rushd sein Buch in sieben Teile oder Kapitel eingeteilt: 1- Kapitel der Anatomie, 2- Kapitel der Gesundheit, 3- Kapitel der Krankheit, 4- Kapitel der Erscheinungsmerkmale (Symptome), 5- Kapitel der Arzneimittel und der Ernährung, 6- Kapitel der Erhaltung der Gesundheit, 7- Kapitel der Behandlung der Krankheiten.

Ibn Rushd diskutiert die Einteilung der Medizin in einen wissenschaftlichen (theoretischen) und einen praktischen Teil, die vor ihm al-Majusi und Ibn Sina verwendet haben. Er sagt:

Dies ist keine wirkliche Einteilung der Medizin, denn Galenos von Pergamon sagt in seiner Definition der Medizin entschieden: Sie ist das Wissen über Gesundheit und Krankheit und alles, was mit diesen beiden Zuständen sowie mit den Fällen zusammenhängt, die weder als gesund noch als krank bezeichnet werden können. Wenn wir davon ausgehen, dass Medizin Wissen bedeutet, müssten die Bestandteile der Medizin rein wissenschaftliche Bestandteile sein und nicht wissenschaftliche und praktische. Manche Berufe werden praktische Berufe genannt, weil sie durch die Praxis gelernt werden wie Schneidern und Schreinern. Andere Berufe werden als wissenschaftlich bezeichnet, da sie durch ein wissenschaftliches Studium, also durch Beweiserbringung und Definitionen erlernt werden. Der Zweck der Wissenschaft ist dabei aber letztendlich die praktische Anwendung, so ist es auch im Falle der Ausübung des medizinischen Berufes. Es ist auch nicht ausgeschlossen, dass es Berufe gibt, die sowohl durch beide Methoden – Wissenschaft und Praxis – erlernt werden. Aber es muss dann klar sein, dass es sich hierbei um ein und denselben Beruf handelt! Man könnte meinen, dass es im Beruf der Medizin auf folgende Weise funktioniert: Der Teil, bei dem mit den Händen gearbeitet wird, wird durch die Praxis und durch Beobachtung erlernt. Was die Einteilung der Medizin in Wissenschaft und Praxis vielleicht rechtfertigen würde, wäre ihre Teilung in zwei Wissenschaften: eine Wissenschaft, bei dem sich der Naturwissenschaftler beteiligt, der sich mit der Gesundheit, ihren Voraussetzungen und Symptomen, sowie mit der Krankheit, den Gründen ihrer Entstehung und ihren Symptomen beschäftigt und eine andere Wissenschaft, die sich mit dem Beruf des Mediziners beschäftigt und unter welchen Voraussetzungen Gesundheit erhalten und Krankheiten bekämpft werden können und mit welchen Mitteln. Der erste Teil der Medizin, der naturwissenschaftlich orientiert ist, wird als „wissenschaftlich“ bezeichnet. Mit wissenschaftlich ist gemeint, dass das angestrebte Ziel die Wissenschaft ist, nicht die praktische Anwendung. Der zweite Teil, der sich um die medizinische Behandlung kümmert, wird praktisch genannt, da er praktisch orientiert ist und sich durch praktische Anwendung auszeichnet. Oft wird er durch die Praxis erlernt. Eine Voraussetzung für die Ausübung des Arzt-Berufes ist, dass er neben dem Studium der Wissenschaft der Medizin seinen Beruf praktisch ausübt. Eine einfache Handarbeit ist eine rein praktische Tätigkeit. Nur ein kleiner Teil davon (Praxis und Erfahrung) wird durch Logik und Beweisführung erlernt. Ähnlich ist es in der Anatomie: nur ein Bruchteil der Anatomie wird durch Logik und Beweisführung erlernt. Der Großteil wird durch Wahrnehmung erlernt. Der erste Gelehrte, der die Naturwissenschaft auf diese Weise einteilte, war Hunayn ibn Ishāq [sein latinisierter Name lautet Johannitius 808-873]. Ibn Radwan [998 –1067], der sich auf die Lehre Galenos’ berief, befand diese Enteilung für falsch. Abul Ala’ Zuhr [d. 1131]unterstützte diese Einteilung und glaubte, sie in einem von Galenos’ Büchern gelesen zu haben. Richtig ist aber, was ich darüber gesagt habe.

Ibn Rushd meint damit, dass die Medizin ein wissenschaftlicher Beruf, also eine angewandte Wissenschaft ist und dass die Einteilung in Wissenschaft und Praxis falsch ist. Ibn Rushd setzt seine Ausführungen fort:

Anstatt die Medizin so einzuteilen wie beschrieben, wäre es besser, man teilt sie in fünf Teilbereiche ein: das Wissen über die Eigenschaften der Gesundheit, das Wissen über die Eigenschaften der Krankheiten, das Wissen über die Symptome von Krankheiten, das Wissen über die Behandlungsmethoden und das Wissen über die Erhaltung der Gesundheit.4

4. Quellen des medizinischen Wissens und ihre Genauigkeit

Danach geht Ibn Rushd über zu den Grundlagen und Prinzipien, auf denen die Medizin als Wissenschaft beruht. Er bemerkt, dass die geisteswissenschaftlichen Berufe, bei denen es in ihren Nachforschungen um wahrnehmbare und experimentelle Dinge geht (anders als die rein theoretischen Berufe, die sich mit abstrakten Dingen beschäftigen, wie die Mathematik und Philosophie), wie alle Berufe, auf allgemeinen Grundlagen und Prinzipien basieren. Diese erhält man entweder nach den Regeln der allgemeinen Vernunft wie das Prinzip der Kausalität, das Prinzip der Identifizierung oder den Ausschluss der Inkonsequenz – Prinzipien, die in sich schlüssig und klar sind –, oder man übernimmt die durch Beweisführung und Praxis erworbenen allgemeinen Grundlagen und Prinzipien von einer anderen Wissenschaftsdisziplin. Die Quellen, aus denen die Medizin ihre Regeln – zusätzlich zu den Regeln der Vernunft – schöpft, sind drei: die Naturwissenschaft, die medizinische Berufspraxis und die Anatomie.

