Katharina Mommsen: Goethe und der Islam


Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von
Peter-Anton von Arnim

Insel-Taschenbuch (it 2650)
ISBN 3-458-34350-4

Vorwort
Peter-Anton von Arnim
Goethes Verhältnis zum Islam gehört zu den erstaunlichsten Phänomenen in seinem Leben. Für die Religion der Muslime entwickelte er früh eine besondere Anteilnahme. Von seiner Verehrung für den Islam zeugt vor allem jenes Werk, das uns heute, neben dem Faust, als eines seiner wesentlichsten dichterischen Vermächtnisse gilt, der West-östliche Divan.

Seit Jahrzehnten hat sich Katharina Mommsen mit dem Einfluss des Islam auf Goethes Leben und Werk auseinandergesetzt und ist dabei oft zu überraschenden Ergebnissen gelangt, die dem Leser neue Perspektiven eröffnen. Ihre 1988 erschienene Gesamtdarstellung »Goethe und die arabische Welt« ist inzwischen zu einem Standardwerk der Goethe-Forschung geworden. Um speziell den islamischen Aspekt von Goethes Werken in den Vordergrund zu rücken, sind daraus für die vorliegende Taschenbuchausgabe bewusst diejenigen Kapitel ausgewählt worden, in welchen Katharina Mommsen zeigt, wie es Goethe unter der geistigen Führerschaft seines philosophischen Lehrmeisters Spinoza gelungen ist, sich in die Welt der islamischen Religion, Philosophie und Poesie hineinzufinden und dort geistverwandte Denker und Poeten für sich zu entdecken.

Diese Kapitel sind vom Herausgeber für die Taschenbuchausgabe unter Berücksichtigung der seit 1988 erschienenen deutschen und arabischen Literatur zum Thema Islam überarbeitet und erweitert worden. Dabei wird deutlich, dass Goethe auf seiner Entdeckungsreise durch den islamischen Orient mit treffsicherem Instinkt seine Aufmerksamkeit gerade auf diejenigen Themen gerichtet hat, welche noch heute die geistigen Auseinandersetzungen in der arabisch-islamischen Welt bestimmen: Kampf zwischen Tradition und Moderne, zwischen Orthodoxie und Ketzertum, zwischen einem erstarrten System von Glaubensartikeln und Rechtsnormen einerseits und dem Kampf um Geistesfreiheit andererseits, zwischen Fanatismus und Toleranz. So kann Goethe Nichtmuslimen und Muslimen zugleich bei ihren eigenen Entdeckungsreisen in die Welt des Islam behilflich sein.

Als ein Deutscher, der seiner Verbundenheit mit dem Islam mehrmals in den Worten Ausdruck verliehen hat: »Im Islam leben und sterben wir alle«, kann Goethe uns als seinen Landsleuten die universalen Aspekte dieser Religion aufzeigen und das weitverbreitete Vorurteil widerlegen, daß es sich hierbei um eine uns Deutschen völlig fremde Geisteswelt handle. Als ein Denker, der sich eingehend mit den Zeugnissen orientalischer Autoren aus der Blütezeit der islamischen Kultur auseinandergesetzt hat, kann Goethe den Muslimen unter uns einen neuen Zugang zu den Reichtümern ihres eigenen geistigen Erbes öffnen, das aus einer Zeit stammt, als die größten Geister des Orients unbefangen über Glaubensfragen nachdachten und sich frei darüber äußerten, ohne sich von staatlich bestallten Schriftauslegern und Gesetzeshütern in ihrem Denken und Tun einschüchtern zu lassen   
 
 
 
 

Nachwort
Goethe als Leitfigur eines deutschen Islam?

Unsere Seele entdeckt sich selbst, wenn wir mit einem großen Geist in Berührung kommen. Erst als ich die Unendlichkeit von Goethes Phantasiekraft begriffen hatte, entdeckte ich die Enge meiner eignen.
       Muhammad Iqbal: Stray Reflections (1910) 

Goethes eingehende Auseinandersetzung mit der Gedankenwelt des Islam führt uns in zwei Problembereiche hinein, die heute von größerer Aktualität sind denn je. Der eine betrifft das Verhältnis der Deutschen zu jenen über drei Millionen von Mitbürgern, welche sie, aufgrund ihrer von deutschen Traditionen abweichenden Religion, als „Ausländer“ oder „Fremde“ wahrnehmen und behandeln, und, in hintergründiger Weise, ihr Verhältnis zu Goethe selbst. Der zweite betrifft das Verhältnis der Muslime in aller Welt zu ihrer eigenen Religion und zu den Herrschern und geistlichen Würdenträgern, die im Namen des Islam politische Macht ausüben oder eine solche für sich beanspruchen. 

Wer sich vor Augen hält, daß Goethe während der Arbeit an einem seiner bedeutendsten Werke, dem West-Östlichen Divan, sich eingehend mit dem Islam befaßt, ja sich rundheraus zu ihm bekannt hat, wer sich dann vielleicht noch an den Hymnus aus des Dichters Jugendzeit mit dem Titel Mahomets Gesang erinnert, ein Preislied auf jenen Propheten, als dessen Verdienst Goethe erkannte, Millionen von Menschen zum Glauben an den einen Gott bekehrt zu haben, der wird sicher gern Näheres erfahren wollen über die Gründe für Goethes bemerkenswertes Interesse an dieser uns angeblich so fremden Religion. Wer dann aber auf den Einfall käme, in der einschlägigen Goethe-Literatur nach dem Stichwort Islam zu suchen oder gar nach dem Stichwort Koran, dem erginge es wie einem, der ausgezogen ist, im Trockenen zu fischen. In den meisten Goethe-Biographien werden die beiden Begriffe Islam und Koran so sorgfältig umgangen, als handle es sich um die Erwähnung des Gottseibeiuns. Gewiß, es gab einige redliche Forscher – beispielhaft seien genannt Konrad Burdach mit seiner Arbeit über Faust und Moses (1912), oder Ernst Beutler mit seiner kommentierten Ausgabe des Goetheschen Divan (1943) – die den deutlichen Spuren, welche jüdischer und islamischer Montheismus in Goethes Werk hinterlassen haben, gewissenhaft nachgegangen sind. Die herrschende Tendenz in der deutschen Literaturwissenschaft, besonders seit Bismarcks Reichsgründung, war jedoch darauf ausgerichtet, Goethe zu einem deutschen Nationaldichter zurechtzustutzen und ihn zum Künder eines ‚deutschen Wesens‘ oder des ‚Faustischen‘, was immer das heißen mag, zu verklären. Der ’semitische‘ Orient blieb ausgespart; wenn es hochkam, fanden die ‚arischen‘ Perser mit dem Dichter Hafis Erwähnung; Goethes höchste Bewunderung und Achtung für die Juden als das Volk, welches die Bibel, und für die Araber als das Volk, welches den Koran hervorgebracht haben, blieben weitgehend unerwähnt. Nicht anders war denn auch die Aufnahme, welche Goethes Divan beim allgemeinen deutschen Publikum gefunden hat. Aufschlußreich ist dafür folgender Vergleich: Die Lieder des Mirza Schaffy von Friedrich von Bodenstedt (1819-1892), Scheinblüten einer im wilhelminischen Deutschland aufgekommenen Orientalismusmode, erlebten bis zum Tode des Autors immerhin 143 Auflagen, während von Goethes Divan beim Verlag Cotta noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts Exemplare der Erstausgabe lagerten.

