Mahmud Mohammed Taha: Märtyrer des Versuchs einer Erneuerung des islamischen Denkens im Sudan

Taha Ibrahim

Es ist nicht möglich, Tiefe, Reichweite und Bedeutung des Denkens von Mahmud Mohammed Taha zu erfassen, ohne sich im Detail mit den historischen Wurzeln des Kampfes vertraut zu machen, der schon in den allerersten Anfängen um den heiligen Text des Islam, den Koran, entbrannt ist.

Unmittelbar nach dem Tode des Propheten Mohammed, der seinem Volk das Buch und die Sunna  hinterlassen hatte, begannen die Muslime, sich um das Verständnis dieser Hinterlassenschaft zu bemühen. Ihr Ausgangspunkt dabei war, daß dies die heilige göttliche Botschaft sei, die Mohammed offenbart wurde mit dem Auftrag, diese Botschaft in der arabischen Sprache zu verkünden: „Siehe, wir haben es (das Buch) herabgesandt als einen arabischen Koran“ (Sure 12 „Joseph“, Vers 2). „Und demgemäß sandten wir ihn als eine Vorschrift in arabischer Sprache nieder“ (Sure 13 „Der Donner“, Vers 37). „Also haben wir dir einen arabischen Koran geoffenbart“ (Sure 42 „Die Beratung“, Vers 5). „Die Sprache dessen, den sie meinen, ist eine fremde, aber dies ist die klare arabische Sprache“ (Sure 16 „Die Bienen“, Vers 105).

Das Arabische war jedoch zu der Zeit, als mit dem Tode des Propheten die Kette der Offenbarungen abgerissen war, eine Sprache, die aus ausschließlich mündlicher Überlieferung lebte, d.h. die Dichtung stellte ihr einziges literarisches und künstlerisches Erbe dar. Es gab keine festgelegten sprachlichen Regeln, keine schriftliche Fixierung der Wortbedeutungen und der Syntax. Deshalb waren diejenigen, die sich mit der Wissenschaft von Koran und Sunna befaßten, vor allem anderen erst einmal darum bemüht, die arabische Sprache zu kodifizieren, d.h. die Bedeutung und den Gebrauch ihrer Begriffe festzustellen und ihre sprachlichen Regeln zu entdecken. Die Sprachwissenschaft machte also den Vorreiter für die Wissenschaft von der Auslegung des Korans, oder, anders ausgedrückt, die Auslegung des Korans und der Sunna entwickelte sich im Schatten der Sprachwissenschaft.

Im Verständnis der Sprachforscher war der Koran der genaueste und authentischste Bezugstext für die arabische Sprache, und so wurde der Koran behandelt wie ein Sprachbuch, d.h. als Ausgangstext für die Festsetzung von Normen und grammatischen Regeln für das Arabische. Naturgemäß nahm man auch die arabische Dichtung zur Hilfe, um die Normen und Grundsätze, die man aus der Sprache des Koran gewonnen hatte, zu bestätigen, oder um die Bedeutung der Ausdrücke und die Syntax und die im Koran vorhandene Sprachkunst genauer zu bestimmen.

Im Laufe ihrer Forschungen bezogen die Sprachwissenschaftler darüberhinaus auch die überlieferten Berichte in ihre Untersuchungen mit ein und untersuchten sie nach den grammatischen Regeln und Wortbedeutungen und der Satzbildung, um sie nach ihrer Richtigkeit zu überprüfen und Falsches auszusieben, und daraus entstand die Wissenschaft von der Überlieferung und den Überlieferern.

Insofern nun eines der Hauptmerkmale der Sprache – und das gilt für jede Sprache – ihre Konventionalität ist, machte sich die Forschung daran, herauszufinden, was als Konvention Geltung hatte, sowohl im Hinblick auf die grammatischen Regeln als auch hinsichtlich der Bedeutungen und der sprachlichen Form. Und so stellten die Sprachforscher die Normen auf, nach denen die Regeln festzusetzen waren, und zwar nahmen sie als Grundlage die Folgerichtigkeit der Chronisten und die Kongruenz der Berichte hinsichtlich der grammatischen Regeln und hinsichtlich der Bedeutung der gebrauchten Ausdrücke. Konnte man z.B. aufgrund der Folgerichtigkeit, die sich in den Berichten der Chronisten fand, feststellen, daß das Satzsubjekt stets im Nominativ steht und das Satzobjekt im Akkusativ, dann stand dies als Norm und Regel der arabischen Sprache fest und war für alle Zeiten gültig. Dafür mußte aber eben geklärt sein, daß sich die überwiegende Mehrheit tatsächlich an diese Regel gehalten hat. Wenn aber eine bestimmte Form nur bei einem einzigen Chronisten auftauchte, mußte von allen Seiten her untersucht werden, welche Glaubwürdigkeit der betreffende Chronist besaß. Daraus entstand die „Wissenschaft von der Überprüfung der Überlieferer“.

Hier ist zu bemerken, daß gegen diese Methode zur Auffindung und Festlegung von grammatischen Regeln im Allgemeinen nichts einzuwenden ist, daß aber, sobald man sie auf den Bereich des Denkens überträgt, die Sache gefährlich wird, da man die Gültigkeit eines Gedankens nicht danach bewerten darf, in welcher Häufigkeit er auftritt. Zwar ist gültige Praxis, festzustellen, von wem der Text stammt, den wir vor Augen haben, aber dies kann für uns kein Maßstab dafür sein, ob wir diesem eine Verbindlichkeit für alle Zeiten und alle Orte der Erde zusprechen, während es hinsichtlich der sprachlichen Form durchaus möglich ist, zu sagen, daß die daraus abgeleiteten grammatischen Regeln verbindlich sind für alle Zeiten und Orte, wo es Menschen gibt, die sich der arabischen Sprache bedienen.

Die Dogmatiker  jedoch, die sich mit der wissenschaftlichen Erforschung der Grundlagen des Glaubens beschäftigten und dabei den Sprachwissenschaftlern folgten, übernahmen diese linguistischen Normen und wandten sie auf die Gedanken des Korans an. D.h. sie erklärten, daß die Frage, inwieweit ein Text oder eine Bestimmung Gültigkeit habe an allen Orten und für alle Zeiten, sich entscheiden ließe anhand der Häufigkeit, in der der Text oder das Urteil bei den Überlieferern auftrete, und diese Regel wandten sie auch auf den koranischen Text und die darin enthaltenen Vorschriften an.

Damit gelangten sie zu dem gefährlichsten Dogma, das je in der Geschichte des arabisch-islamischen Denkens aufgestellt worden ist, nämlich, daß eine Textstelle an allen Orten und für alle Zeiten gültig sei, wenn ihr Vorkommen „eindeutig belegt und erhärtet worden ist“. Und es war selbstverständlich, daß man den Text des Korans für eindeutig belegt und übereinstimmend überliefert, und entsprechend seine Weisungen als für alle Zeiten und an allen Orten gültig erklärte. Der Forschung bleibe demnach nichts weiter zu tun übrig, als die Bedeutungen und die sprachlichen Formen des Korans eindeutig zu bestimmen.

Hingegen blieb für die vom Propheten überlieferten Aussprüche (Hadith) die Möglichkeit bestehen, die Dauer und Häufigkeit der einzelnen Überlieferungen zu überprüfen. So entstand die „Wissenschaft vom Hadith“, in der man aber ebenfalls sklavisch den von den Sprachforschern aufgestellten Regeln folgte und diese buchstabengetreu auf die Bestimmung und Deutung der Aussprüche des Propheten anwandte.