Der Zusammenhang zwischen diesen Quellen und der Wissenschaft der Medizin ist eindeutig. Die Naturwissenschaft untersucht Gegenstände der Natur und die Medizin den menschlichen Körper. Alle Grundsätze, die mit dem natürlichen Bau des Körpers in Zusammenhang stehen, erhält die Medizin aus der Naturwissenschaft wie die Regel der schrittweisen Kausalität mit den vier Kriterien: Materie, Erscheinungsbild, Subjekt und Ziel und anderen Kriterien, die zu dem Begriffsapparat gehören, der bei der Erforschung von biologischen Körpern genutzt wird. Was die medizinische Praxis oder die experimentelle Medizin betrifft, so erhält der medizinische Beruf aus ihr das Wissen über die Wirkung der Arzneimittel. Denn die Wirkung von Arzneimitteln wird hauptsächlich aus der praktischen Erfahrung gewonnen. Was man an Wirkung aus Schlussfolgerungen ermitteln kann, ist nur möglich, wenn man von der praktischen Erfahrung ausgehen kann. In diesem Fall ist es ein Einfaches, eine Schlussfolgerung zu machen. Was die Anatomie, das Sezieren der Organe, betrifft, so „erhält die Medizin von ihr viel Wissen über die Einzelheiten der Organe“. Dieses ist insofern nachvollziehbar, als man sich zur Erhaltung der Gesundheit und Behandlung der Krankheiten, die das Ziel der Medizin sind, mit jedem einzelnen Organ des Körpers und mit dem Körper als Gesamtheit befassen muss.

Diese sind die Quellen, aus denen die Medizin ihre Grundsätze und Prinzipien bezieht. Die Frage, die sich nun stellt, ist: Wie glaubwürdig sind diese Quellen aus wissenschaftlicher Sicht? Anders gesagt: Welchen Grad auf der Skala der Wahrheit und Sicherheit geben uns diese Quellen?

Dies ist eine sehr wichtige Frage, da es sich hier um den Aufbau einer Wissenschaft, der Wissenschaft der Medizin, handelt. Ibn Rushd hat eine Antwort darauf :

– Was die Naturwissenschaften betrifft, so sollte man zunächst herausfinden, in welchen Bereichen sie sich mit der Medizin und in welchen sie sich von ihr unterscheiden. Medizin teilt mit der Naturwissenschaft das Interesse für den menschlichen Körper, seine Gesundheit und Erkrankung; der menschliche Körper ist bei beiden Wissenschaften Untersuchungsgegenstand. Sie unterscheiden sich aber insofern, als„der Naturwissenschaftler Gesundheit und Krankheit als Naturphänomene betrachtet, während der Arzt bestrebt ist, die Gesundheit zu erhalten und die Krankheit zu bekämpfen.“ Insofern darf der Arzt sich mit dem, was ihm die Physik an Universalien, d. h. allgemeine Eigenschaften von Körpern, vermittelt, nicht begnügen, sondern er muss durch langjährige Praxis die Art und Weise erlernen, wie diese Eigenschaften im menschlichen Körper funktionieren. Anders ausgedrückt, nur durch medizinische Praxis lernt der Arzt die Eigenschaften des menschlichen Körpers kennen, die ihm als Körper und Spezies zu eigen sind. Indem er diese Eigenschaften erlernt, „gewinnt er die ersten praktischen Erfahrungen“, mit denen er jene allgemeinen Eigenschaften im menschlichen Körper entdecken kann, die von der Naturwissenschaft erforscht werden. Das heißt: Es gibt das Allgemeine, jene Grundregeln, die die Naturwissenschaft lehrt, und es gibt das Spezielle, das durch die Ausübung des ärztlichen Berufes erlernt wird. Damit der Beruf des Mediziners auf die Ebene der Wissenschaft erhoben werden kann, muss das Allgemeine mit dem Speziellen verbunden und das Allgemeine im Speziellen entdeckt werden. Die wissenschaftliche Glaubwürdigkeit dessen, was die Medizin von der Naturwissenschaft an Erkenntnissen übernommen hat, hängt davon ab, wie hoch der Grad der Wissenschaftlichkeit der Praxis des Arztes ist. Sie ermöglicht ihm, das „Allgemeine“, das er von der Naturwissenschaft kennt, im Speziellen, womit er zu tun hat, also im menschlichen Körper, zu entdecken.

– Was die wissenschaftliche Glaubwürdigkeit der Erkenntnisse betrifft, die die Medizin aus der empirischen Praxis übernommen hat, so weist Ibn Rushd darauf hin, dass es schwierig sein dürfte, in all ihren Bereichen vollkommene Sicherheit zu erhalten, zum Beispiel im Bereich der Arzneimittel, der wichtigste Bereich, den die Medizin aus der empirischen Praxis gewinnt. Eine Sicherheit über die Wirkung der Arzneimittel erreicht man nur durch lange Erfahrung und Beobachtung der Wirkung des Medikaments bei jedem Patienten. Dazu kommen andere, verschiedene Faktoren. Fazit, was die Medizin an Wissen durch die Ausübung des Berufes erlangt, sind „allgemein geltende Tatsachen“ aber keine „sicheren Tatsachen“.