Nun wäre zu erwarten gewesen, daß Katharina Mommsens 1988 erschienenen umfangreichen Untersuchungen über Goethe und die arabische Welt dieser germanozentrischen Blindheit der Forscher für Goethes ‚morgenländisches Auge‘ hätten ein Ende bereiten müssen. Weit gefehlt! Zwar werden jetzt immerhin in wissenschaftlichen Ausgaben von Goethes Gedichten und speziell des Divan, seine orientalistischen Studien berücksichtigt. Aber ein Griff in das Bücherregal einer mit Literatur zum Thema ‚Goethe‘ gut bestückten Buchhandlung erweist, daß sich in den allgemeinen Darstellungen zu Goethes Leben und Werk, seien sie wissenschaftlicher, seien sie populärer Natur, auch heute noch nicht viel geändert hat.

Curt Hohoff (Goethe – Dichtung und Leben) scheut sich nicht, in Bezug auf den Divan das alte Klischee von Goethe im ‚islamischen Kostüm‘ aufzuwärmen, gegen welches bereits Ernst Beutler Einspruch erhoben hat. Weder bei Peter Matussek (Goethe zur Einführung) noch bei Irmgard Wagner (Goethe – Zugang zum Werk) wird der Islam oder gar der Koran erwähnt, bei Karlheinz Schulz (Goethe, eine Biographie in 16 Kapiteln) fallen zum Divan lediglich die Stichworte: ‚persisch‘, ‚exotisch‘, ‚Orientalismuswelle‘, wogegen die Noten und Abhandlungen, in denen Goethe sich so inständig bemüht hat, seinen lieben Deutschen die Gedankenwelt des Orients nahezubringen, als ‚gelehrte Anmerkungen‘ abgetan werden. Karl Otto Conrady läßt im ersten Band seiner zweibändigen Goethe-Biographie die intensive Beschäftigung des Dichters mit dem Koran unberücksichtigt und erwähnt den Hymnus Mahomets Gesang nur als Titel. Im zweiten Band weist er dann zwar ‚Goethes Interesse an der jüdischen und mohammedanischen <sic!> Religion‘ hin, meint aber betonen zu müssen: „Es ist weder christliche noch islamische Religion, die den Divan einseitig bestimmt, sondern ein west-östlicher Gottesglaube aus der Freiheit des Schauens und Wählens.“ Nun, ja. 
In Bezug auf Goethes frühe Freundschaft mit Herder wird meist das Straßburger Münster und Ossian erwähnt, also die Begeisterung für altdeutsche (gotische) Kunst und nordische Literatur. Ihre gemeinsamen Bibel- und Koranstudien bleiben unerwähnt. Als markantestes Beispiel für diese Schieflage sei die Goethe-Biographie mit der zur Zeit vermutlich weitesten Verbreitung, die Rowohlts-Monographie von Peter Boerner, angeführt. Zum West-östlichen Divan wird dort schamhaft erklärt, eines der darin behandelten Themen sei ‚westliche und östliche Religion‘. Als ob es eine Schande wäre, vom Islam zu sprechen! Nun gut, ‚östliche Religion‘. Aber was soll man daneben unter einer ‚westlichen Religion‘ verstehen? Weder von der germanischen Götterwelt der Walhalla, von der Goethe sowieso nicht viel hielt, noch von der griechischen des Olymp ist im Divan auch nur andeutungsweise die Rede. Sollte mit ‚westlicher Religion‘ jedoch das Christentum gemeint sein, so möge man sich daran erinnern, daß Christus ein Jude war, der aus dem östlichen Lande Palästina stammte. Goethe selbst hat jedenfalls diese Tatsache nie aus den Augen verloren und hat in seinem Divan und den zugehörigen Noten und Abhandlungen klar zum Ausdruck gebracht, dass er die beiden in der Bibel offenbarten Religionen, Judentum und Christentum, in gleicher Weise wie den im Koran offenbarten Islam, selbstverständlich der Welt des Orients zurechnete; die Rede vom ‚christlichen Abendland‘ lag ihm noch fern. Nein, die Vorstellung einer ‚westlichen Religion‘, die im Divan einer ‚östlichen Religion‘ entspräche, ist abwegig, auch wenn Goethe seine Gedichtsammlung West-östlicher Divan genannt hat. Die genaue Bedeutung dieses Titels geht aus dessen arabischer Version hervor, die der Dichter seinem Werk hat beifügen lassen: »ad-Diwân asch-scharqî lil Mu’allif al-gharbî« bedeutet wörtlich: »Der östliche Diwan des westlichen Verfassers«. Jener östliche Verfasser eines Diwan, durch welchen Goethe sich dazu herausgefordert fühlte, ihm in einer eigenen Sammlung von Gedichten zu antworten, nämlich Hafis, wird jedoch von Boerner nur in einem Nebensatz erwähnt. Dagegen führt er in aller Länge und Breite einen unverbürgten Kommentar Goethes zu einem Altarbild Rogier van der Weydens an, mit dem der Eindruck erweckt werden soll, Goethe hätte damals ‚eine neue, ewige Jugend‘ aus der seinerzeit gerade bei den Romantikern hoch im Kurs stehenden altdeutschen Malerei, und nicht etwa aus ‚Chisers Quell‘ geschöpft, obwohl doch das Eröffnungsgedicht des Divan mit dem Titel Hegire das Gegenteil bekundet. 