Dabei ist klar, daß die islamischen Dogmatiker den gewaltigen und grundlegenden Unterschied mißachteten, der zwischen zwei Arten von Logik besteht: der Logik der Sprachwissenschaft, die zu befolgen ist bei der Festlegung von Sprachnormen und Begründung von grammatischen Regeln – und der Logik im philosophischen Sinne, die auf das Denken anzuwenden ist, wenn man einen bestimmten Gedanken zu erfassen und zu bewerten sucht. Allerdings kam diese Unterordnung der gedanklichen unter die grammatische Logik nicht von ungefähr. Sie entsprach den Interessen der sich im islamischen Herrschaftsbereich etablierenden Mächte, die fester Regeln zur Legitimierung ihrer Herrschaft bedurften und infolgedessen darauf drängten, das Tor für Auseinandersetzungen, worin die Grundlagen ihrer Herrschaft und ihrer Befugnis zur Gesetzgebung und ihrer Befehlsgewalt in Frage gestellt wurden, zu verschließen .

Deshalb beschränkten sich in der Folgezeit die Dogmatiker darauf, die Normen für die Festsetzung der grammatischen Regeln auf das koranische Denken und die Bestimmungen des Koran zu übertragen. So übernahmen sie danach z.B. auch den von den Sprach- und Literaturwissenschaftlern entwickelten Begriff der Ausnahmeregelung. Dieser Begriff beruhte auf der Entdeckung, daß die Dichter sich gelegentlich gezwungen sehen, eine überlieferte poetische Regel zu durchbrechen, sei es hinsichtlich des Sprachduktus oder sei es hinsichtlich des Reimes, ohne daß dies die Vollkommenheit des Gedichts beeinträchtigte. Daraus leiteten sie die „Regel von der Notwendigkeit“ ab, wonach es dem Dichter gestattet ist, innerhalb enger Grenzen und nur aus zwingenden Gründen, die sich aus den Erfordernissen des Gedichts selbst ergeben, eine bestimmte Regel zu übertreten. Wollte der Dichter jedoch diese Übertretung verallgemeinern, so würde er damit seine Dichtung entwerten.

Diese Bestimmung übernahmen die Dogmatiker nun für die Praxis des Glaubens und stellten die Regel auf, daß die Notwendigkeit ein Verbot außer Kraft setzen kann. Aber sie zogen den Möglichkeiten, eine solche Notwendigkeit geltend zu machen, darin den Sprachwissenschaftlern folgend, derart enge Grenzen, daß sie den Weg versperrten für ein Denken, das darauf ausgerichtet ist, in einer veränderten geschichtlichen Lage die Normen früherer Epochen den neuen Gegebenheiten entweder anzupassen oder sie notfalls ganz außer Acht zu lassen, womit es zu einer neuen „Regel der Notwendigkeit“ gekommen wäre mit einer neuen Grundlage, nämlich dem Bewußtsein vom Wandel des Lebens und der Gesellschaft.

Ein letztes Beispiel: Die Sprachwissenschaftler haben den Gebrauch bestimmter Ausdrücke, die sich nicht von einem arabischen Ursprung herleiten ließen, für zulässig erklärt, wenn sie häufig gebraucht wurden und allgemein verbreitet waren. Sie haben es dann für notwendig erachtet, nachzuforschen, wann und bei welcher Gelegenheit der eine oder andere Ausdruck in die arabische Sprache eingedrungen ist und den Anlaß dafür untersucht. Sie taten dies, um die genaue Bedeutung des Ausdrucks zu bestimmen, und keineswegs aus interpretatorischen Gründen. Denn die Sprache ist ein Mittel der Verständigung, d.h. der Angesprochene soll möglichst genau das verstehen, was ihm der Sprecher mitteilen will, indem er einen bestimmten Ausdruck gebraucht.

Die islamischen Dogmatiker übertrugen dieses linguistische Verfahren auf den Koran und trennten so das koranische Denken von seinem geschichtlichen und gesellschaftlichen Kontext, von dem es lebt, und von der Methode, durch die es geprägt ist, nämlich der Methode, der Bewegung der Gesellschaft und deren Veränderung Rechnung zu tragen. Durch die Übertragung aller Normen und Grundlagen und Regeln für Grammatik und Semantik auf die Interpretation des Koran haben die Dogmatiker eine außerordentlich gefährliche Wissenschaftsrichtung geschaffen, die das arabisch-muslimische Bewußtsein bis heute gefangen hält: die Wissenschaft von den Grundlagen der Dogmatik . Was die Sache so besonders gefährlich macht, ist, daß sich im allgemeinen Bewußtsein der Muslime diese Wissenschaft inzwischen mit dem Heiligen Text so eng verknüpft hat, daß ein Einspruch dagegen oder eine Abweichung davon als Ketzerei und damit als todeswürdiges Verbrechen gilt.

So erstarrte der Heilige Text zu einem tauben Stein oder einem unverrückbaren Fels, und das Dogma von der buchstäblichen Gültigkeit des Textes und seiner Anwendbarkeit für alle Zeiten und an allen Orten wurde darauf gegründet, daß er „eindeutig belegt und erhärtet“ sei, ohne Rücksicht darauf, ob zwischen dem Text einerseits und den aktuellen Problemen und der neuen Lage andererseits ein Spannungsverhältnis besteht, ja ohne Rücksicht darauf, ob der Text in seiner wörtlichen Auslegung eine Lösung bietet für die aktuellen Probleme und eine Antwort auf die neue Lage, oder ob dies nicht vielmehr zu deren Verwicklung und Verschärfung beiträgt.

Grundlage hierfür ist die Methode, vom Buchstaben des Textes auszugehen, die formal sprachlogische Methode, im Gegensatz zur Methode, die sich um die Erfassung des Inhalts bemüht und sich der gedanklich-inhaltlichen Logik bedient. Der bekannte Dogmatiker Ibn Hasm hat die Grundregel der Dogmatik in folgenden Worten dargestellt: „Was zum Zeitpunkt, als der Prophet starb (der Segen Gottes sei mit ihm und sein Friede) erlaubt war, bleibt erlaubt bis in alle Ewigkeit, und was zum Zeitpunkt, als der Prophet starb (der Segen Gottes sei mit ihm und sein Friede) verboten war, kann bis in alle Ewigkeit nicht erlaubt sein.“ (Aus: „Umfassender Abriß der Glaubensgrundsätze“ von Ibn Hasm Al-Andalûsi).

Die Wissenschaft von den Grundlagen der Dogmatik entwickelte sich vor dem Hintergrund einer tiefgreifenden gesellschaftlichen Veränderung, die sich im arabisch-islamischen Staatsgebiet vollzogen hatte: Einfache arabische Hirtenstämme hatten ein Feudalreich geschaffen mit blühendem Handel, das zentral regiert wurde von einem religiösen Oberhaupt (Imam). Damit tat sich eine weite Kluft auf zwischen den versteinerten Texten und der spannungsgeladenen neuen Situation. Dies führte zu zahlreichen Versuchen, eine Antwort darauf zu geben, und so entstanden die verschiedensten Sekten, Schulen und philosophischen Richtungen, die sich darum bemühten, eine Lösung für die Probleme der Zeit zu finden, ohne sich dem gefährlichen Vorwurf der Ketzerei auszusetzen.