– Was die Anatomie betrifft, so erreicht sie ihre wissenschaftliche Glaubwürdigkeit durch die Wahrnehmung, Beobachtung und genaue Untersuchung. Da die Anatomie in Ibn Rushds Zeit nicht verbreitet war, er selbst sagte, sie sei „in Vergessenheit geraten“, blieb der Medizinwissenschaft nichts anderes übrig, als ihr anatomisches Wissen aus den „allgemein geltenden Tatsachen“ zu entnehmen. Ähnlich verfuhr man mit der Anwendung von Arzneimitteln. Das Wissen über sie zog man sich aus der Praxis.

Noch einmalgesagt: der medizinische Beruf ist ein ein praktischer Beruf (also eine angewandte Wissenschaft), der auf reale Grundlagen basiert: Ein Teil des Wahrheitsgehaltes dieses Berufes ist als sicher einzustufen, und zwar jene Tatsachen, die aus der Naturwissenschaft übernommen und durch die Praxis bestätigt werden, die es erlauben, allgemeingültige Gesetze im Speziellen anzuwenden. Teilweise jedoch ist der Wahrheitsgehalt als „nicht bewiesene Tatsachen“ einzustufen. Das hängt davon ab, was die langjährige Erfahrung an Ergebnissen gebracht hat, sei es auf der Ebene der therapeutischen Behandlung und der Arzneimittel, oder auf der Ebene der Organkunde, der Ermittlung ihrer Eigenschaften durch die Anatomie, die – in der Zeit von Ibn Rushd – „in Vergessenheit geraten“ war bzw. keine neuen Erkenntnisse mehr brachte.

Ibn Rushd beendet diese konzentrierte und informative Einleitung zu Colliget mit zwei kurzen Notizen: In der ersten Notiz beklagt er die Beschränkung der Medizin auf „das Wissen über Gesundheit und Krankheit und alles, was mit diesen beiden Zuständen zusammenhängt“. Diese [allgemeine] Beschreibung gelte auch für die Naturwissenschaft. Damit sie sich ausschließlich auf die Medizin beziehe, müsse man den Text mit folgender Ergänzung abändern: „um die bestehende Gesundheit zu erhalten und sie bei Verlust wiederherstellen.“ Denn dieser angewandte Teil ist mit „Medizin“ gemeint und seinetwegen unterscheidet sich die Medizin in der Definition von der Naturwissenschaft, die das Wissen allein zum Ziel hat. In der zweiten Notiz kritisiert Ibn Rushd die [von Galenos in der Definition von Medizin] addierte Beschreibung, „die weder als gesund noch als krank bezeichnet werden kann“ [„Sie ist das Wissen über Gesundheit und Krankheit und Alles, was mit diesen beiden Zuständen sowie mit den Fällen zusammenhängt, die weder als gesund noch als krank bezeichnet werden können.“]. Dieser Fehler – so Ibn Rushd – beruhe auf dem falschen Verstehen des Begriffs „Mitte“. Denn zwischen Gesundheit und Krankheit gäbe es keine eigentliche Mitte, wie die Mitte eines Stockes zum Beispiel. Bei der Gesundheit und der Krankheit gehe es darum, mehr oder weniger gesund oder krank zu sein, ähnlich wie die unterschiedlichen Farbstufen zwischen den Farben Weiß und Schwarz, die Farben, die aus der Mischung beider entstehen wie Hellgrau, Dunkelgrau, Braun usw. Ibn Rushd führt fort:

Eine Mitte von einem wahrgenommenen Schaden oder von seinen Folgen gibt es nicht. Er variiert nur durch mehr oder weniger Schaden. Die Mitte zwischen zwei gegenseitigen Polen bedeutet nicht, dass jeder von ihnen dort sein muss, wo der andere nicht ist, und es bedeutet auch nicht, dass der eine sich nicht in der Zeit des anderen befindet. Dies ist aus der theoretischen Wissenschaft allbekannt.

5. Medizin ist eine angewandte Wissenschaft, sie besteht teils aus Theorien, teils aus der praktischen Anwendung

Eine letzte Frage sollte man hier noch angehen, die im Zusammenhang steht mit Ibn Rushds Ablehnung der Einteilung der Medizin in Wissenschaft und Praxis und sein Bestreben, alle ihre Bereiche als Wissenschaft zu betrachten. Dem entgegengesetzt unterscheidet er zwischen den „Universalien“ oder „grundsätzlichen Regeln“ und den „partiellen Regeln“ in der Medizin. Im letzten Absatz seines Buches sagt Ibn Rushd: „Das ist – so deutlich und kurz wie möglich – meine Meinung zum Thema therapeutische Behandlung aller Arten von Krankheiten. Nun bliebe noch, meine Meinung über die Behandlung von Krankheiten abzugeben, die nur bestimmte, einzelne Organe des Körpers befallen (…) Dieses Thema vertage ich auf einen späteren Zeitpunkt, wenn mir dafür mehr Zeit zur Verfügung steht.“ Dann empfiehlt er seinen Lesern, die mehr über die Behandlung einzelner erkrankter Organe wissen wollen, dies im Buch at-Taisir, das sein Freund Abu Marwan ibn Zuhr [auch bekannt alsIbn Zuhr, Avenzoar, Abumeron oder Ibn-Zohr, 1091–1161] geschrieben hat, nachzulesen.

Wie sollen wir nun diese Unterscheidung verstehen?