Nun bräuchte man dieser merkwürdigen Tabuisierung des Islam-Themas in der deutschsprachigen Literatur zu Goethe nicht so viel Aufmerksamkeit zu schenken und könnte es den Goethe-Kennern und -Liebhabern überlassen, sich damit auseinanderzusetzen, würde sich dahinter nicht ein Problem weit größerer Tragweite verbergen: das oben schon angedeutete Problem der ängstlichen Distanz, welche die Durchschnittsdeutschen zu denjenigen ihrer Mitbürger wahren, die einer ihnen unbekannten Religion zugehören. Und zwar nicht etwa deswegen, weil sie selbst so überzeugte Christen wären. Offenbar aber hat die Spaltung zwischen Katholiken und Protestanten im Zuge der Reformation und haben die darauffolgenden Religionskriege bei den Deutschen ein solch tiefes Trauma hinterlassen, daß sie den Angehörigen von ihnen fremd erscheinenden Religionen mit stärkstem Mißtrauen begegnen. Zur Zeit der Romantik, und das war die Zeit des sich herausbildenden deutschen Nationalbewußtseins, begann man, Deutschtum und Christentum zu identifizieren, ja manche Romantiker sehnten sich nach einem Mittelalter zurück, wo noch die katholische Kirche das Volk in einem alleinseligmachenden Glauben einte. Dies war eine Tendenz, welche Goethe aus tiefer Seele verhaßt war. Viele deutsche Juden wie etwa Rahel Varnhagen oder Michael Bernays, um nur zwei von ihnen zu nennen, sahen deshalb in Goethe, trotz seiner gelegentlich harrschen und zugegebenermaßen etwas bornierten Kritik an den jüdischen Emanzipationsbestrebungen seiner Zeit, einen Befreier. Denn mit seinen Schriften, gerade auch dem Divan, ist er gegen den Monopolanspruch der christlichen Kirchen auf Erlösung vom Übel der Welt mit Entschiedenheit entgegengetreten und hat von seinen Landsleuten eine Offenheit des Denkens eingefordert, welche, wäre man ihm gefolgt, der freien Entfaltung bzw. Selbstbehauptung anderer Religionen auf deutschem Boden neben dem Christentum erst den nötigen Freiraum geschaffen hätte.

Gershom Scholem hat in einem Vortrag mit dem Titel ‚Juden und Deutsche‘ von 1966 über die Situation der Juden in Deutschland im neunzehnten Jahrhundert gesagt: „Nur sehr wenige Deutsche […] haben die Unbefangenheit wirklicher Humanität gehabt [… und] am Juden das gesehen, was er zu geben, und nicht, was er aufzugeben hatte.“ Heute, im einundzwanzigsten Jahrhundert, leben in Deutschland mehr als drei Millionen Muslime, in der Mehrzahl Türken. Wie viele unter den heutigen Deutschen sind bereit, an ihren türkischen Nachbarn das zu sehen, was sie zu geben, nicht das, was sie aufzugeben haben? Als gängigste Losung hört man allenthalben: „Die sollen sich doch anpassen!“ Denn wie gesagt, es herrscht eine unterschwellige Angst in diesem Land vor allem, was mit Islam zu tun hat. Dazu trägt natürlich das weltweit von den Medien geschürte „Feindbild Islam“ bei, ist aber gewiß nicht die ausschließliche Ursache. Man bedenke, wie weit wir doch von Goethe entfernt sind: Als sich ihm die Gelegenheit bot, in Weimar eine Gruppe baschkirischer Muslime beim Gemeinschaftsgebet zu beobachten, hat er dies als ein Geschenk des Himmels betrachtet. Heute bedienen sich deutsche Fernsehreporter des Bilds betender Muslime hingegen als bedrohlicher optischer Untermalung, wenn sie ihr Publikum vor den Gefahren einer wachsenden Macht des Islam warnen wollen. Wie ein kollektives Unterbewußtsein sich auch gegen den aufgeklärtesten individuellen Verstand durchsetzen kann, das heißt, welch geradezu hysterische Angst vor dem Islam gerade auch unter sich aufgeklärt gebenden deutschen Intellektuellen herrscht, zeigte sich bei Gelegenheit der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels an Annemarie Schimmel. Schon Monate vor der Preisverleihung  brach dagegen ein Sturm von Protesten los, der in Form von Zeitungsartikeln und Leserbriefen sich von Tag zu Tag steigerte, als ginge es darum, den Untergang des christlichen Abendlandes zu verhindern. Dabei waren die bei der Aktion federführenden Akteure keineswegs Anhänger der Partei bibeltreuer Christen. Es waren in erster Linie Liberale bis Linke, die sich einer  Traditionslinie der Toleranz durchaus verpflichtet fühlen, wie sie in den Namen von Wolfram von Eschenbach, Lessing, Herder, Rückert, Bettina von Arnim repräsentiert wird, also in den Namen deutscher Autoren, welche sich vor und nach Goethe in besonderer Weise für eine verständnisvolle Haltung gegenüber dem Islam eingesetzt haben. Warum wählten sie sich dann ausgerechnet Annemarie Schimmel zum Objekt ihres Zorns? Gewiß, sie hatte eine mißverständliche Äußerung zu Salman Rushdies Roman Die satanischen Verse getan, eine Äußerung, die jeder nachvollziehen kann, der einmal unter Muslimen gelebt hat. Eine Zustimmung zum verabscheuungswürdigen Todesurteil gegen Salman Rushdie war damit aber keineswegs intendiert, wie ihre selbstgerechten Kritiker behaupteten. Wäre es den Protestierenden um die Verteidigung von Menschenrechten gegangen, wie sie vorgaben, so war damals in einer weit dringlicheren Angelegenheit ihr Einsatz gefordert. Denn es waren eben die Monate, in denen sieben Flüchtlinge aus dem Sudan, und zwar Muslims, die vor dem islamistischen Terrorregime in ihrem Heimatland geflohen waren, im Frankfurter Flughafen festgehalten wurden, weil sie in Deutschland Asyl beantragt hatten. Keine Stimme erhob sich jedoch von jener Seite, um diese Flüchtlinge vor der Abschiebung zu bewahren. Hier ging es wohlgemerkt nicht um eine bloße mißverständliche Äußerung, hier ging es darum, daß man der eigenen Regierung erlaubte, in einer Nacht-und-Nebel-Aktion das grundgesetzlich garantierte Recht auf Asyl de facto auszuhebeln und politisch Verfolgte ihren Peinigern auszuliefern. Man führt einen Gesinnungsprozeß gegen eine verdienstvolle Forscherin und bleibt untätig bei einem eklatanten Menschenrechtsverstoß im eigenen Land – welch eine Verkehrung der Maßstäbe!

