Rede des Preisträgers

العربية

Empfangsrede von Nasr Abu Zaid

Nasr Abu Zaid

Wege zu einer neuen islamischen Methodik in der Hermeneutik

Nasr Hamid Abu Zaid

„Erneuerung beginnt mit der wissenschaftlichen Vernichtung veralteter Vorstellungen“

Amin al-Khuli

Es ist mir eine große Ehre, dass sich der IBN RUSHD Fund bei der Vergabe seines Preises dieses Jahr für mich entschieden hat. Er verleiht mir auf diese Weise eine Auszeichnung, die in zweierlei Hinsicht von größter Bedeutung ist:

Erstens ehrt mich die Verknüpfung meines Namens mit dem Namen des großen Philosophen Ibn Rushd (Averroes), Philosoph des Ostens sowie des Westens, der durch sein Denken das  düstere Mittelalter durchbrochen und erleuchtet hat – ich habe meinerseits die Ehre, seit mehreren Jahren Inhaber eines akademischen Lehrstuhls an der University of Humanistics zu Utrecht (Niederlande) zu sein, der seinen Namen trägt.

Zweitens ist diese Auszeichnung auch deshalb für mich von großer Bedeutung weil es die vor zehn Jahren ausgeübte Schandtat gegen die Werte der Freiheit des Denkens, der  wissenschaftlichen Forschung und des Glaubens in der arabischen und islamischen Welt auslöscht.

Heute, vor diesem freien Forum des IBN RUSHD Fund für Freies Denken, möchte ich Sie an einigen meiner wissenschaftlichen Fragestellungen, mit denen ich mich befasse, teilhaben lassen. Es sind aktuelle Fragen, die uns alle beschäftigen. Es sind jedoch keine Fragen, die aus dem historischen Moment geboren sind, in dem wir uns gegenwärtig befinden, sondern Fragen, mit denen sich schon die Pioniere der modernen Renaissance der arabischen und islamischen Welt seit Beginn des 19. Jahrhunderts beschäftigt haben. Es sind die gleichen Fragen, die in der Ausschreibung dieses Preises in bemerkenswerter Deutlichkeit formuliert sind:

„Ist islamisches Denken mit der Moderne vereinbar? Erlauben die islamischen Grundsätze einem arabischen Muslim, in einer modernen arabischen Gesellschaft zu leben, die von einem zivilen Staat geprägt ist? In einem Staat, in dem die Bürger die Achse der Gesellschaft bilden und in dem Meinungsfreiheit und Gleichheit elementare Werte sind? Widerspricht der Islam einer Gesellschaft, die von einer demokratisch gewählten Führung regiert wird und in der alle Bürger gleichberechtigt sind, unabhängig von Hautfarbe, Rasse oder Konfession?“

Dies sind Fragen, die aus dem Versuch heraus entstanden sind, mit dem anders denkenden Westeuropäer positiv und effektiv kommunizieren zu wollen, der in unserem Bewusstsein zum einen als Militärmacht nach Hegemonie bestrebt war und zum anderen seine Stärke aus der Wissenschaft, der Vernunft und der Moderne zog. Dieser Kontext, in dem der Raum für die Reaktionen unserer Vorfahren vorgegeben war, ist kein unproblematischer Kontext. Der Andersdenkende stellt sich sowohl als Quelle der Herausforderung als auch als Quelle der Inspiration dar.

In diesem Zusammenhang der Widersprüchlichkeiten muss man den islamischen Diskurs Ende des 19. Jahrhunderts/Anfang des 20. Jahrhunderts sehen. Es ist der Diskurs, der insbesondere von Gamal ad-Din al-Afghani (1839-1897) und Muhammad Abduh (1849-1905) vertreten wurde. Es sollte uns nicht überraschen, dass in diesem Diskurs Politik und Ideologie miteinander vermischt waren und man sich geistig sowohl im positiven wie auch im negativen Sinne mit den zwingenden Herausforderungen Europas auseinandergesetzt hat. Wir sollten uns hier darauf konzentrieren, wie man in diesem Diskurs mit allen Mitteln versucht hat, den Weg für einen Aufschwung zu ebnen, beginnend mit dem Geständnis, dass sich  die islamische Welt in  Rückständigkeit und Stagnation befindet.