Tatsächlich betrachtete Ibn Rushd den medizinischen Beruf außerhalb der konventionellen Tradition, die die Philosophie in Theorie und Praxis teilte und von al-Farabi, Ibn Sina und al-Ghazali auf andere Wissenschaften übertragen wurde, sogar auf die islamische Theologie. Al-Gazali zum Beispiel bezeichnete die scholastische Theologie (‚ilm al-kalam) als „theoretische Wissenschaft“ und die islamische Gesetzeswissenschaft (‚ilm al-fiqh) als „praktische Wissenschaft“. Ibn Rushd lehnte diese Teilung ab, die die scholastische Theologie zur Universalwissenschaft und die Jurisprudenz zur Wissenschaft der Detailfragen machte. Für Ibn Rushd ist die Medizin „ein praktischer Beruf“, also eine angewandte Wissenschaft. Der Beruf, der ihr am Nächsten stünde, sei der Beruf des „Seefahrers“ und „Armeeführers“ (also die Anführung der Armeetruppen im Krieg“).5 Diese angewandte Wissenschaft basiert auf „universellen Regeln“, dies sind die „Grundsätze des Berufs“, und „partielle Regeln“, die sich mit der therapeutischen Behandlung verschiedener erkrankter Organe befasst. Es wäre demnach kein Fehler, wenn wir dies im heutigen Sprachgebrauch umformulieren und sagen würden: Die Medizin oder das medizinische Kunsthandwerk besteht aus zwei Teilen: Ein wissenschaftlicher Teil, der studiert werden muss, etwa in Form eines Studiums an einer medizinischen Fakultät, und ein praktischer Teil, bei dem das gelernte Wissen in den Krankenhäusern und klinischen Abteilungen angewendet wird.

6. Das Averroesche Verständnis von Medizin kommt dem heutigen Verständnis sehr nahe

Es wird klar geworden sein, dass die eben genannte Einteilung der medizinischen Wissenschaft in sieben (bzw. fünf) Sparten und Ibn Rushds Bestehen auf dem wissenschaftlichen Charakter sowohl für Grundsatz- als auch Detailfragen, aus der sich diese Teildisziplinen herausbilden, sowie sein Bestehen auf der Bedeutung der Praxis in der Medizin auf ein neues Verständnis der medizinischen Wissenschaft hin deutet, die völlig von dem Bild der Wissenschaft abweicht, die uns al-Majusi und Ibn Sina dargeboten haben. Dieses Averroesche Verständnis von der Medizin kommt dem heutigen modernen Verständnis sehr nahe, wenn es nicht sogar mit ihm identisch ist, sowohl in der Definition der Medizin, als auch der Einteilung in ihren Teildisziplinen und der Beurteilung des Grades der wissenschaftlichen Genauigkeit. Es genügt hier vielleicht, auf das 1920 erschienene Buch von Claude Bernard Einführung in das Studium der experimentellen Medizin hinzuweisen, das als Grundstein der modernen Medizin betrachtet wird. In der Einleitung seines Buches schreibt er : „Die Erhaltung der Gesundheit und ihre Wiederherstellung nach der Krankheit sind von jeher die Aufgaben gewesen, die sich die Medizin seit ihrer Entstehung gestellt hat. Und es sind die gleichen Aufgaben, die sich die Medizin auch heute noch fortlaufend auf der wissenschaftlichen Ebene stellt. Nach heutigem Stand der medizinischen Praxis kann man sagen, dass diese Aufgabenstellung auch noch lange ein Thema der Forschung bleiben wird.“ Nachdem Bernard den Forschritt in der Medizin und die Errungenschaften in den physikalischen und physio-chemischen Wissenschaften und den gesunden und kranken Lebenserscheinungen hervorhebt, fährt er fort: „Damit ein Arzt eine allumfassende Diagnose machen kann, muss die experimentelle Medizin drei Hauptdisziplinen enthalten: die Physiologie (Wissenschaft von den Funktionen der Organe, la physiologie), die Pathologie (Wissenschaft von den Krankheiten, la pathologie) und die Therapie (Wissenschaft der Heilkunde, la thérapeutique). Er ergänzt: „Wie jede andere naturwissenschaftliche Disziplin kann die Wissenschaft der Medizin jedoch nicht existieren, wenn sie nicht auf der Praxis der sofortigen und rigorosen Anwendung der logischen Beweisführung aufgrund der Fakten basiert, die aus Beobachtung und Erfahrung vorliegen. Betrachtet man die experimentelle Methodik, so ist sie eigentlich nichts anderes als die Beweisführung, durch die unsere Gedanken den Lebenserscheinungen methodisch Folge leisten.“6

Wahrscheinlich wird der Leser festgestellt haben, dass Ibn Rushd sein Buch genau so aufgebaut hat, wie es hier Claude Bernard nachdrücklich beschreibt: Nach dem Kapitel über das „Handwerk der Chirurgie“, aus der der medizinische Beruf „viele seiner Teildisziplinen“ erhält, kommt das Kapitel über Gesundheit, das sich mit dem Nutzen der Organe und ihrer Funktionen auseinandersetzt (la physiologie). Es folgen das Kapitel der Krankheiten und das Kapitel der Symptome, die auf eine Erkrankung hinweisen (la pathologie), dann das Kapitel der Arznei- und Nahrungsmittel und die Kapitel über die Bewahrung der Gesundheit und über die Behandlung von Krankheiten (la thérapeutique). Ferner besteht Ibn Rushd auf einem Punkt: „In diesem Beruf gibt es nicht die Wissenschaft ohne die Praxis und auch nicht die Praxis ohne die Wissenschaft. Beide sind wichtig.“7