In der Tat, wenn man die Verdienste Annemarie Schimmels als Autorin in Betracht zieht, wird klar, daß die gegen sie gerichteten Angriffe sich rational nicht erklären lassen. Denn im deutschen Sprachraum hat in unserer Zeit niemand so viel für die Vermittlung zwischen den Kulturen des Orients und Okzidents getan wie sie. Das ist nicht nur ihrer umfangreichen Kenntnis orientalischer Sprachen zu verdanken, sondern auch einer Sprachkraft, die bei ihren Übersetzungen aus dem Arabischen, Persischen, Türkischen oder Urdu an die Leistungen ihres Vorbilds Friedrich Rückert erinnert . Unter anderem verdanken wir ihr die Kenntnis eines der bedeutendsten muslimischen Dichter-Philosophen des 20.Jahrhunderts, Muhammad Iqbal, der sich intensiv mit Goethe, Hegel, Marx und Nietzsche auseinandergesetzt hat. Annemarie Schimmel ist aber, und das ist der springende Punkt, einem anderen, tieferen Verständnis des Begriffs von der Universalität der Menschenrechte verpflichtet als ihre lautstarken Kritiker. Denn ganz im Sinne Goethes fordert sie „echtes Verstehen […] aus der Kenntnis historischer Tatsachen und Entwicklungen“, das keinem kritiklosen Verzeihen von Menschenrechtsverletzungen gleichgesetzt werden darf. Es wird aus dem Iran berichtet, daß dort Oppositionelle gerade auch aus ihren Schriften geistige Nahrung schöpfen für ihren Widerstand gegen den Mißbrauch der Religion zu machtpolitischen Zwecken. Man darf ihren Kritikern natürlich nicht unterstellen, sie hätten aus christlich-deutschem Chauvinismus gehandelt. Schon die Herkunft mancher der Beteiligten spricht dagegen. Aber es gibt auch einen Chauvinismus der Aufgeklärtheit. Er läßt sich am Besten illustrieren am Unterschied zwischen Voltaire und Diderot. Voltaire war sich der Überlegenheit seiner Positionen als aufgeklärter Franzose so sicher, daß er diese als Maßstab nahm für die Beurteilung der Menschheit im Ganzen. So scheute er sich nicht, in seinem Mahomet-Drama die religiösen Gefühle von Millionen von Muslims in aller Welt zu verletzen, als es ihm darum ging, den Fanatismus der katholischen Kirche anzugreifen, indem er glaubte, diesen Angriff unbekümmert ins Gewand des Islam kleiden zu dürfen. Diderot hingegen führte seinen Angriff gegen die Mißstände und herrschenden Vorurteile in der französischen Gesellschaft seiner Zeit auf dialektische Weise. In seinem Nachtrag zu Bougainvilles Reise erteilte er den Tahitianern das Wort, um über die bigotten Moralvorschriften der Kirche ihr Urteil zu fällen, das heißt, den Bewohnern jener Insel, auf die der Forschungsreisende Bougainville im Auftrag des Königs von Frankreich bereits einen kolonialistischen Blick geworfen hatte. Diderot wählte also den Standpunkt eines fremden Volkes, um mit seiner Kritik nicht nur einzelne Vorurteile der Europäer, sondern zugleich den Eurozentrismus als solchen zu treffen, und nicht etwa, weil er dem Klischee vom ‚edlen Wilden‘ Vorschub zu leisten wollte, wie ihm oft unterstellt wird. Diese Sichtweise ermöglichte ihm vielmehr, in fast hellseherischer Weise vor den Gefahren der zerstörerischen Gewalt des Kolonialismus zu warnen, mit der die Europäer kurz darauf diese Weltgegend heimsuchen sollten. Allerdings hatte er noch keine detaillierte Kenntnis von der Kultur der Südseeinseln, und so blieb seine Darstellung der Tahitianer selbst mehr oder weniger fiktional. Die Überlegenheit seiner Vorgehensweise über diejenige Voltaires bestand jedoch darin, daß er auf das Verhältnis zwischen den Völkern eine Maxime anwendete, die Goethe später, in Bezug auf zwischenmenschliche Beziehungen, so formuliert hat: „Am allerfördersamsten <für die Selbsterkenntnis> aber sind unsere Nebenmenschen, welche den Vorteil haben, uns mit der Welt aus ihrem Standpunkt zu vergleichen und daher nähere Kenntnis von uns zu erlangen, als wir selbst gewinnen mögen.“ Das setzt Respekt vor dem Nebenmenschen und seiner möglicherweise andersgearteten Kultur voraus. Goethe konnte sich bereits die Forschungsergebnisse der in seiner Zeit aufblühenden Orientalistik zunutze machen, als er darum bemüht war, sich die Weltsicht des Orients anzueignen, um mit einem ‚morgenländischen Auge‘ ohne Zorn den Blick zurück auf die leidigen Zustände in Deutschland richten und durch die so gewonnene Distanz sich aus einem Zustand der Verzweiflung befreien zu können. Sein Blick auf den Orient aber, und das ist das Entscheidende, war frei von kolonialistischer Begehrlichkeit. Nur deshalb konnte zu Anfang des 20.Jahrhunderts ein Muslim aus dem indischen Subkontinent, der unter der kolonialistischen Unterdrückung seiner Heimat durch die Europäer litt, der Dichter-Philosoph Muhammad Iqbal, mit dem Dichter des West-östlichen Divan in seiner Botschaft des Ostens den eindringlichsten und fruchtbarsten Dialog führen, den man sich unter Vertretern zweier unterschiedlicher Kulturen vorstellen kann, ungeachtet der Tatsache, daß Goethe ein Europäer war!