Das Scheitern der „Osmanischen Reformgesetze“ (Tanzimat) und die erfolglosen Bemühungen einer „ politischen Reform“ forciert durch staatliche Gewalt oder europäischem Druck war eine der wichtigsten Lektionen, mit der man sich in diesem Diskurs des Aufschwungs auseinander setzen musste. Man befasste sich mit den Fragen: Wo beginnt die Reform? Wer bestimmt ihre Prämissen, Merkmale und Grundprinzipien? Beginnt die Reform politisch, kulturell oder intellektuell? Welche Rolle nimmt dabei die Religion im Allgemeinen, und welche nimmt der Islam im Speziellen im Reformvorhaben ein?

Man kann den Diskurs al-Afghanis als Modernisierungsdiskurs bezeichnen sowohl von seinem umfassenden reformistischen Ansatz her als auch von seiner Fähigkeit, einen Dialog mit Andersdenkende zu führen, selbst wenn der Gedanke eines Wettstreits vorherrschend war. Er ist es auch deshalb, weil es ein Diskurs ist, in dem man bestrebt war, die Werte von Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit zu stärken und das Volk aufzuwecken, damit es seinen Ruhm wiedererlangt und sein Schicksal in die eigene Hand nimmt. Was seine Methode anbetrifft, mit der er das Volk zum Aufwecken bewegen wollte – es war eine Methode der Rückkehr zu den Wurzeln und „reinen Grundsätzen“ -, so kann man sie als salafitischen Diskurs bezeichnen, einen Diskurs also, der sich am Vorbild der Alten orientierte. Jedoch  besteht ein großer Unterschied zwischen einer salafitischen Bewegung des Aufweckens, der Erneuerung und des Fortschritts und einer salafitischen Bewegung der Nachahmung der Vorahnen, dem blinden Folgen in ihre Fußstapfen Schritt für Schritt.

Der Reformdiskurs von Scheich Muhammad Abduh unterschied sich in  seinem Ansatz nicht wesentlich, nur in wenigen Details,  vom Diskurs al-Afghanis. Wir wissen von dem großen Einfluss, den al-Afghani auf Abduh hatte. Es war der größte Einfluss, den al-Afghani auf irgendeine Person während seines Aufenthaltes in Ägypten hatte. Abduh gelang es, die allgemeinen Hypothesen al-Afghanis zu einem allumfassenden, kulturellen und  geistigen Arbeitsplan umzusetzen.

Der Versuch al-Afghanis, den igtihad (Koraninterpretation nach eigenem Ermessen) im islamischen Denken wieder zu aktivieren, brachte erst durch Abduh Früchte, ob es die Gleichheit zwischen Muslime und Nichtmuslime oder die zwischen Mann und Frau betraf. Abduh begründete dieses Gleichheitsprinzip, indem er sich auf die Fundamente der rationalen Interpretation der Hauptquellen – Koran und Hadith – berief. Während al-Afghani zum Thema „soziale Gerechtigkeit“ weit ausholte und – laut Ahmad Amin[1] – ausführlich über „den Sozialismus im Islam und den Vergleich zwischen dem islamischen Sozialismus und dem Sozialismus des Westens“ kontemplierte, gelang es Abduh, den Begriff „soziale Gerechtigkeit“ auf exegetischer Ebene in fundierter Weise in seine Interpretationen einzuführen, wie ich es in meinen Schriften zum großen Teil dargelegt habe.

Wie al-Afghani musste Abduh den Islam gegen westliche Kritiker verteidigen. Seine Apologien gegen den Politiker und Historiker Gabriel Hanotaux (1853-1944), der behauptet hat, dass der Islam Grund für die Rückschrittlichkeit der Muslime sei, können in seinem bedeutenden Buch „Der Islam zwischen Wissenschaft und Zivilisation“[2] nachgelesen werden. Was wir von al-Afghani und seiner Reformbewegung gesagt haben, gilt auch hier für Abduhs Diskurs. Es ist ein Modernisierungdiskurs in seinen Zielen und Bestrebungen, er ist salafitisch in seinen Methoden und Strategien. Die Unterscheidung zwischen einer fortschrittlichen salafitischen Bewegung und einer traditionellen salafitischen Bewegung trifft insofern auch auf Abduh zu.