Es bedarf hier keiner Erklärung, dass ich hiermit nicht die Absicht habe, zu beweisen, dass die Errungenschaften von heute bereits schon von Ibn Rushd entdeckt worden sind. Eine zu große Entfernung liegt da doch zwischen dem 12. und 20. Jahrhundert auf allen Ebenen, insbesondere auf der Ebene der Wissenschaft. Dennoch drängt sich uns ein Punkt auf, dass Ibn Rushds Verständnis von der Wissenschaft der Medizin dem heutigen Verständnis sehr ähnlich ist. Trotz all dem sollte man hier festhalten, dass diese Wissenschaftlichkeit, mit der Ibn Rushd mit seinen Themen umgingbegrenzt war durch den Begriffsapparat, der in seiner Zeit vorherrschend war wie der Begriffsapparat zur Produktion wissenschaftlicher Erkenntnis. Die vorherrschende medizinische Theorie in seiner Zeit war die, die Galenos verbreitete. Mit dieser Wissensmaterie hat sich Ibn Rushd auseinandergesetzt und dachte in ihrem Rahmen auch dann, wenn er sie in vielerlei Hinsicht kritisierte.

Mit anderen Worten kann man sagen, was Ibn Rushd an Neuem im Bereich des wissenschaftlichen Denkens in der Medizin geleistet hat, ist ähnlich wie das, was er in der Philosophie mit seinen Aristoteles-Kommentaren getan hat. Zwar kritisierte Ibn Rushd Aristoteles nicht so wie er Galenos kritisierte – auch wenn er sich in der Medizin auf diesen stützte, wie er sich auf jenen stützte, wenn es um Physik und Metaphysik ging –, dennoch versuchte Ibn Rushd, die Probleme zu lösen, die Aristoteles offen ließ, und die kleinen Lücken in dessen System zu füllen, „gemäß seiner Lehre“, Aristoteles’ Lehre, die in Wahrheit auch Ibn Rushds Lehre war. Dies tat er, indem er den Aristotelschen Begriffsapparat so weit entwickelte, dass er das Aristotelsche System beinahe ganz zerstörte.8 Das gleiche tat der Philosoph von Cordoba mit der Medizin von Galenos (wie ich in meiner Einleitung des Buches deutlich mache). Die Fragen, die wir uns nun stellen, sind:

Welche Bedeutung hatte Ibn Rushd als Arzt für Europa? War es die gleiche Bedeutung, die er in der Philosophie hatte und die sich in der Entstehung des lateinischen Averroismus widerspiegelt, die der europäischen Aufklärung voranging? Spielte er irgendeine Rolle in der Entwicklung des arabischen medizinischen Denkes?

7. Ibn Rushd und sein Buch Colliget in Europa: „der vernichtende Schlagstock“

Zu Beginn müssen wir uns gestehen, dass wir beim Thema „Rolle der arabischen Wissenschaft in der europäischen Aufklärung“ immer noch auf die Islamwissenschaftler angewiesen sind, wenn auch das, was jene in diesem Bereich geleistet haben, trotz seiner Bedeutung, immer noch nicht ausreichend ist. Der Beitrag der arabischen Wissenschaft und Philosophie bei der europäischen Aufklärung kann nur rekonstruiert werden mit Hilfe von Forschern, die der lateinischen und hebräischen Sprache mächtig sind und sich mit der Kultur des Mittelalters auseinandergesetzt haben und ausreichend mit der arabischen Tradition der Wissenschaft und Philosophie vertraut sind. Das wünschen wir uns für die künftigen Forscher-Generationen von Akademikern, die sich mit der arabischen Kultur befassen. Derzeit aber sind wir noch darauf angewiesen, uns an den Ergebnissen der zeitgenössischen Islamwissenschaftler und Arabisten und anderen in diesem Bereich spezialisierten europäischen Forschern und Akademikern zu orientieren. Unserem Wissen nach ist das letzte wichtigste Werk, das in diesem Bereich erschienenist, ein Essay von Danielle Jacquart, Direktorin des EPH Icole Pratique des Hautes Etudes (IVe Section) in Paris, erschienen unter dem Titel „Einfluss der arabischen Medizin des Mittelalters auf den Westen“.9

Dieser Essay wird in unseren nachfolgenden Darlegungen unsere Hauptquelle sein.

Die Forscherin legt dar, dass die Bücher Kamil as-sun’a at-tibbiyya von Ali ibn al-Abbas al-Majusi, al-Mansuri von Ibn Sina und al-Hawi von ar-Razi, sowie das als Colliget bekannt gewordene Buch al-Kulliyyat von Ibn Rushd in die lateinische Sprache übersetzt wurden. 10

Wie in der Philosophie gab es in den medizinischen Kreisen der damaligen Zeit zwei sich streitende Parteien: die einen waren auf Ibn Sinas Seite, die anderen auf Ibn Rushds Seite. Uns interessiert hier vor allem die Rolle, die Ibn Rushd dabei mit seinem Buch al-Kulliyyat (Colliget) gespielt hat.

Über das Buch Colliget sagt die oben genannte Wissenschaftlerin:

Das Buch löste mehrere Diskurse aus, die es westlichen Ärzten erlaubte, ihre Denkweise zu ändern. Als Befürworter der Aristoteleschen Philosophie hat das Buch Colliget einen Beitrag geleistet, die Grundsätze neu zu legen. So haben sich im Verlaufe der letzten Jahre des 
13. Jahrhunderts bis ins 17. Jahrundert die verschiedensten Definitionen für Fieber um die beiden weit auseinanderstehenden Positionen von Ibn Sina und Ibn Rushd gerankt.