Wenn der seiner Tradition folgenden Annemarie Schimmel jedoch unterstellt wird, vom ‚edlen Muslim‘ ein verklärtes Bild zu schaffen, mag sie sich damit trösten – soweit das ein Trost ist – daß Goethe nach über anderthalb Jahrhunderten dem gleichen Mißverständis ausgesetzt bleibt. Hat auch der Dichter des Divan im Schlußgedicht mit dem Titel Gute Nacht die flehentliche Bitte ausgesprochen: ‚Nun so legt euch, liebe Lieder / An den Busen meinem Volke‘, so wurde er in seinen Bemühungen, seinen Landsleuten ein objektives Verständnis der islamischen Geisteswelt zu vermitteln, von diesen doch so gründlich verkannt, daß man noch heute, im Jahre 2000, in einem Bericht der NZZ vom 22.September über ein deutsch-arabisches Dichtertreffen im Jemen lesen kann, es sei dort die Frage diskutiert worden, „inwieweit Goethes subjektiver, von romantischen Ideen geprägter Umgang mit dem Orient als Vorbild für einen Ost-West-Dialog überhaupt tauge.“ Wäre nicht die erste Voraussetzung für einen jeglichen Dialog, daß man kennt, worüber man urteilt? Romantischer Subjektivismus? Nichts verabscheute Goethe stärker als das! Gerade an der souverainen Art, wie er in dem frühen Fragment einer Mahomet-Tragödie und später im Divan islamisches Gedankengut verarbeitet hat, läßt sich das bestens nachweisen. 

Wenn nicht Kenntnis der Kultur des Anderen, so doch wenigstens Neugier für dieselbe wäre die Voraussetzung auch für einen Ost-West-Dialog in Deutschland selbst, welcher durch die Anwesenheit in unserer Mitte von über drei Millionen Muslims, dringend geboten wäre. In den Debatten über das deutsche Ausländerrecht, die doppelte Staatsbürgerschaft in Deutschland, die Möglichkeiten eines islamischen Religionsunterrichts an deutschen Schulen und überhaupt die Frage der Integration von Ausländern in die deutsche Gesellschaft, taucht jedoch immer wieder das Argument auf, gerade die Türken ließen sich nicht integrieren, schon allein ihrer fremdartigen Religion wegen. Ähnlich wurde bereits im 19.Jahrhundert von den Deutschtümlern gegen die deutschen Juden argumentiert. Scheinheilig fordert man von den Türken Integration, und meint in Wirklichkeit Assimilation, das heißt die Selbstaufgabe ihrer kulturellen Identität.

Die türkischstämmigen, in Deutschland geborenen Menschen sind in der Tat in einer schwierigen Lage: Sie wissen, daß sie in ihrem Heimatland oft nicht als vollwertige Türken akzeptiert werden, aber in Deutschland gelten sie wiederum nicht als vollwertige Deutsche. So leiden besonders die jungen Türken und Türkinnen unter einer gespaltenen Identität. Sie sehen sich von den übrigen Deutschen allerdings nicht so sehr als Türken unterschieden, sondern vor allem als Muslime. Könnten sie jedoch in der deutschen Geistesgeschichte Spuren des Islam entdecken, das heißt Vertreter deutscher Kultur, mit denen sie als Muslime geistige Zwiesprache halten könnten, so wäre ihnen damit die Möglichkeit geboten, islamische und deutsche Identität in sich zu versöhnen.
Nun bietet die deutsche Geistesgeschichte tatsächlich Gestalten von dieser Art: Im Hochmittelalter den Stauferkaiser Friedrich II, der mit muslimischen Fürsten auf Arabisch korrespondierte und mit dazu beigetragen hat, die wissenschaftlichen Kenntnisse der arabischen Welt und den Geist arabischer Poesie in Italien, Frankreich und Deutschland zu verbreiten. Als Dichter ragt in dieser Zeit Wolfram von Eschenbach hervor, der in seinen Werken Parzival und Willehalm – auf für die damalige Zeit unerhörte Weise – die Gleichrangigkeit des Islam mit dem Christentum dargestellt hat.

Für die Aufklärungs- und Goethezeit wären mehrere Namen zu nennen:
Mozart, der in seinem Singspiel „Die Entführung aus dem Serail“ einen türkischen Sultan als Vorbild der Toleranz auftreten läßt, obwohl er mit diesem Bühnenwerk eine Auftragsarbeit ausführte, worin die hundertjährige Wiederkehr des Siegs der Österreicher über den Erzfeind, die Türken, gefeiert werden sollte.
Lessing, in dessen gegen religiösen Dogmatismus gerichtetem Lehrstück  nicht nur der Jude Nathan, sondern auch der Sultan Saladdin (Salah ed-Din al Ayubi) das Prinzip der Toleranz verkörpert.
Lessings Freund Johann Jakob Reiske, der als erster Orientalist in Deutschland seine Wissenschaft aus reiner Begeisterung für die islamische Kultur betrieb und nicht, wie bis dahin üblich, aus theologisch-christlicher Absicht, das heißt mit dem Hintergedanken, den Koran mit christlichen Argumenten zu widerlegen.
Johann Gottfried Herder, der im Koran ein der Bibel ebenbürtiges Buch der Offenbarung erkannte.
Friedrich Rückert, der ansatzweise die schönste Koranübersetzung geschaffen hat, die es in deutscher Sprache gibt. Leider hat er sie nicht ganz vollendet.
Bettina von Arnim, die ihr letztes Werk, „Gespräche mit Dämonen“ dem „Geist des Islam“ und dem „Kaiser der Osmanen“ widmete, in Anerkennung der Tatsache, daß der Sultan Abdul-Medschid-Khan nach der Niederlage des ungarischen  Volksaufstandes von 1848 den flüchtigen ungarischen Revolutionären in der Türkei politisches Asyl gewährt hat.

Vor allem aber und an erster Stelle ist hier eben Goethe zu nennen. Man möchte sich wünschen, daß bei den vielen Debatten über die Integration von Ausländern in Deutschland, Debatten, bei denen im Hintergrund immer heimlich die Frage mitschwingt, ob die Türken als Muslime wirklich je Deutsche werden können, einmal ein türkischer Deutscher aufstehen und den deutschen Spießbürgern mit ihrer Deutschtümelei entgegenhalten würde: Ihr kennt eure eigenen Klassiker nicht! Der größte deutsche Dichter hat sich mehrmals zum Islam bekannt!