Die friedliche Koexistenz von Fortschrittsgedanken und Salfiyya, die den religiösen Reformdiskurs begleitete, währte nicht lang, aus Gründen, für deren Ausführung hier nicht genügend Zeit ist. Ich will aber einen der Gründe für das Scheitern der Koexistenz nennen, den meines Erachtens wichtigsten Grund, nämlich das zwiespältige Verhältnis mit Europa. Es ist ein Verhältnis, das den Reformdiskurs zwang, mal eine Haltung des Wettstreits, in den meisten Fällen aber eine rechtfertigende Haltung einzunehmen. Angetrieben von dem starken Verlangen, den Islam vor seinen westlichen Kritikern zu verteidigen, sah man sich im religiösen Reformdiskurs gezwungen, zwischen dem Islam mit seinen Wertvorstellungen, noblen Prinzipien auf der einen Seite und den rückschrittlichen Muslimen auf der anderen Seite zu unterscheiden. Mit dieser Unterscheidung begann man, die Vergangenheit zu glorifizieren, die man deutlich abgrenzte von der verächtlichen, demütigenden Gegenwart. Auf diese Weise wurde eine Grundvorstellung von einer rationalen, zivilisatorischen Vergangenheit als maßgebliche Instanz geschaffen, mit anderen Worten: Es wurde die Vergangenheit als Utopie konstruiert, in die man zurückkehren könnte und die durch Nachahmung heute wiederherstellbar sei.

Selbstverständlich steht der Wesenszug des Reformkurses –  freiheitlich und fortschrittlich zu sein in Fragen zu politischen, geistigen und sprachlichen Reformen, in seiner Bejahung der Prämissen von Gleichberechtigung, Freiheit, Gerechtigkeit und in seinem Bestreben, sich von Traditionen und Aberglaube usw. zu befreien –, steht dieser Wesenszug in Zusammenhang mit der Überzeugung der Reformer von der Bedeutsamkeit der Werte der europäischen Zivilisation, jener Werte, die Europa zu Fortschritt und Macht verholfen haben, kurz gesagt, steht der Reformkurs in Zusammenhang mit der Überzeugung, dass es wichtig sei, von „Europa“ dem Lehrer, nicht  dem Aggressor und Besatzer, zu profitieren und zu lernen.

Die Zeit reicht hier nicht aus, auf die Faktoren und Umstände einzugehen, die zur allgemeinen Rückständigkeit führten, einer Rückständigkeit, die sich in der Dominanz der traditionalistischen Salafiyya-Bewegung ausdrückte, jener Bewegung, der es gelang, die Progressivität des reformistischen salafitischen Diskurses zu vermindern. Wichtig ist aber, darauf hinzuweisen, dass eines der Gründe für den Niedergang und die allgemeine Verschlechterung auf allen Ebenen und in allen Bereichen in der Abwesenheit einer wissenschaftlichen Debatte über Fragen des religiösen Denkens liegt, sei es aus historischer oder gegenwartsbezogener Sicht.

Versuche einer Erneuerung des religiösen Diskurses hat es seit Beginn der modernen arabischen Aufklärung bis heute immer gegeben. Trotz ihrer bekannten Errungenschaften haben sich die Reformer in ihren Bemühungen jedoch niemals der kritischen Betrachtung der Grundsätze gewidmet, die seit dem 3. Jahrhundert der Higra nicht mehr zur Diskussion offen stand. Seit dem 3. Jahrhundert der Higra (der Herrschaft des Abbasiden-Kalifen al-Mutawakkil), wurde über eins der wichtigsten Probleme des religiösen Diskurses, wenn es nicht gar das wichtigste Problem der scholastischen Theologie überhaupt ist, nicht mehr offen gestritten, nämlich über das Problem, wie das „Wort Gottes“ und dessen Beziehung zum „Wesen Gottes“ zu verstehen sei. Diese Problematik ging in die Geschichte als das Problem von der „Erschaffung des Koran – khalq al-qur’an“  ein. Die in diesem Zusammenhang ausgelöste Krise hatte zur Folge, dass alle, die sich auch nur im geringsten an der Diskussion beteiligten, verfolgt wurden. Unter dem Kalifen al-Mutawakkil wurde die Angelegenheit durch einen politischen Beschluss beendet, aufgrund dessen festgelegt wurde, welche die richtigen Glaubensgrundsätze sind, und wie sie sich von den falschen unterscheiden. Auf diese Weise wurde der Glaube von der Erschaffung des Koran, wie er von den Mutaziliten verfochten wurde, für ungültig erklärt; Es wurde sogar als Ketzerei und Häresie betrachtet. Der Glaube an den Koran als etwas zeitlos Ewiges wurde zum einzig wahren Dogma erklärt.