Die Forscherin legt dar, dass die Lösung, die Ibn Rushd darbot, ohne Probleme akzeptiert wurde, weil es eine Lösung war, die der von Galenos sehr nah kam. Sie fährt fort:

Das Buch Colliget spielte insofern eine wichtige, stimulierende Rolle, da es die Definition der Medizin als Beruf neu vorantrieb. Die mit der Theorie und der Praxis verbundenen Diskussionspunkte (der theoretische und praktische Teil der Medizin), wie sie in den beiden Büchern Pantegni (d. h. Kamil as-Sina’a at-tibbiyya) von Majusi und Canon (al-Qanun) von Ibn Sina vorkommen, wurden erneut zur Diskussion gestellt. Die Diskussion um die Definition der Medizin, wie sie in dem Buch al-Kulliyyat (Colliget) vorangebracht wird, fand großes Echo. Dies führte dazu, dass in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts ein erneutes Interesse an der Methodik erwachte, die es zuließ, spezielle Situationen (particularia) zu analysieren, also unendlich viele Situationen, die in unserem normalen Alltag passieren können. „Ibn Rushds Erfolg, an den damals vorherrschenden medizinischen Vorstellungen zu rütteln, ging so weit, dass der Kommentator von Ibn Sinas Buch Canon, Jacques Despars, der 1458 verstarb, Ibn Rushd einen ganz besonderen Beinamen gab, der aussagekräftig ist. Während er ar-Razi als „Erfolgreichsten aller Experten“ und als „größten und erfahrendsten Arzt nach Hippokrates und Galenos“ nannte und Ibn Masawayh als „unseren Experten und Missionär“, der „am erfahrendsten in der Beschreibung von Arzneimittel“ ist, beschrieb er Ibn Rushd als den „vernichtenden Schlagstock“ und als einen „Mann“, der „alle bisherigen Ärzte diskreditierte“.

Es ist unbestritten, dass Ibn Rushds Buch Colliget „mehrere Diskurse auslöste, die es westlichen Ärzten erlaubte, ihre Denkweise zu ändern“, insbesondere durch das von ihm dargestellte neue Verständnis der Medizinwissenschaft, seine neue Einteilung in Teildisziplinen und durch seine Bewertung ihrer Glaubwürdigkeit. Wir haben dies in den vorangegangenen Kapiteln ausführlich erläutert. Was aber seine Bezeichnung als „vernichtender Schlagstock“ und „Mann“, der „alle bisherigen Ärzte diskreditierte“ angeht, so stellt sich die dringliche Frage: „Wie ist das gemeint? Und warum?

Die Autorin des Essays, der wir diese wichtige Information verdanken, stellt diese Frage nicht. Sie wendet sich hier einem anderen Thema zu. Trotzdem, vor dem Hintergrund ihrer geschichtlichen Darbietung der arabischen Medizin mit ihren verschiedenen Plädoyers im europäischen Denken und der Reaktionen, die es zu den verschiedenen arabischen Quellen gab, ist es uns erlaubt, eine Antwort auf unsere Frage abzuleiten: „Weshalb beschreibt er den Arzt Ibn Rushd als „vernichtenden Schlagstock“ und weshalb wird ihm nachgesagt, er habe „alle bisherigen Ärzte diskreditiert?“

Im gleichen Essay lesen wir, dass der katalanische Arzt Arnaud de Ville Neuve „einer der hervorragenden Denker des Mittelalters“ war. Er war ein „Erneuerer inmitten einer konservativen Umgebung, der die Werke von Galenos gut kannte. Er war ein scharfer Kritiker von Ibn Sina, obwohl er all seine Werke gelesen und Ibn Sinas Abhandlung über die Gesetze von Herzmedikamenten übersetzt hat (diese erschien unter dem Titel De viribus cordis). Im Rahmen einer Kontroverse in medizinischen Kreisen kritisierte de Ville Neuve immer wieder jene Ärzte, die Ibn Sinas Buch Canon blind folgten. Er behauptete in seinen Büchern, „Ibn Sina hat die grundlegende Erkenntnis, zu der Galenos gekommen ist, nicht verstanden. In seinem dicken Medizinwälzer stellte er den Großteil der lateinischen Ärzte als Dummköpfe dar (…), die seiner Meinung nach Unsinn reden ohne auf Beweise zu achten. Sie würden nur darüber erfreut sein, wenn sie dieses große Buch sehen und lesen könnten oder wenn sie auf ihre großen Podeste zeigen könnten, wie schwer es ist.“ Danielle Jacquart fährt weiter fort: „Ibn Sinas Werke zu verstehen bedeutet für de Ville Neuve, sie durch das Sieb von Galenos zu sieben.“11

Aus dem Geschriebenen wird deutlich, welche große Wirkung das Buch Canon von Ibn Sina im 13. Jahrhundert auf die medizinischen Kreise hatte. Die Gegenreaktionen begannen dann, als die Forscher Galenos’ Lehren entdeckten, was ihnen einen direkten „Vergleich zwischen den arabischen und den Galeno’schen Werken“ erlaubte. In diesem Zusammenhang müssen wir die oben beschriebene, scharfe Kritik gegen Ibn Sina verstehen. Es war ein Aufruf, sich auf die ersten medizinischen Grundregeln zurück zu besinnen, auf Galenos, der zur fundierten Wahrheit gekommen ist, die „Ibn Sina nicht verstanden hat“ und der „den Großteil der lateinischen Ärzte als Dummköpfe darstellte.“

Die Frage, die sich nun stellt, ist: Wenn Ibn Sina „den Großteil der lateinischen Ärzte als Dummköpfe“ dargestellt hat, und die Rückbesinnung auf Galenos die einzige Alternative ist, welche Schuld hat Ibn Rushd in diesem Kontext, dass er als „vernichtender Schlagstock“ beschrieben wird und dem vorgeworfen wird „alle bisherigen Ärzte diskreditiert zu haben“?