Ein Vertreter derjenigen Muslime in Deutschland, die sich für einen islamischen Religionsunterricht an deutschen Schulen einsetzen, sprach kürzlich in einer öffentlichen Diskussionsrunde von einem „deutschen Islam“. Dieser Ausdruck mag zunächst überraschend, wenn nicht gar schockierend klingen für jemand, der damit die Vorstellung verbindet, kolonialistisch gesonnene Deutsche könnten da ein neues Feld entdeckt haben, das es für das „deutsche Wesen“ zu erobern gilt. Der Ausdruck kam jedoch eben nicht aus dem Munde eines Deutschtümlers, sondern aus dem eines Arabers deutscher Nationalität, und ist insofern durchaus bedenkenswert. Zum einen räumt er mit der weit verbreiteten Vorstellung auf, daß es so etwas wie einen monolithischen Islam überhaupt gibt. Denn in der Tat unterscheiden sich die in der Türkei praktizierten Formen des Islam von denen im Iran, diese wiederum von denen in den arabischen Ländern oder in Indonesien oder im Senegal praktizierten in vielfacher Weise. Warum sollte es da nicht auch einen Islam deutscher Prägung geben?

Ein deutscher Islam kann aber nichts anderes sein als ein Islam im Verständnis Goethes, das heißt ein Islam, in welchem die Werte der Toleranz, wie Goethe sie einst in den Lehren des Propheten Mohammed erkannt hat, wieder an oberster Stelle stehen. Dazu ist es keineswegs notwendig, aus Goethe einen Muslim machen zu wollen, wie es auf einem Flugblatt das Islamische Zentrum in München und eine Gemeinschaft von Muslimen in Weimar in einem im Internet verbreiteten Fetwa getan hat. Wer Goethe voll und ganz für den Islam reklamieren will, darf sich nicht allein auf seine Kritik am real existierenden Christentums berufen, er muß sagen, ob er sich mit allen Positionen Goethes zum Islam und seinem Propheten, auch den unorthodoxen, einverstanden erklärt oder es zumindest für legitim hält, daß ein Muslim solche Positionen vertritt. In Bezug auf Toleranz ist jedoch die Maxime Goethes zu beherzigen, daß nur eine solche von Wert ist, die einen bloß vorübergehenden Zustand darstellt, welcher zur Anerkennung führt. Mit Anerkennung ist natürlich nicht ein Religionswechsel hin zum Islam gemeint, was Goethe eher mißbilligt hätte. In unserem Fall geht es schlicht um die bedingungslose Anerkennung des Rechts der Muslime in Deutschland, ihre Religion auf deutschem Boden frei ausüben zu können, einschließlich durch einen islamischen Religionsunterricht an deutschen Schulen. Es darf ja nicht vergessen werden, welch ein großes Zugeständnis die Muslime, welche dies fordern, in dogmatischer Hinsicht an die Rahmenbedingungen deutscher Schulen machen. Denn ein Dogma des Islam, welches ausgeht von der Tatsache, daß das letzte Buch göttlicher Offenbarung, der Koran, in arabischer Sprache niedergesandt worden ist, besagt, daß dessen Glaubensinhalte auch nur vermittelst des arabischen Urtexts gelehrt werden können. Selbst in der säkularistisch verfaßten Türkei werden deshalb den Schülern die Lehren des Islam nur auf dem Weg über das Auswendiglernen des Koran in der ihnen fremden arabischen Sprache beigebracht. Wenn also die in Deutschland lebenden Muslime zugestehen, daß der Islam stattdessen auf deutsch, also in der Sprache Luthers und Goethes gelehrt werden darf, so bedeutet das eine gewaltige Konzession an eine Auffassung, die nicht auf einem dogmatischen, sondern auf einem demokratischen Verständnis der Rolle des Unterrichts beruht. Der Name Luthers sei in diesem Zusammenhang ausdrücklich deshalb genannt, weil Goethe in Briefen mehrmals betont hat: „Es ist wahr, was Gott im Koran sagt: wir haben keinem Volk einen Propheten geschickt als in seiner Sprache.“ Nun ist aber allgemein von einem deutschen Propheten nichts bekannt. Goethe aber, sich auf Luther beziehend, hält daran fest, denn er fährt fort: „So ist jeder Übersetzer ein Prophet in seinem Volke.“ So hat offenbar Luther in den Augen Goethes aus der deutschen Sprache durch seine Bibelübersetzung ein Gefäß geschaffen, durch welches es möglich ist, eine göttliche Botschaft zu übermitteln. Würde nun aber ein islamischer Religionsunterricht in deutscher Sprache stattfinden, so wäre damit auch garantiert, daß jederzeit überprüft werden kann, ob die gelehrten Inhalte den in unserem Lande geltenden demokratischen Grundsätzen entsprechen. Aber das Mißtrauen der Durchschnittsdeutschen gegen den Islam sitzt offenbar allzutief. So wurde vor einiger Zeit in Hessen noch unter der rot-grünen Regierung eine Podiumsdiskussion veranstaltet, in der über die Einführung eines islamischen Religionsunterrichts nicht unter der Federführung des Kultusministers, sondern des Innenministers und seines Gegenspielers von der Opposition debattiert, als handle es sich um eine Frage der Inneren Sicherheit und nicht um eine Frage der Kultur. Die muslimischen Antragsteller selbst durften nicht mit auf dem Podium Platz nehmen, sondern mußten sich brav aus dem allgemeinen Publikum heraus zu Wort melden, angeblich, weil sie mit einer antidemokratischen Organisation in Verbindung ständen. Wer käme hingegen auf die Idee, den katholischen Religionsunterricht an deutschen Schulen in Frage zu stellen, weil sich im Rahmen der Kirche auch Organisationen bewegen, deren demokratischer Charakter zu Zweifeln Anlaß gibt?
   
Ein islamischer Religionsunterricht in deutscher Sprache würde nicht nur zur Identitätsbildung der in Deutschland aufwachsenden jungen Türkinnen und Türken beitragen, sondern auch zu ihrer demokratischen Erziehung. Von einer solchen Grundlage aus, das heißt ausgehend von einem Islam im Toleranz-Verständnis Goethes, könnten deutsche Muslime den zeitgenössischen ideologischen Scharfmachern wie Samuel Huntington auf anti-islamischer Seite einerseits, wie Hassan el Turabi auf islamistischer Seite andererseits, entgegentreten und zum Frieden in der Welt und zur Aussöhnung der Völker einen wichtigen Beitrag leisten. 