Zu den Sekten oder religiösen Bewegungen, die sich damals innerhalb des Islam neu bildeten, gehörten vor allem auch die sufischen Bruderschaften , auf die wir uns in unserer Darstellung im Folgenden beschränken wollen, da aus ihrer Mitte Mahmud Mohammed Taha hervorgegangen ist. Festzuhalten ist jedoch ganz allgemein, daß alle Gruppen, die eine Lösung für die anstehenden Probleme suchten, nicht deren Verbindung erkannten mit dem Problem der Erstarrung des Textes, da sie denselben unbefragt aus den Händen der Dogmatiker übernahmen.

Nach der sufischen Lehre von der Gotteserkenntnis belehrt Gott das Menschengeschlecht und erleuchtet es hinsichtlich des Guten und des Bösen, und Gott begnadet einen Menschen mit der Gabe der Erleuchtung in dem Maße, wie dessen Frömmigkeit wächst, denn er hat gesprochen: „Und fürchtet Gott, denn Gott ist es, der euch lehrt, und Gott weiß alle Dinge.“ (Sure 2 „Die Kuh“, Vers 282, Ende). Wer den Weg der göttlichen Erkenntnis sucht, ist nach Auffassung der Sufis dazu verurteilt, sich zu verirren, wenn er keinen Scheich (religiösen Führer) hat, der ihm auf diesem Weg vorausgegangen ist im Vertrauen auf seinen Glauben.

Bei den Sufis ist das Prophetentum und die Botschaft ein Maßstab für den Grad der Frömmigkeit, d.h. diese hat beim Propheten eine Stufe erreicht, wo er sein Wissen von Gott selbst empfängt, ohne Vermittler und ohne Scheich. Und so verkündet der Prophet dieses Wissen als Offenbarung, die er von seinem Herrn empfangen hat. Theoretisch steht die Möglichkeit, sein Wissen unmittelbar vom Herrn zu empfangen, jedem Menschen offen, aber nur eine kleine Minderheit von Menschen kann einen solchen Grad der Vollkommenheit erreichen. Wenn ein Sufi mit Hilfe seines Scheichs den Weg der Frömmigkeit beschritten und, dessen Vorbild folgend, die Erkenntnisstufe des Scheichs erreicht hat, kann er diesen an Frömmigkeit übertreffen und so die Stufe der Heiligkeit erlangen, aufgrund derer es ihm möglich wird, sein Wissen von Gott selbst zu empfangen. Das heißt, der Mensch, der bis dahin seinem Scheich gefolgt ist, verwandelt sich in einen vollkommenen Menschen, der keinen Vermittler braucht, denn an diesem Punkt lüftet sich der Schleier zwischen ihm und seinem Schöpfer, und so kann er die Absicht Gottes erkennen und das, was dieser mit seiner Schöpfung vorhat.

Wenn ein geoffenbarter heiliger Text vorliegt, und ein Schriftgelehrter kommt und behauptet, dieser hätte die Bedeutung, die sich aus der Bedeutung seiner Vokabeln erschließen läßt, wird ihm der Heilige antworten, ihm sei der Sinn des Textes von dessen Urheber selbst anvertraut worden, das heißt von Gott, der den Text geoffenbart hat. So hat jeder geoffenbarte Text für die Sufis eine äußerliche Bedeutung, die man durch die sprachliche Analyse erschließen kann, aber er hat auch einen verborgenen göttlichen Sinn, der nur den Heiligen zugänglich ist und den nur diese vermitteln können. Auf diese Weise fanden die Sufis eine Möglichkeit, das Problem der Erstarrung der Texte zu umgehen, ohne unmittelbar mit den Dogmatikern in Konflikt zu geraten. Wenn also ein neues Problem auftauchte, für das der Text wegen seiner Erstarrung keine Lösungsmöglichkeit bot, verkündete der Heilige den tieferen Sinn, der die Spannung zwischen dem Text und der neuen Realität auflöst, und in der Mehrzahl der Fälle stand diese Lösung in völligem Widerspruch zu den von den Dogmatikern vertretenen Interpretationen.

Mahmud Mohammed Taha folgte von Anfang an dem Weg der Sufis, da er erkannt hatte, daß sich in dem von den Dogmatikern angebotenen Analysen keine Erklärungen oder Lösungsmöglichkeiten für die Probleme der Muslime im XX.Jahrhundert finden ließen. Es waren andere Denkrichtungen aufgetreten, die, wie der Liberalismus und der Sozialismus, ihre Lösungen für die Wirtschaftsprobleme anboten, und es waren Bedingungen entstanden, unter denen die Befreiung der Frau zur Notwendigkeit wurde und für sie die Möglichkeit verlangten, außer Haus und zur Arbeit gehen zu können. Es waren politische Herrschaftsformen entstanden wie die freiheitliche Demokratie, die eine neue Antwort gaben auf das Problem der politischen Macht, und das menschliche Bewußtsein hatte einen Stand erreicht, wo es sich mit den meisten Vorschriften der muslimischen Dogmatiker nicht mehr abfinden konnte. Das betraf vor allem die Fragen von Krieg und Frieden, die Rechte der Nicht-Muslime und der Minderheiten, die internationalen Beziehungen und die Menschenrechte und Grundfreiheiten, wie sie in den internationalen Abkommen festgelegt sind.

Mahmud war der Überzeugung, daß der Sufi-Weg der vorbildliche Weg sei, auf dem man die Erstarrung der Texte überwinden könne. Bestärkt wurde er im Glauben an diese Möglichkeit durch die Tatsache, daß die überwiegende Mehrheit der sudanesischen Muslime den Islam auf dem sufischen Weg der Toleranz kennengelernt und angenommen haben, weshalb ihm der Sudan ein fruchtbarer Boden zu sein schien, der aufgeschlossen ist für das Neue und damit für das, was Mahmud als zeitgemäße Lösungen für die heutigen Probleme erkannte.

Wie es der sufische Weg vorschreibt, wählte sich Mahmud einen Scheich, der ihn auf den rechten Pfad leiten sollte, und zwar wählte er sich dazu den Propheten Mohammed selbst, womit er sich und die ihm anvertrauten Schüler darauf verpflichtete, dessen Vorbild nachzufolgen. Über mehrere Jahre lebte Mahmud in der Zurückgezogenheit und bemühte sich, den Weg der Frömmigkeit seines Scheichs, des Propheten Mohammed, zu gehen, in der Hoffnung, Gott möge ihn erleuchten und ihm einen neuen Sinn der heiligen Texte erschließen, der das Heil enthält, womit sich den Problemen des Menschengeschlechts begegnen ließe. Es gelang Mahmud in der Tat, zu einer originellen, wenn auch verwickelten, Lösung zu finden, um dem Sinn der erstarrten Texte beizukommen.

Ich glaube, Mahmud hielt es nicht für zweckdienlich, zu verkünden, daß er die Stufe der Heiligkeit erreicht habe, weil er von Hause aus Ingenieur war, der die modernen Naturwissenschaften an einem modernen Institut studiert hatte, während er zugleich Zeuge wurde, wie der Fundamentalismus entstand und an Einfluß gewann, der die Wissenschaft von den Grundlagen der Dogmatik zum obersten Maßstab für die Fragen des Glaubens und der Rechtsprechung erhob. Das machte es ihm äußerst schwer, zu erklären, daß sich ihm mit Hilfe seines Schöpfers ein neuer Sinn der Texte erschlossen habe., und so bemühte er sich nach allen Kräften, eine Lösung zu finden, die es ihm ermöglichte, sich den heiligen Texten auf dem Weg der Sufis zu nähern, ohne besagten Schritt zu tun. Er fand, was er suchte, durch Hinweise aus der Sufi-Literatur, insbesondere in den Werken des andalusisch-arabischen Mystikers Ibn Arabi (1165-1240), die, ausgehend von den Widersprüchen im koranischen Text, die Aussage des Korans bekräftigten, daß die Festen im Wissen – und fest im Wissen ist nur der Fromme – die wahre Bedeutung des Korans erkennen.