8. Hat Ibn Rushd den kleinen Blutkreislauf entdeckt?

Die Antwort auf diese Frage gibt das Buch Colliget, mit dem wir uns hier befassen. Schon in der Einleitung erklärt Ibn Rushd, dass er alle bisher als sicher betrachteten Grundsätze einer genauen Untersuchung unterziehen werde, auch wenn er dabei der Meinung anderer Mediziner widersprechen würde. Mit „andere Mediziner“, die Ibn Rushd ggf. widersprechen würden, meinte er nicht Ibn Sina, den er nur selten, bei Randthemen, erwähnt. Derjenige, mit dem Ibn Rushd von Anfang bis Ende des Buches anderer Meinung ist und mit dem er sich in Diskussionen verwickelt, ist Galenos selbst! Ibn Rushd betrachtete Galenos als den einzigen Gelehrten, der es würdig war, dass man sich auf ihn stützt und seine Thesen gleichzeitig in Frage stellt. Ibn Rushds Diskussion und Widerspruchzueinigen der Grundsätze der medizinischen Lehre von Galenos bedeutete, dass das alternative Wissen, das die Gegner von Ibn Sina in Galenos gefunden hatten, von Grund auf erschüttert und überholt wurde. Ibn Rushd war hier wirklich „der Schlagstock“, der die Denktradition vernichtete, sei es die von Ibn Sina oder die von Galenos. Von daher kann man verstehen, dass Ibn Rushd „alle Ärzte diskreditierte“. Das bedeutet, Ibn Rushd hat das europäische, medizinische Denken im Mittelalter erschüttert und es zum Aufruhr gegen die Tradition angespornt. Er lenkte das Denken in Richtung igtihad (selbstständiges Denken nach eigenem Ermessen). Dies ließ manchen Ibn Rushd mit Harvey, dem Entdecker des großen Blutkreislaufs, in Zusammenhang bringen. Die Entdeckung des kleinen Blutkreislaufs geht zurück auf den arabischen Arzt Ibn al-Nafis.

Wenn dieses der Einfluss des Buches Colliget auf das europäische medizinische Denken war, was hat es für einen Einfluss auf das arabische medizinische Denken gehabt?

Die Meinung ist verbreitet, dass Ibn Rushds Denken keinen Einfluss auf die arabische Kultur gehabt hat. Das mag stimmen, wenn man sich vorstellen würde, welche geistige Revolution er in der arabischen Gesellschaft hätte auslösen können, die sich im Abstieg befand. Diese Behauptung ist jedoch nicht richtig, wenn man die Entwicklung und Erneuerung in bestimmten anderen Wissensbereichen betrachtet. In unseren früheren Arbeiten berichteten wir über die Fortsetzung des erneuernden Averroeschen Denkprojekts von Batruji in der Astronomie über al-Schatibi in der Rechtswissenschaft undIbn Khaldoun in der Sozialwissenschaft bis Ibn Taimiyya in seiner Diskussion um das Verhältnis zwischen Logik und Tradition.12 Es stellt sich für uns nun die Frage: Steht Ibn Rushd nicht eventuell hinter der größten Entdeckung in der arabischen Medizingeschichte, ja sogar der größten in der Medizingeschichte der Welt, nämlich der Entdeckung des kleinen Blutkreislaufs durch Ibn al-Nafis?

Mit dieser Frage haben wir uns ausführlich in unserer analytischen Einleitung des Buches Colliget befasst. Diese Frage zu beantworten erfordert es, Ibn Rushds Kommentare und Meinungen zu Galenos’ Ansichten in zusammenhängenden Fragestellungen zu verfolgen wie das Verhältnis zwischen Leber, Herz, Lunge und den Blutgefäßen (Venen und Aterien) usw. In dieser Diskussion bewirkte Ibn Rushd, dass man die erste medizinische Hauptquelle seiner Zeit (Galenos) und die Quellen, die in nicht weniger als fünf Jahrhunderten entstanden waren, erstmals anzweifelte. Ibn Rushd betonte die Bedeutung des Experiments. Die Diskussionen, die er anregte, waren von großer historischer Bedeutung.

1 Dieses Essay, das ich Ibn Rushd widme, ist Teil der Einleitung zu der von mir betreuten Edition seiner Handschrift al-Kulliyyat fi t-tibb (Grundsätze der Medizin), die im Rahmen einer Reihe von Handschriften erschienen war, die Ibn Rushd – neben seinen Kommentaren – verfasst hat. Diese Werke sind: Fasl al-maqal fi-ma baina l-hikmati wa-schari’ati min al-ittisal (Endgültiges Traktat über die Harmonie von Religion und Philosophie), al-Kaschf an manahig al-adilla fi aqa’id al-milla (Traktat über die Methoden der Beweisführung von Glaubensdogmen), Tahafut at-tahafut (Inkohärenz der Inkohärenz), al-Kulliyat fi t-tibb (Grundsätze der Medizin, auch Colliget genannt) und schließlich seine Zusammenfassung der Politeia von Plato unter dem Titel ad-Daruri fi s-siyasa (Das Notwendige in der Politik). Ich habe die Handschrift gemeinsam mit einem Kollegen von der Geisteswissenschaftlichen Fakultät in Rabat ins Arabische zurück übersetzt, weil es nur noch in hebräischer Version vorlag. Dabei achtete ich darauf, den zeitgenössischen Redestil von Ibn Rushd beizubehalten. Alle o. g. Handschriften wurden mit moderner Zeichensetzung (Absätze, Kommata, Satzzeichen usw.) versehen. Ebenso schrieb ich alle Einleitungen und Vorworte, in denen ich die Bücher analysiere, interpretiere und diskutiere. Die Reihe erschien 1998 zum 800. Gedenkjahr von Ibn Rushd. Sie erschien gleichzeitig im selben Jahr bei Markaz dirasat al-wahda al-arabiyya in Beirut.