Zweifellos ist mit diesem gefährlichen, politischen Beschluss der Anfang für die so genannte „Schließung des Kapitels des igtihad“ gesetzt, weil jegliche geistige Diskussion über Religions- und Glaubensangelegenheiten im Keime erstickt ist.

Muhammad Abduh hat in seiner Abhandlung Risalat at-tauhid (Die Botschaft von der Einheit Gottes) versucht, die Diskussion über das Problem der Offenbarung und über das Wort Gottes zu eröffnen – es war der einzige Versuch in der Gegenwart, eine moderne islamische Theologie zu schaffen. In der ersten Ausgabe seiner Abhandlung verfocht er noch den Standpunkt der Mutaziliten, so wie er zuvor ihre Meinung zum Problem der „göttlichen Gerechtigkeit und der Entstehung von Handlungen“ teilte. In der zweiten Ausgabe jedoch hat er seinen Standpunkt widerrufen – es ist aber auch möglich, dass sein Gefährte und Schüler Rashid Rida es für ihn geändert hat. Nun ist er zum Standpunkt der Ash’ariten übergewechselt, die bei der Definition des „Wort Gottes“ zwischen seiner Eigenschaft als ewig zeitloses „Wort Gottes“ auf der einen Seite, und dem mit menschlicher Stimme rezitierten Koran auf der anderen Seite unterscheiden, nur dieser und kein anderer ist der „geschaffene“ Koran.

Seit dieser Unentschlossenheit im  Standpunkt Muhammad Abduhs bzw. seit der Interpretation Rashid Ridas zu Abduhs Aussagen kreisten alle nachfolgenden Versuche einer Erneuerung in den Bahnen der ash’aritischen Theologie. Nach und nach wich die ash’aritische Unterscheidung zwischen den beiden Ebenen des „Wort Gottes“ zugunsten des hanbalitischen Standpunktes. Dieser beharrt auf nur einer Eigenschaft des Wort Gottes, nämlich darauf, dass das Wort Gottes zeitlos, ewig und ein Attribut seines zeitlosen ewigen Wesens ist.

Vor diesem Hintergrund möchte ich auf einige mutige Bemühungen von Personen hinweisen, die auf unterschiedliche Weise versucht haben, die Mauer des Schweigens zu durchbrechen, wenngleich sie auch nicht der seit dem 3. Jahrhundert unterdrückten und verhinderten Frage nach dem „Wort Gottes“  nachgegangen sind.

Im Laufe der Zerschlagung des Osmanischen Reiches und Aufteilung des Erbes des Kranken Mannes [am Bosporos] unter den gierigen Europäern stand ein großer Teil der islamischen Welt unter kolonialer Herrschaft. Dies führte allmählich zum Scheitern der Reformbewegung, da sie sich auf zwei widersprüchliche Positionen  stützte: Einerseits hatte man sich für die Moderne in der Gegenwart entschieden, getrieben von der Begeisterung für deren Wertvorstellungen. Andererseits hatte man zur Bedingung gemacht, dass diese Moderne auf den Grundlagen der Tradition basieren müsste. Mit dem Scheitern dieser Formel war das Fundament für die Macht der Traditionalisten endgültig und unwiderruflich gelegt. Gleichzeitig aber wurden einige Werte der Moderne ebenso unwiderruflich gesät. Aus diesem Grund ist festzustellen, dass die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts von den Anfängen unterschwellig angestauter Spannungen zwischen den beiden ideologischen Lagern geprägt waren. Diese Spannungen führten zur Geburt zweier Strömungen, die bis zum heutigen Tage unaufhörlich zusammenstoßen. Es sind die liberale reformistische Strömung und die salafitisch-traditionelle Strömung.