Mahmud war aufgefallen, daß die mekkanischen Suren, d.h. die Suren, die Mohammed vor der Hidschra, der Auswanderung nach Medina, geoffenbart worden waren, in ihrer Problemstellung und -lösung sich von den medinensischen Suren tiefgreifend unterscheiden. Ganz allgemein, so stellte er fest, geht es in den mekkanischen Suren darum, die göttliche Botschaft zu verbreiten vermittelst der Überzeugungskraft des Wortes, durch einen vom Geist der Toleranz geprägten Dialog, gegründet auf dem Respekt vor dem Anderen und der Ächtung von Gewalt. Diese Tugenden werden aber in eben den Versen verkündet, von denen die Dogmatiker behaupten, daß sie von späteren Versen abrogiert (aufgehoben) worden seien. Der Unterschied zwischen den mekkanischen und den medinensischen Suren erschien Mahmud als so gewaltig, daß er zu der Überzeugung gelangte, der Islam enthalte in seinem heiligen Buch zwei Botschaften in einer, die beide „eindeutig belegt und erhärtet“ seien. 

Damit schien sich ihm eine außergewöhnliche Möglichkeit aufzutun, die Dogmatiker mit ihrer eigenen Waffe zu schlagen, der Waffe des Textes und seiner sprachlichen Auslegung, ohne daß er dabei hätte aufdecken müssen, daß er zu diesem neuen Verständnis des Textes auf dem Weg der Gotteserkenntnis gelangt sei. So blieb sein Ausgangspunkt der der Sufis, die Lösung dagegen war orthodox, d.h. dem heiligen Text verpflichtet. Mahmud stellte seine Thesen vor in seinem Buch: „Die zweite Botschaft des Islam“, worin er darlegte, daß im Islam zwei Botschaften enthalten seien. Die erste Botschaft sei den Zeitgenossen des Propheten verkündet worden unter Berücksichtigung ihres Bewußtseinsstandes, ihrer Bedürfnisse und ihrer Fähigkeiten. Die zweite Botschaft, die im heiligen Buch enthalten ist, richte sich an spätere Generationen, d.h. die Generation unserer Zeit, da sie deren Bewußtseinsstand widerspiegelt, Antwort gibt auf deren Probleme und deren Fähigkeiten berücksichtigt.

Auf diese Weise entwarf Mahmud ein weitgehend umfassendes islamisches Weltbild, das dem traditionellen Weltbild der Orthodoxie diametral entgegengesetzt war, sich aber dennoch voll und ganz auf die heiligen Texte stützen konnte. Es war ein Weltbild, das alles in allem den Islam als zeitgemäße, menschliche und fortschrittliche Religion darstellt, eine Religion, die die Gleichberechtigung der Menschen fordert, die den Krieg verurteilt und zum Frieden aufruft. Hier soll anhand von ein paar Grundproblemen das Weltbild Mahmuds und die Methode seiner Schule dargestellt, und, anhand der Art und Weise, wie die Fundamentalisten diese Probleme behandeln, der Gegensatz aufgezeigt werden, in dem beide Schulen zueinander stehen.

Erstes Problem: Der Umgang mit den Anderen, das heißt mit den Nicht-Muslimen. Mahmud stellte fest, daß nach Ansicht der Dogmatiker dieses Problem in den (dem Zeitpunkt der Offenbarung nach) letzten Suren, vielleicht sogar der allerletzten Sure geregelt sei, derjenigen mit dem Titel „Die Reue“ (Sure 9). Nach ihrer Auffasung wären durch diese, eben deshalb, weil sie die letzte sei, alle in vorhergehenden Suren enthaltenen Bestimmungen abrogiert (widerrufen) worden. Besagte Sure stellt zwei Prinzipien auf, wovon das eine die Götzendiener betrifft, d.h. diejenigen, die kein heiliges Buch der Offenbarung besitzen. Auf sie bezüglich heißt es in der Sure „Die Reue“ im Vers 5: „Sind aber die heiligen Monate verflossen, so erschlagt die Götzendiener, wo ihr sie findet, und packt sie und belagert sie und lauert ihnen überall auf. Wenn sie sich jedoch bekehren und das Gebet verrichten und die Armensteuer zahlen, so laßt sie ihres Weges ziehen! Gott ist verzeihend und barmherzig.“

Bezüglich der Inhaber der geoffenbarten Schriften, der Juden und der Christen, heißt es hingegen in dieser Sure im Vers 29: „Kämpft wider jene von denen, welchen die Schrift gegeben ward, die nicht an Gott glauben und an den Jüngsten Tag, und die nicht verbieten, was Gott und sein Gesandter verboten haben, und nicht bekennen das Bekenntnis der Wahrheit, bis sie demütig die Kopfsteuer zahlen.“ Das bedeutet, daß für die Götzendiener zwei Möglichkeiten zur Wahl stehen, entweder die Bekehrung zum Islam oder der Tod, wogegen die Inhaber der Schrift zwischen drei Möglichkeiten wählen können: der Bekehrung zum Islam, der Kopfsteuer oder dem Schwert.

Nach Ansicht von Mahmud gehören diese Bestimmungen zur ersten Botschaft des Islam. Dagegen gelten gemäß der zweiten Botschaft, die für unsere Zeit bestimmt ist, folgende Verse:
Der Vers 29 aus der Sure „Die Höhle“ (Sure 18): „Und sprich: Die Wahrheit ist von eurem Herrn, und wer will, der glaube, und wer will, der glaube nicht.“
Der Vers 99 aus der Sure „Jonas“ (Sure 10): „Und wenn dein Herr gewollt hätte, so würden alle auf der Erde insgesamt gläubig werden. Willst du etwa die Leute zwingen, gläubig zu werden?“
Der Vers 34 aus der Sure „Die Anbetung“ (Sure 41): „Und nicht gleich ist das Gute und das Böse. Wehre das Böse ab mit dem Besseren, und siehe, der, zwischen dem und dir Feindschaft war, wird dir sein wie ein herzlicher Freund.“
Der Vers 126 der Sure „Die Bienen“ (Sure 16): „Lade ein zum Weg des Herrn mit Weisheit und schöner Ermahnung und streite mit ihnen in bester Weise. Siehe, dein Herr weiß am besten, wer von seinem Wege abgeirrt ist, und er kennet am besten die Rechtgeleiteten.“

Was nun die Probleme der Wirtschaft anbelangt, so ist die Textstelle, die das Maximum dessen festlegt, was vom Geld eines Muslims einbehalten werden darf, und deren wörtliche Befolgung die Fundamentalisten fordern, nach Ansicht Mahmuds mit den Pflichten und Erfordernissen eines modernen Staates nicht zu vereinbaren, ja es sei zu bezweifeln, ob der Staat überhaupt das Recht hat, den einzelnen Muslim dazu zu zwingen, dieses Geld zu bezahlen, denn im islamischen Verständnis handelt es sich hier um eine religiöse Pflicht, nämlich um die Armenabgabe (Zakat). Folgendermaßen lautet die betreffende Bestimmung des Koran: „Von ihren Gütern nimm Almosen, mit welchen du sie reinigest und sühnest. Und bete über sie!“ (Sure 9 „Die Reue“, Vers 103). Aufgrund der Aussprüche des Propheten ist dann die Höhe dieses Almosens zur „Reinigung“ des Besitzes von der Sünde der Begehrlichkeit, die „Zakat“, festgelegt worden, und zwar stimmten die meisten überlieferten Aussprüche darin überein, daß die Abgabe etwa 2,5% des Vermögens betragen solle, das man ein Jahr lang in Besitz gehabt hat. Eine solche Regelung ist angemessen für eine Zeit, wo das Vieh, das Saatgut und die Bodenschätze den Hauptanteil der vorhandenen Vermögen ausmachten.