Es läßt sich allerdings nicht bestreiten, daß sich unserer Tage der Islam in den sogenannten islamischen Ländern im Zustand einer gefährlichen Erstarrung befindet. Zu dieser Erstarrung trägt die Tatsache bei, daß besagte Länder unter diktatorischen oder diktaturähnlichen Herrschaftssystemen zu leiden haben. Ein tieferliegendes Problem aber ist, daß die islamischen Glaubensinhalte dort heutzutage nicht mehr, wie einst zur Blütezeit der islamischen Kultur, zur Diskussion gestellt werden dürfen, sondern als feste Dogmen überliefert werden. Wer dagegen verstößt, läuft Gefahr, daß man ihn als Ketzer branntmarkt. In manchen Ländern bedeutet das, sein Leben zu riskieren, wie der Mord an Turan Dursun und Ugur Mumcu in der Türkei, Farag Foda in Ägypten, die Hinrichtung Mahmud Mohammed Tahas im Sudan, die Verfolgung Taslima Nasrins in Bangladesch und Nawal Saadawis in Ägypten, um nur einige Fälle zu nennen, der Welt vor Augen geführt hat.

Gewissermaßen im Gegenzug zur Erstarrung des traditionellen Islam hat sich am Rande der etablierten Institutionen als ein politisches Phänomen der Islamismus oder politische Islam entwickelt, der zwar vorgibt, im Sinne unumstößlicher religiöser Grundsätze zu handeln, weshalb er auch unter der Bezeichnung Fundamentalismus läuft, aber zugunsten seiner politischen Zielsetzungen äußerst willkürlich mit den überlieferten Glaubensvorstellungen umspringt. Es handelt sich hier zunächst um ein Randphänomen, dem aber der traditionelle Islam in seiner erstarrten Form ungewollt den Nährboden bietet, mit der Folge daß er, wenn die Islamisten auf gewaltsamem Wege die Macht erobern, den Usurpatoren keine Kräfte der Abwehr entgegenzustellen weiß. Dies ist die Gefahr für den Islam unserer Zeit.

Der im Pariser Exil lebende syrische Lyriker Adonis (Ali Ahmed Said) erkennt das Dilemma, in der die arabischen Intellektuellen der Gegenwart stecken darin, daß sie in einer doppelten Abhängigkeit gefangen sind: Einer geistigen Abhängigkeit von der Vergangenheit, in der das Wiederholen und Wiederaufbereiten des bereits Vorhandenen an die Stelle des lebendigen Schöpfertums tritt, und einer technischen Abhängigkeit vom europäisch-amerikanischen Westen, in der die Erfindungs- und Innovationskraft ersetzt wird durch technische Anleihen und Anpassung. In beiden Fällen handle es sich um eine geborgte Kultur, um ein geborgtes Leben. Auch er selbst, gesteht er, habe sich zunächst gefangennehmen lassen von der Faszinationskraft westlicher Zivilisation. Dann aber sei es ihm gelungen, einen neuen Zugang zu finden zum eigenen kulturellen Erbe, allerdings nicht im Rahmen des herrschenden arabischen Kultursystems. Es war die Lektüre Baudelaires, die ihm die Augen öffnete für die Modernität des Dichters Abu Nuwâs (757-814); die Lektüre Mallarmés enthüllte ihm die Geheimnisse der poetischen Sprache Abu Tammâms (788-845), und die Lektüre von Rimbaud, Nerval und André Breton führte ihn ein in Zauber und Glanz des dichterischen Werks der Mystiker. Adonis weist aber zugleich darauf hin, daß das Problem der arabischen Intellektuellen eigentlich noch tiefer liegt als auf der Ebene der poetischen Sprache, nämlich auf dem Gebiet der Erkenntnistheorie. Und diese ist auf geheimnisvolle Weise verknüpft mit der Frage der Interpretation des Korans: 

„Die traditionelle Kultur ist verkörpert in einer kontinuierlichen erkenntnistheoretischen Praxis, die auf der Ansicht beruht, daß sich die Wahrheit im Text <= dem Koran> findet und nicht in der Erfahrung und der Wirklichkeit; sie ist ein für allemal gegeben und eine andere Wahrheit gibt es nicht. Die Aufgabe des Denkens ist zu erklären und zu lehren, ausgehend von dem Glauben an diese Wahrheit, nicht etwa zu suchen und zu fragen, um zu neuen, widersprechenden Wahrheiten zu gelangen.“
Wie für Adonis auf dem Gebiet der poetischen Sprache die französischen Symbolisten und Surrealisten, so könnte hier nun auf erkenntnistheoretischem Gebiet den betroffenen Intellektuellen gegebenenfalls Goethe weiterhelfen. Nicht nur, weil er, unvoreingenommen und neugierig wie jemand, der Neuland betritt, auf erstaunlich eindringliche Weise sich mit den verschiedensten historischen Glaubensrichtungen des Islam auseinandergesetzt hat, gerade auch solchen, die heute für die strengen Hüter islamischer Orthodoxie Anathema sind. Eine kritische Beschäftigung mit Goethes Islam-Studien könnte deshalb gerade auch für heutige Muslims der Anstoß sein, sich der historischen Vielfalt und dem Reichtum des eigenen Erbes zu stellen. Vor allem aber fand Goethe, obwohl der arabischen Sprache nicht mächtig, über die Brücke mangelhafter Übersetzungen hinweg ganz intuitiv einen viel unmittelbareren und lebendigeren Zugang zum Koran als die hundert- und aberhunderttausend von muslimischen Schriftgelehrten heute und die von ihrer Autorität abhängigen Millionen von Gläubigen. Denn was Annemarie Schimmel zur Erläuterung eines gegen die Schriftgelehrten gerichteten Spottverses Muhammad Iqbals schreibt, trifft genau auf Goethe zu, denn noch weitgehender als Iqbal war er als Deutscher unbelastet von „den zahllosen Kommentaren, Superkommentaren und Scholien, die sich im Laufe der Jahrhunderte um den Text des Koran gelegt hatten, <sodaß> der eigentliche dynamische Geist des Gotteswortes erstickt, versteinert  <wurde und> der Gläubige keinen Zugang mehr zu ihm hatte.“ Goethe nennt eine solche Zeit der Vorherrschaft von bis ins Detail schriftlich festgelegter Glaubensregeln eine Zeit des Unglaubens. Der entscheidende Punkt in erkenntnistheoretischer Hinsicht aber ist der Folgende: Goethe fordert nicht, daß Gottes Schöpfung, die menschliche Gesellschaft und unser Verständnis von der Welt sich einem angeblich von Ewigkeit zu Ewigkeit bestehenden Text anzupassen habe, der dann von seinen Sachwaltern gehandhabt wird wie ein geistliches Prokrustesbett. Für ihn ist die Welt als Schöpfung Gottes einem steten Wandlungsprozess unterworfen und der Text nur ein Wegweiser, um sich in dieser Welt zurechtzufinden: „Wenn ich handle, wenn  ich dichte / Gib du meinem Weg die Richte.“ Das Wort „Richte“, das inzwischen im Deutschen weitgehend außer Gebrauch gekommen ist, gibt erstaunlich genau die Bedeutung wieder, die dem Wort Scharia im Koran ursprünglich zukommt, nämlich göttliche Wegweisung, während es heute durch seinen Mißbrauch als Instrument der Despotie zu einem Schreckenswort verkommen ist. Wenn von Scharia landläufig bei uns die Rede ist und davon, daß angeblich der Koran unter diesem Stichwort das islamische Gesetz enthalte, wird zumeist völlig außer Acht gelassen, daß dieses Wort im Koran nur einmal erwähnt wird, in semantischen Ableitungen noch viermal, und zwar genau im Sinne des von Goethe gewählten Ausdrucks „Richte“. Dagegen ist Scharia im Lauf der Jahrhunderte nach dem Tode des Propheten zur Bezeichnung für ein ausgeklügeltes Rechtssystem geworden, für das dessen Hüter, obwohl es ein Werk von Menschenhand ist, gleich wie für den Koran selbst, göttliche Autorität beanspruchen. Im Sprachgebrauch der Islamisten hat das Wort dann noch eine weitere Abwertung erfahren, denn wenn sie die Einführung der Scharia fordern, dann meinen sie in erster Linie die Einführung eines Strafrechts, welches solch barbarische Körperstrafen enthält wie öffentliche Auspeitschung, Amputation der rechten Hand oder gar kreuzweise Amputation, Steinigung und Kreuzigung.