2 In allem, was er schrieb, verfolgte Ibn Rushd ein strategisches Ziel: den Wiederaufbau der Denkkultur in seiner Zeit. Dies wollte er erreichen durch die Festigung der Grundlagenforschung in allen Bereichen der arabisch-islamischen Kultur und Zurückführung auf ihren Ursprung: in der Religion und Theologie, der Philosophie, der Medizin, der Naturwissenschaft, der Sprache und Politik.

In seinen Religionsschriften verfolgte er das Ziel, „unsere Religion von Veränderungen, die ihr widerfahren sind, zu bereinigen“ und sich auf die „offenbaren Werte, die die Religion den Menschen vermitteln wollte“ zu besinnen. Er verfasste eine Regel für die Interpretation, in der er Gelehrten darlegt, was sie interpretieren müssen, was sie interpretieren können und was sie nicht interpretieren dürfen und auf welche Weise dies geschehen soll. Weil er bemängelte, dass zeitgenössische Theologen nur noch frühere Theologen nachahmten, war er entschlossen, den igtihad, die eigene Urteilsbildung über rechtlich-theologische Fragen und selbstständige Interpretation der Quellen, wiederzubeleben und setzte sich kritisch mit den theologischen Doktrinen auseinander.

Er schrieb eine neue Grammatik. Er wollte die Astronomie, die in seiner Zeit sich hauptsächlich auf Ptolemäus berief, reformieren. Ibn Rushd war mit unnachgiebiger Energie bemüht, notwendige Korrekturen in allen Bereichen der Kultur und Wissenschaft zu machen. Er widersetzte sich gegen die Stagnation, den blinden Autoritätsglauben und die Fälschung, die damals verbreitet waren, indem er das Wissen in den verschiedenen Bereichen wieder aufzubauen und zu erneuern versuchte. Dies erfolgte durch das Studium der Quellen und den Gebrauch der eigenen Vernunft, sowie durch Beobachtung und Praxis, soweit notwendig, siehe Mohammed Abed al-Jabri Ibn Rushd sira wa fikr.

3 Ibn Rushd. Kommentar zu al-Aragoza von Ibn Sina (Avicenna), Handschrift.

4 Ibn Rushd, Kommentar zu al-Aragoza von Ibn Sina, ibid. In der Einleitung des Buches al-Kulliyyat fi t-tibb teilt Ibn Rushd die Medizin in sieben Teile, indem er zusätzlich zu diesen fünf Teilbereichen noch zwei weitere voneinander unabhängige Bereiche addiert: die Anatomie, aus der die Medizin einige ihrer Grundsätze zieht und die Pharmazie bzw. die Zusammensetzung von Arzneimitteln. Wie wir sehen werden, versteht Ibn Rushd den letzteren Bereich als eigenständige Disziplin, die vor der Kenntnis der Heilkunde bekannt war.

5 Der Vergleich der Medizinwissenschaft mit der maritimen Wissenschaft ist offenbar: Die maritime Wissenschaft umfasst das theoretische Wissen über das Meer, die Wellen, das Wetter, Wind und Orientierung an den Sternen usw. Der Schiffskapitän wendet jedoch diese Informationen und Kenntnisse je nach Situation, die sich nach zeitlichen und örtlichen Gegebenheiten ändert, an. Auch die Anführung einer Armee setzt das Grundwissen voraus, das in Militärschulen erworben wird. Die Anführung einer Armee in einer Schlacht und Anwendung dieses Wissens usw. hängt jedoch stark von Fall zu Fall ab. So ist es auch in der Medizin.

6 Claude Bernard Introduction á l’étude de la medicine experimentale, Libraire Delagrave, Paris 1920, S. 5-7.

7 Ibn Rushd, Kommentar zu al-Aragoza von Ibn Sina (Avicenna).

8 Siehe Mohammed Abed al-Jabri Ibn Rushd, Sira wa-fikr, Kapitel Nr. 183.

9 Dieses Essay wurde ins Englische übersetzt und erschien als Beitrag mit dem Titel „The influence of Arabic medicine in the medieval West“ in Encyclopaedia of the History of Arabic Science, ed. R. Rashed (London: Routledge, 1996), vol. 3, pp. 963-984 (arabisch bei Markaz dirasat al-wahda al-arabiyya, Beirut 1997, S. 1225. Es gibt noch andere Beiträge zur Bedeutung des Averroeschen Denkens in Europa, die veraltet sind, wie Renans Buch Averroes und Averroeismus usw. Von den neueren Erscheinungen sei erwähnt : Ein 1995 bei Le Seuil erschienener Sammelband mit dem Titel Histoire de la pensée médicale en Occident und ein Buch von Manfred Ullmann, in französischer Übersetzung erschienen 1995 unter dem Titel La médecine islamique.

10 Die gesamten arabischen medizinischen Werke wurden übersetzt. Siehe eine Liste mit gekürzter Titelangabe und Datum der Übersetzung in dem o. g. Essay.

11 Ders., S. 1237-1238.

12 Siehe Mohammed Abed al-Jabri Bunyat al-aql al-arabi, Markaz dirasat al-wahda al-arabiyya, Beirut, S. 536.

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