Die Ironie der Geschichte wollte es, daß es den Fundamentalisten 1984 gelang, den sudane-sischen Staatschef Numeiri davon zu überzeugen, daß er alle Arten der modernen Steuern, die 65% des Staatseinkommens ausmachten, abschaffen und durch die Armensteuer ersetzen müsse. Und in Null Komma Nichts war die Staatskasse leer, sodaß nicht einmal mehr die Beamtengehälter ausgezahlt werden konnten. Das geschah in einem Entwicklungsland und in einem Staat, der verantwortlich war für die Besoldung der bewaffneten Streitkräfte, der Beamten, des Staatssicherheitsdienstes und für die Aufrechterhaltung der Infrastruktur. Mahmud Mohammed Taha hatte schon in den fünfziger Jahren auf dieses Problem hingewiesen und dazu erklärt, daß der Vers, der die Bestimmung über die Armensteuer (Zakat) enthält, zur ersten Botschaft des Islam gehöre, d.h. eine Zeit betrifft, in der der Staat seine Ausgaben durch Kriegsbeute, Grundsteuer und Kopfsteuer bestreiten konnte.

Dagegen lautet der Vers der zweiten Botschaft, den es in der heutigen Zeit zu befolgen gilt: „Sie werden dich fragen, was man spenden soll. Sprich: Den Überschuß.“ (Sure 2 „Die Kuh“, Vers 219). Mit dem Überschuß ist all das gemeint, was über die Grundbedürfnisse des Menschen hinausgeht. Auf diesen Text stützte sich Mahmud, als er sagte, daß die zweite Botschaft des Islam hinsichtlich der Wirtschaftsordnung eine sozialistische Botschaft sei.

Eines der wichtigsten Probleme, das Mahmud aufgriff, war das der Frau und die Rolle, die ihr in der Gesellschaft von den Fundamentalisten zugewiesen wird, indem sie behaupten, die diesbezüglichen Textstellen seien für alle Ewigkeit gültig und insofern zu jeder Zeit und an jedem Ort anzuwenden. Hier ein paar Beispiele für solche Bestimmungen. Ausgangspunkt der Fundamentalisten ist der Ausspruch des Propheten: „Den Frauen mangelt es an Verstand und Religion.“ Deshalb gilt: „Die Männer stehen über den Frauen aufgrund dessen, was Gott den einen vor den anderen gewährt hat, und weil sie mit ihrem Geld für diese sorgen. “ (Sure 4 „Die Weiber“, Vers 34). Ein weiteres Zeugnis über die Frau findet sich im von Ibn Masud überlieferten Ausspruch des Propheten: „Die Frau ist voller Schwäche, und wenn sie aus dem Haus geht, macht sich der Teufel an sie heran. Sie ist der Gnade Gottes am nächsten, wenn sie im Innersten des Hauses verweilt.“

Deshalb ist für die Fundamentalisten das Haus der Ort, an den die Frau hingehört, und so hat sie kein Recht auf Arbeit außer Hauses und kein Recht überhaupt, die Wohnung zu verlassen. „Und sitzet still in euren Häusern und putzt euch nicht heraus wie in den früheren Zeiten der Unwissenheit.“ (Sure 33 „Die Verbündeten“, Vers 33). Der Frau ist auch auferlegt, einen Schleier oder ein verhüllendes Tuch zu tragen: „Du, o Prophet, sprich zu deinen Frauen, zu deinen Töchtern und den Weibern der Gläubigen, sie sollen senken auf sich ein Teil von ihren Überwürfen. So ist’s geschickter, daß man sie erkenne, doch nicht kränke.“ (Sure 33 „Die Verbündten“, Vers 59).

Die Frau gilt aufgrund der betreffenden Koranverse im Verständnis der Fundamentalisten soviel als ein halber Mann, beim Heiraten soviel als ein Viertel von ihm, da der Mann das Recht hat, vier Frauen zu heiraten, wogegen sie gesteinigt wird, wenn sie sich mit mehr als einem Mann einläßt. Bei der Scheidung gilt sie soviel als ein Drittel eines Mannes, denn er kann sie verstoßen und sie sich dann wieder holen, sie nochmals verstoßen und nochmals wieder holen, und das ganz nach eigenem Gutdünken. Schließlich und letztlich kann er sie dann noch ein drittes Mal verstoßen. Als Zeugin gilt sie soviel als ein halber Mann im Personenstandsrecht, aber in Mordsachen und anderen Delikten, die mit den Hadd-Strafen belegt werden – Diebstahl und Ehebruch – ist es ihr ganz verwehrt, als Zeugin aufzutreten.

So hat sie denn auch kein Recht, über andere zu bestimmen und entsprechend kein Recht, ein politisches oder richterliches Amt auszuüben. Das heißt, der Mann, insofern er als der Frau überlegen gilt, hat das Recht, diese zu züchtigen: „Und diejenigen, deren Widerspenstigkeit ihr fürchtet, verbannt sie in ihre Schlafstätten und schlagt sie. Und wenn sie euch dann gehorchen, verfolgt sie nicht weiter.“ (Sure 4 „Die Weiber“, Vers 34).

Mahmud überprüfte diese und andere Bestimmungen bezüglich der Frau und kam zu dem Schluß, daß sie alle der ersten Botschaft zugehören. Der zweiten Botschaft nach ist die Frau in jeder Hinsicht dem Mann gegenüber gleichberechtigt, und dieses Urteil gründet sich auf zwei ursprüngliche Textstellen des Koran. Die erste lautet: „Sie haben gleiche Rechte entsprechend ihren Pflichten, wie es sich geziemt.“ (Sure 2 „Die Kuh“, Vers 228). Mahmud zufolge ist der Rest des Verses entsprechend zu ändern, um den veränderten Beziehungen zwischen Mann und Frau im Sinne der Gleichberechtigung gerecht zu werden.