Goethe hätte gewiß nicht bestritten, daß bei einer Gemeinschaft von Gläubigen, die sich eine Gesetzgebung schaffen, ihr Glaube auch in den Gesetzen und ihrer Auslegung zum Ausdruck kommen muß, allerdings ohne daß die offiziellen Gesetzeshüter und Schriftgelehrten dabei göttliche Autorität für sich beanspruchen dürften. Der Koran mit seinen etwa 6000 Versen enthält nur etwas über 60 Verse, die juristische Vorschriften im eigentlichen Sinne darstellen, und die teilweise zudem noch deutlich zeitgebunden sind. Wahrlich keine Grundlage, um ein funktionierendes Gemeinwesen darauf zu errichten, schon gar nicht fast anderthalb Jahrtausende nach ihrer Niederschrift, wie die Islamisten behaupten. Die ersten Generationen nach dem Tod des Propheten haben sich in ihrer juristischen Praxis in der Tat mehr nach dem Geist des Korans zu richten bemüht als nach seinem Buchstaben, wie insbesondere das Beispiel des Kalifen Omar zeigt, der ganz frei nach eigenem Wissen und Gewissen mit einzelnen Bestimmungen des Korans umging und trotzdem als ein Muster an Gerechtigkeit gilt. Die Katastrophe für die Entwicklung des Islam trat ein, als um die erste Jahrtausendwende das Tor des Idjtihâd, d.h. des redlichen Bemühens um die angemessene Auslegung des heiligen Texts, von den Rechtsgelehrten für geschlossen erklärt wurde, sodaß von da an sie über das Monopol für die wahre Rechtsauslegung verfügten, welche sie zumeist in Sinne der herrschenden Gewalt betrieben.

Der sudanesische Rechtsanwalt und Vorkämpfer für Menschenrechte, Taha Ibrahim, erklärt in einem gegen die traditionelle Auffassung von der Scharia als Rechts-, gar als Strafrechtssystem gerichteten Buch, daß man, um den Koran richtig zu verstehen, nicht von einzelnen isolierten Lehrsätzen ausgehen dürfe, sondern in Betracht ziehen müsse, was sich wie ein roter Faden durch das ganze Buch zieht, nämlich das, was er die ‚koranische Methode‘ nennt, die Ausrichtung auf eine Welt im Wandel. Er weist darauf hin, daß im Koran das Wort Aya(h) an die vierhundert Mal vorkommt, und zwar in vielfältigen Bedeutungen: Wunder, Beispiel, Zeichen, Beweis, Maxime, Indiz, sodann auch als Bezeichnung für die einzelnen Koranverse. Aber die Vielfalt dieser Bedeutungen steht doch in einem klaren Bezugsrahmen: jedesmal drückt sich darin eine Erkenntnis aus, nämlich die Erkenntnis der Bewegungsgesetze der Schöpfung, der Natur, der Gesellschaft und der menschlichen Seele. Der gleichen Ansicht war auch Muhammad Iqbal, der in einer seiner „Sechs Vorlesungen über die Wiederherstellung des religiösen Denkens im Islam“ erklärte, daß es drei Quellen menschlichen Wissens gebe: innere Erfahrung, Natur und Geschichte, und dann fortfuhr: „Der Koran sieht Zeichen der letzten Wirklichkeit in der Sonne, dem Mond, dem Sich-Ausdehnen der Schatten, dem Wechsel von Tag und Nacht, der Vielfalt menschlicher Hautfarben und Zungen, dem Wechsel der Tage des Erfolges und Mißerfolges unter den Völkern – tatsächlich in der ganzen Natur, wie sie der Sinneswahrnehmung des Menschen offenbar ist.“ Und an anderer Stelle der Vorlesungen drückt er seine Vorstellung vom Islam in geradezu goethisch-pantheistischer Weise aus, um dann ein Gedicht von Goethe selbst zu zitieren:

Gottes Leben ist Selbstoffenbarung, nicht die Verfolgung eines Ideals, das noch erreicht werden soll. Das Noch-Nicht des Menschen bedeutet Streben und kann einen Fehlschlag bedeuten; das Noch-Nicht Gottes bedeutet die unfehlbare Verwirklichung der unendlichen schöpferischen Möglichkeiten Seines Seins, das seine Ganzheit in dem gesamten Prozeß beibehält.

Wenn im Unendlichen dasselbe
Sich wiederholend ewig fließt,
Das tausendfältige Gewölbe
Sich kräftig ineinander schließt,
Strömt Lebenslust aus allen Dingen,
Dem kleinsten wie dem größten Stern,
Und alles Drängen, alles Ringen
Ist ewige Ruh in Gott dem Herrn.
 

Eschborn, den 3. Oktober 2000    
Peter-Anton von Arnim

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