Bei einer zweiten Gruppe von Textstellen geht es nach Meinung von Mahmud um die Gleichheit aller Menschen überhaupt, ungeachtet des Geschlechts oder des Glaubens oder der Religion. Dagegen halten im Sinne der ersten Botschaft die Dogmatiker daran fest, daß im Islam die Menschen ungleich zu behandeln seien, und zwar ausgehend von ihrer gesellschaftlichen Stellung als Freie oder Sklaven. In ihrer Sicht ist der Sklave, ob Mann oder Frau, dem Freien nicht gleichwertig, vielmehr ist er eine Sache und ein Handelsartikel. Der Freie hat das Recht, soviel Sklavinnen zu besitzen, wie er will, und kraft seines Besitzverhältnisses ist ihm erlaubt, mit einer Sklavin Geschlechtsverkehr zu haben, wann er will, ohne die Pflicht, sie zu heiraten. „Und so ihr fürchtet, nicht Gerechtigkeit gegen die Waisen zu üben, so nehmt euch zu Weibern, was euch gutdünkt, zwei, drei oder vier. Und so ihr fürchtet, nicht allen gerecht werden zu können, so nehmt euch nur eine oder was eure Rechte besitzt.“ (Sure 4 „Die Weiber“, Vers 3). Indem die Sklaven als Besitz betrachtet wurden, konnten sie auch als Sühnegeld eingesetzt werden, wenn es darum ging, bestimmte gesellschaftliche Zwecke zu erreichen: „Wer einen Gläubigen tötet unvorsätzlich, des Sühne sei Befreiung eines gläubigen Sklaven.“ (Sure 4 „Die Weiber“, Vers 94).

Zusammenfassend kann man sagen, daß die erste Botschaft des Islam, wie Mahmud feststellte, dem Menschen erlaubt, seine Mitmenschen zu versklaven, sei es in Folge eines Überfalls oder einer Eroberung – im Rahmen des Jihad – oder durch den Kauf auf dem Sklavenmarkt. Die gefährlichste Diskriminierung, die die Fundamentalisten betreiben, wobei sie sie zu einer Sache des Glaubens machen, ist die Diskriminierung der Nicht-Muslime. Nicht nur ist der Nicht-Muslim dem Muslim nicht gleich, ein Muslim darf einen Nicht-Muslim demzufolge auch nicht zum Vorgesetzten haben, mit allen Konsequenzen, die sich daraus ergeben. Die Grundlage für diese Bestimmung findet sich, wie wir gesehen haben, im Auftrag an die Muslime: „Und bekämpft sie, damit die Zwietracht aufhört und nur noch Gott verehrt wird.“ (Sure 2 „Die Kuh“, Vers 193). Und sogar, wenn die Ungläubigen Väter und Brüder sind: „O ihr, die ihr glaubt, nehmt nicht eure Väter noch eure Brüder zu Verbündeten, wenn sie den Unglauben dem Glauben vorziehen.“ (Sure 9 „Die Reue“, Vers 23).

Natürlich gehört hierher auch die folgende Stelle: „O ihr, die ihr glaubt, nehmt nicht die Juden und Christen zu Verbündteten. Sie sind untereinander Verbündete. Und wer sich mit ihnen verbündet, wird zu einem der ihren.“ (Sure 5 „Der Tisch“, Vers 51). Gestützt auf diesen Vers hat Omar Bin Al-Chattab (der zweite Khalif) die Behandlung der Schriftbesitzer (Juden und Christen) festgelegt, und seine Bestimmungen werden von den Dogmatikern als heiliger Text behandelt. Es genügt, einige Stellen des Textes anzuführen: 
„Man soll mit den Schutzbefohlenen (Juden und Christen) an ihren Versammlungsorten nicht sprechen, sei es in ihren Kirchen oder Synagogen oder Klöstern, … und was davon zerstört wurde, soll nicht wiederaufgebaut werden. Und in ihren Kirchen sollen sie ihre Glocken nur leise läuten, und sie sollen darüber kein Kreuz anbringen. Und sie sollen sich bei ihren Festen nicht versammeln wie es die Muslime tun. Sie sollen für ihre Religion keine Mission treiben und zum Beitritt auffordern. Sie sollen in der Nachbarschaft von Muslimen keine Schweine mästen und keinen Alkohol verkaufen. Sie sollen sich nicht kleiden wie die Muslime, sich nicht gebärden wie diese und nicht wie sie sprechen. Sie sollen die Muslime in ihren Versammlungen achten, und sie sollen einen Muslim auf Reisen drei Tage lang beherbergen. Sie sollen zusammen mit einem Muslim kein Geschäft betreiben, es sei denn, der Muslim hat dabei die Geschäftsführung inne.“ (Ibn Al Qajim Djuseh: „Das Buch über die Schutzbefohlenen“).

Mahmud untersuchte diese Bestimmungen und stellte fest, daß sie alle zur ersten Botschaft des Islam gehörten. Er erklärte, daß die zweite Botschaft die völlige Gleichbehandlung der Menschen fordere und stützte sich dabei auf eine Reihe von Textstellen, worunter die wichtigste lautet:
„O ihr Menschen! Siehe, wir haben euch als Mann und Frau erschaffen und zu Völkern und Stämmen gemacht, damit ihr einander kennenlernt. Siehe, derjenige unter euch gilt bei Gott am meisten, der der Frömmste ist.“ (Sure 49 „Die Gemächer“, Vers 13).

Mahmud zufolge hebt dieser Vers die Diskriminierung zwischen den Menschen auf, da er nicht (wie die Verse der ersten Botschaft) speziell an die Gläubigen oder die Muslime gerichtet ist, sondern an „die Menschen“ ganz allgemein. Der Vers hebt ausdrücklich insbesondere die Diskriminierung aufgrund des Geschlechts – Mann und Frau – auf, und aufgrund der ethnischen Herkunft – Völker und Stämme -, desgleichen hebt er aber ebenfalls die Diskriminierung aufgrund der Hautfarbe oder der Religionszugehörigkeit auf. In diesem Zusammenhang läßt sich auch der Ausspruch des Propheten anführen: „Alle Menschen sind gleich wie die Zinken eines Kamms“.

Aus all dem Gesagten geht klar hervor, daß Mahmud die von den Dogmatikern entwickelte Theorie der Abrogation ablehnte.  Mahmud sagte, daß die Verse der zweiten Botschaft, die von den Dogmatikern für abrogiert erklärt worden sind, in Wahrheit die göttliche Weisheit enthalten, die für die Menschheit eine fortschrittliche, auf Toleranz begründete Ordnung vorzeichnet, welche, wenn die Zeit dafür reif ist, von der Menschheit verwirklicht werden wird.

Aber Mahmud blieb dem Prinzip verhaftet, vom Wortlaut des heiligen Textes auszugehen und ihn in seiner sprachlichen Bedeutung nach der Logik der Fundamentalisten zu behandeln, womit er sich der Logik bzw. der Denkmethode verschloß, die dem koranischen Denken eigentümlich, aber nicht in seiner rein sprachlichen Form zu finden ist. Das hat bei ihm zu gefährlichen Verwirrungen geführt, so daß es ihm beispielsweise nicht gelungen ist, die Theorie der Abrogation zu überwinden, welche aus dem koranischen Vers abgeleitet wird: „Wenn wir einen Vers aufheben oder in Vergessenheit bringen, so ersetzen wir ihn durch einen besseren oder einen, der ihm gleich ist.“ (Sure 2 „Die Kuh“, Vers 106). So blieb es Mahmud beispielsweise bis zuletzt, bis hin zu seinem Märtyrertod, versagt, auf dem Weg der frommen Versenkung eine koranische Textstelle zu finden, die er denjenigen Koranversen hätte entgegensetzen können, in welchen solche Strafen für Kriminaldelikte festgelegt worden sind, wie sie in der heutigen Zeit nicht mehr akzeptabel sind, vielmehr von den internationalen Menschenrechtsabkommen, allen voran der Menschenrechtscharta der Vereinten Nationen, sogar entschieden verurteilt werden.

Die Rede ist von den sogenannten Hadd-Strafen, d.h. Strafen wie dem Auspeitschen, dem Abschneiden der rechten Hand oder der kreuzweisen Amputation (Abschneiden der rechten Hand und des linken Fußes), der Steinigung und der Kreuzigung. Mahmud verabscheute alle diese Strafen und fühlte sich gedrängt, zu erklären, daß man solange nicht daran denken könne, solche Strafen anzuwenden, wie nicht eine islamische Gesellschaft auf der Grundlage und nach den Bestimmungen der zweiten Botschaft des Islam entstanden sei. Wenn man das jetzt schon täte, sei das eine Schande für den Islam und säe Zwietracht unter den Menschen. 

Abschließend läßt sich sagen, daß Mahmud ein islamischer Denker war, der ganz aus seiner Zeit, aus der Mitte des XX.Jahrhunderts heraus lebte, und der seine ganzen Kräfte daran setzte, den Islam als Religion zu verkünden, die sich auf der Höhe der Zeit befindet und deren Zeichen und Prinzipien Ausdruck gibt. An erster Stelle stand für ihn die Gleichberechtigung aller Menschen und die Verurteilung der Kriege als Mittel der Austragung von Differenzen. An deren Stelle sollte die Duldsamkeit gegenüber dem Anderen treten und der Dialog mit ihm im Geist der Toleranz und des guten Willens. Eine Religion, die die Menschheit nicht an ihrer Entwicklung hindert oder daran, sich für ein wirtschaftliches oder politisches System zu entscheiden, das geeignet ist, Gerechtigkeit und Gleichberechtigung zwischen den Menschen und die Demokratie zu verwirklichen.

Deshalb trat er mit Entschiedenheit der fundamentalistischen Offensive entgegen, die der sudanesische Staatschef Numeiri einleitete, als er im September 1983 im Sudan die Scharia in ihrer fundamentalistischen Form einführte. Er verbreitete ein mutiges Flugblatt, in dem er die betreffenden Gesetze kritisierte und sie als eine Verunglimpfung der Scharia und als eine Schändung des Islam verurteilte und voraussagte, daß sie das sudanesische Volk in religiöse und ethnische Konflikte treiben, das Feuer des Bürgerkriegs schüren und dadurch die nationale Einheit des Sudan zerstören würden. In dieser Flugblattaktion sahen die Fundamentalisten eine günstige Gelegenheit, sich Mahmuds und der von ihm verbreiteten Gedanken zu entledigen.

Sie betrieben seine Verhaftung aufgrund einer richterlichen Verfügung, die juristisch auf äußerst schwachen Füßen stand. Man ging dabei aus von einem Tatbestand, der im fundamentalistischen Sinne ein Kapitalverbrechen darstellt und sich auf den Ausspruch des Propheten gründet: „Wer seinen Glauben wechselt, den tötet.“ Dabei stützten sie die Anklage der Abtrünnigkeit auf eine Regel, die ursprünglich eine sprachliche Regel, aber von den Dogmatikern zu einer Glaubensregel erhoben worden war, wonach einer, der etwas leugnet, von dem er weiß, daß es unabdingbar zum Glauben gehört, als ketzerischer Ungläubiger zu behandeln ist. Wenn also Mahmud die Pflicht zur Anwendung von Gottes Scharia leugnete, mußte man ihn als vom Islam Abtrünnigen betrachten. Er wurde zum Tode verurteilt und am 18.Januar 1985 hingerichtet. Und so starb Mahmud als Blutzeuge jener heiligen Texte, mit deren Hilfe er versucht hatte, die fundamentalistische Gedankenwelt zu durchbrechen.

(Übersetzung aus dem Arabischen von Peter-Anton von Arnim)
 

Zur Ergänzung dieses Artikels: 

Erklärung von Mahmud Mohammed Taha am 14.Januar 1985 (vier Tage vor seiner Hinrichtung) zu dem gegen ihn wegen Ketzerei eingeleiteten Gerichtsverfahren, an dem teilzunehmen er sich weigerte:

„Ich habe zu wiederholten Malen meine Meinung zu den Septembergesetzen von 1983 erklärt , und zwar, daß sie im Widerspruch stehen zur Scharia und zum Islam, ja noch schlimmer, daß sie die Scharia und den Islam verunglimpfen und zum Schreckbild werden lassen, darüberhinaus, daß sie geschaffen und dazu eingesetzt worden sind, das Volk zu terrorisieren und es auf dem Weg der Demütigung zum Schweigen zu bringen, und schließlich, daß sie die Einheit des Landes in Gefahr bringen. Soweit, was ihren theoretischen Aspekt betrifft.

Was nun ihre Anwendung anlangt, so fehlt den Richtern, die unter diesen Gesetzen ihre Richterstühle eingenommen haben, die berufliche Qualifikation, und sie sind moralisch so schwach, daß sie sich dem Einfluß der Exekutivgewalt nicht zu entziehen vermögen, die sie dazu gebraucht, die Grundrechte mit Füßen zu treten und den Islam zu verunglimpfen und das Volk zu demütigen und den freien Gedanken und die Denker zu verhöhnen.

Aus diesem Grunde bin ich nicht bereit, mit einem Gericht zusammenzuarbeiten, das die Freiheit unabhängiger Richter verleugnet , und das sich dazu hergibt, ein Instrument zu sein zur Demütigung des Volkes und zur Verhöhnung des freien Gedankens und zur Fesselung der politischen Opposition.“

(Aus dem Arabischen von Peter-Anton von Arnim)
 
 

Lebenslauf von Mahmud Mohammed Taha
Peter-Anton von Arnim

Mahmud Mohammed Taha wurde 1909 in der Ortschaft Rufa’a am Ostufer des Blauen Nils im mittleren Sudan geboren. 1936 schloß er seine Ausbildung am Gordon Memorial College (dem Institut, aus dem die Universität Khartoum hervorgegangen ist) als Bewässerungsingenieur ab und arbeitete fünf Jahre als Angestellter der Eisenbahngesellschaft Sudan Railways. Am 26.10.1945 gründete er zusammen mit einigen anderen Intellektuellen die Republikanische Partei. Sie trat ein für einen von Ägypten unabhängigen, einheitlichen Nationalstaat mit einem demokratischen, republikanischen Regierungssystem. Wegen antikolonialistischer Agitation wurde Mahmud von den Briten drei Jahre lang, von 1946-1948 ins Gefängnis gebracht. Das war die Zeit, in der er sich intensiv der islamischen Mystik (dem Sufismus) zuwandte und sich ganz dem Gebet, dem Fasten und der Meditation widmete.

Diese Beschäftigung mit der Mystik setzte er nach seiner Entlassung fort, indem er sich an seinen Heimatort Rufa’a zurückzog und dort weitere drei Jahre in selbstgewählter, religiös bestimmter Absonderung lebte. Mit den in dieser Zeit gewonnenen Einsichten trat er 1951 vor seine Anhängerschaft und gab der Partei eine neue Ausrichtung als religiös-politische Erneuerungsbewegung. Mahmud entfaltete in den folgenden Jahren eine rege literarische Tätigkeit mit Stellungnahmen zu theologischen Fragen und zur politischen Entwicklung im Sudan. Insbesondere wandte er sich gegen die Absichten der traditionellen Parteien, eine an der orthodoxen Scharia orientierte angeblich islamische Staatsordnung zu schaffen und erklärte, der vorgelegte Verfassungsentwurf sei weder demokratisch noch islamisch, da er Frauen und Nicht-Muslime diskriminiere.

1966 und 1967 erschienen seine Hauptschriften, „Der Weg Mohammeds“ und „Die zweite Botschaft des Islam“. Ein Jahr danach, im November 1968, wurde er auf Betreiben eines Fundamentalisten von dem Obersten Scharia-Gerichtshof in Khartoum zum ersten Mal der Apostasie angeklagt und für schuldig befunden. Er hatte sich geweigert, vor Gericht zu erscheinen, mit der Begründung, es gebe im geltenden Recht keine gesetzliche Bestimmung, die Apostasie unter Strafe stelle, überhaupt aber unterlägen für ihn Glaubensfragen grundsätzlich nicht der Justiz. Das Urteil hatte zunächst keine unmittelbaren Folgen.

Die Bemühungen der beiden großen traditionalistisch-sektiererischen Parteien, insbesondere der Umma-Partei unter Führung Sadiq el Mahdis, im Sudan eine islamische Verfassung einzuführen, die kurz vor dem Abschluß standen, wurden am 25.Mai 1969 vereitelt durch den Putsch einer mit linken Nationalisten verbündeten Gruppe nasseristisch gesonnener Offiziere unter Führung von Oberst Jaafar Mohammed Numeiri. Vom Parteienverbot des neuen Regimes war auch die Bewegung Mahmuds betroffen, die sich aber sowieso schon seit längerem nicht mehr als Partei verstanden hatte. Sie gab sich nunmehr den Namen „Republikanische Brüder“, setzte aber die Agitation für die Gedanken ihres „Ustadh“, ihres „Meisters“ Mahmud Mohammed Taha, in aller Öffentlichkeit fort. Die Republikanischen Brüder unterstützten Numeiri insoweit, als er die Einführung einer sogenannten islamischen Verfassung verhindert hatte, den Einfluß der Traditionalisten und Fundamentalisten zurückdrängte und darum bemüht war, die Einheit des durch einen Bürgerkrieg zerissenen Landes auf dem Verhandlungsweg wiederherzustellen.

Diese Haltung einer kritischen Unterstützung mußten sie fast über Nacht aufgeben, als im September 1983 Numeiri per Präsidialdekret ein eilig von ihm hörigen Juristen zusammengestoppeltes Strafgesetzbuch, das die im Koran vorgeschrieben Körperstrafen wie Auspeitschung, Amputation von Gliedmaßen, Kreuzigung und Steinigung einführte, aber sonst mit dem Koran nichts zu tun hatte, unter dem Etikett Scharia als Gesetz des Landes verkündete und sich selbst als Imam den Treueid schwören ließ. Mahmud Mohammed Taha und die Republikanischen Brüder organisierten den Widerstand, indem sie die Legitimität der Dekrete bestritten und sie als verwerflichen Mißbrauch des Islams verurteilten.

Ein Jahr in Isolationshaft ohne Gerichtsverfahren im Kober-Gefängnis von Khartoum konnte den Widerstandsgeist von Mahmud Mohammed Taha nicht brechen. Am 19.Dezember 1984 aus dem Gefängnis entlassen, brandmarkte er erneut auf einer Studentenversammlung und in einem Flugblatt mit dem Titel „Dieses – oder die Sintflut“ die von Numeiri als Scharia eingeführten Gesetze als Verhöhnung des Islam und Gefahr für die Einheit des Landes. Kurz darauf, am 5.1.1985 wurde er erneut verhaftet, und nunmehr wurde gegen ihn ein Verfahren wegen Verstoßes gegen das Gesetz über die Staatssicherheit eröffnet. In einem Schnellverfahren, das von Mahmud und seinen vier mitangeklagten Republikanischen Brüdern wegen Inkompetenz des Gerichts boykottiert wurde, wurde das Todesurteil verhängt.

Im Volk herrschte aber bereits eine spürbar so regierungsfeindliche Stimmung und das Urteil rief eine solche Empörung hervor, daß sich das Numeiri-Regime gezwungen sah, eine Revisionsverhandlung anzuberaumen, in der ein ganz neuer Anklagepunkt eingeführt wurde, nämlich die Anklage wegen Apostasie. Allerdings gab es auch in der neuen Gesetzgebung noch keinen Paragraphen, der Apostasie unter Strafe gestellt hätte . Man stützte sich deshalb auf einen Paragraphen aus dem Gesetz über die Grundlagen der Urteilsfindung, der dem des Strafgesetzbuches des Dritten Reiches über das gesunde Volksempfinden nachgebildet war: Danach war es ins freie Ermessen des Richters gestellt, zu bestimmen, was dem Geist der Scharia widerspricht und entsprechend strafbar ist, und die ihm angemessen scheinende Strafe festzusetzen.

Mahmud Mohamed Taha wurde, den Wünschen Numeiris folgend, am 15.Januar 1985 zum Tode verurteilt und drei Tage später, am 18.Januar 1985, hingerichtet. Seitdem wird der 18.Januar von der arabischen Organisation für Menschenrechte als jährlicher Gedenktag begangen.
 
 

Lebenslauf von Taha Ibrahim
Peter-Anton von Arnim 

Taha Ibrahim Mohammed Abdallah wurde in der Stadt Toker im Ostsudan geboren. 
Taha Ibrahim studierte Jura an der Khartoumer Zweigstelle der Kairoer Universität. Bereits in seiner Jugend war er politisch aktiv (Widerstand gegen Kolonialismus, gegen die Militärdiktatur Ibrahim Abbouds), weswegen er mehrmals inhaftiert wurde (insgesamt verbrachte er 1,5 Jahre im Gefängnis). Nach der Machtergreifung des Diktators Numeiri war er unermüdlich als Mitglied der Rechtsanwaltskammer und deren zeitweiliger Sekretär am Widerstandkampf gegen dessen Regime beteiligt. Dies brachte ihm wiederum mehrfache Verhaftungen ein (vier Jahre).
Als im Januar 1985 Mahmud Mohammed Taha vor Gericht gebracht und hingerichtet wurde, ging auch gegen Taha Ibrahim ein Haftbefehl aus wegen seiner Opposition gegen die von Numeiri im September 1983 verkündeten Scharia-Gesetze (die sogenannten September-Gesetze), und auch ihm drohte die Todesstrafe. Er konnte sich jedoch durch die Flucht über die östliche Grenze retten und kehrte erst nach dem Sturz Numeiris, am 13.4.1985, nach Khartoum zurück.

Er hat mehr als zwanzig größere Werke verfaßt, von denen die meisten noch nicht gedruckt worden sind, u. a. ein Buch über Numeiris Scharia-Gesetze (September-Gesetze). Nach dem Sturz Numeiris machten es die wiederhergestellten rechtsstaatlichen Verhältnisse möglich, daß Taha Ibrahim – im Namen seines vom Numeiri-Regime hingerichteten Freundes Mahmud Mohammed Taha und im Auftrag von dessen Tochter Asma – einen Prozeß gegen den sudanesischen Staat führte, worin er diesen auf die Herausgabe der vom Numeiri-Regime beschlagnahmten (bescheidenen) Besitztümer des Märtyrers und dessen Rehabilitierung verklagte; mit Erfolg.

Nach dem Militärputsch vom Juni 1989, gelang Taha Ibrahim erneut die Flucht ins Ausland. Er lebt jetzt im Exil in Kairo und arbeitet zur Zeit u.a. an einem Buch über die Ursprünge des Fundamentalismus und an einem über die dem Koran zugrundeliegende Denkmethode.

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