Qasim Amin (1863-1908) wäre als Vertreter der liberalen Strömung einzuordnen. Nicht nur privat sondern auch beruflich – er hat es als Jurist zum Kanzler im Berufungsgericht gebracht -, engagierte er sich für die Aufklärung. Er widmete sich insbesondere der Befreiung der Frau von den Fesseln veralteter Traditionen, die sich gegen ihre Ausbildung richteten, sie ins Haus sperrten und sie zur Leibeigenen des Mannes machten, anstelle zum ebenbürtigen Partner, der dem Manne in Rechten und Pflichten gleich stand.[3]

Obwohl Qasim Amin ein Zeitgenosse von al-Afghani und Abduh war, geht er in seinem Bestreben nach einer islamisch geprägten Zivilisation nicht von einer Symbiose zwischen Fortschritt in der Zielsetzung und „Salafiyya“ in der Methodik aus. In seiner Behandlung  von Fragen der Ehe, Scheidung, Ausbildung, Gleichberechtigung, Rechte und Pflichten u.Ä. stützt er sich nicht selektiv auf das Kulturerbe als Instanz, wie es Abduh getan hat. Vielmehr geht er rational heran, ohne dabei das kulturelle Erbe zu verachten oder gering zu schätzen, er betrachtet es aber auch nicht als absolute maßgebliche Instanz. Mit anderen Worten lässt sich sagen, dass  die Fortschrittlichkeit von Qasim Amin nicht salafitischer Prägung ist, so wie wir es bei den ersten Reformern beobachtet haben.

Während Qasim Amin mit Ausnahme einiger Bemerkungen und verbalen Angriffen keinerlei Verfolgung widerfuhr, verlor Mansur Fahmi sein Recht auf  Ausübung seines Berufs als Folge von massiver Kritik der Traditionalisten an seiner 1913 erschienenen Arbeit Die Stellung der Frau im Islam (La Condition de la Femme dans la Tradition de l’Islam“), für die er den Doktorgrad in Philosophie an der Universität Sorbonne erworben hat.

Aber das, was Mansur Fahmi an beruflichen Einschneidungen zu erdulden hatte, ist nicht zu messen mit dem, was andere nach ihm erleiden mussten. Der ungerechte Vorwurf der Religionsfeindlichkeit war nicht nur gegen modern eingestellte Liberale gerichtet, sondern auch mit ähnlicher Härte und Entschiedenheit gegen neue Gelehrte der Azhar Universität, die über die Mauern der Tradition und des bestehenden Konsensus in Rechtsfragen sprangen und zweifellos von den freiheitlichen Gedanken von Afghani und Abduh beeinflusst waren.

Einer dieser Gelehrte der Azhar war Muhammad Abu Zaid, Autor zahlreicher Bücher. Sein koranexegetisches Buch al-Hidaya wa-l-irfan (Göttliche Führung und Erkenntnis) wurde unmittelbar nach seinem Erscheinen konfisziert.[4] Das Vergehen, wofür er 1917 durch ein Gericht verurteilt wurde, war, dass er geschrieben hatte: „Explizit ist Adam weder Prophet noch Gesandter, seine Prophetie und seine Botschaft sind rein hypothetisch.“ Dies genügte, dass einige Leute ihn vor Gericht anzeigten und baten, ihn mit dem Vorwurf der Apostasie von seiner Frau zu trennen. Das Gericht für Personenstandsangelegenheiten in Damanhur kam der Klage nach und entschied die Annullierung der Ehe. Das Berufungsgericht in Alexandrien aber legte Widerspruch ein und hob am 01.12.1918 das Urteil gegen Muhammad Abu Zaid auf.[5]

In der Zeit zwischen zweier gerichtlicher Verfahren, derer sich Abu Zaid unterziehen musste, wurde ein anderer Gelehrte der Azhar vor Gericht gebracht: Ali Abd ar-Raziq (1888-1966). Grund war sein 1925 erschienendes Buch al-Islam wa usul al-hukm (Der Islam und die Grundprinzipien des Regierens), mit dem er sich nach Abschaffung des Kalifats durch die Kemalisten in der Türkei der allgemeinen politischen Debatte anschloss, die in der gesamten islamischen Welt geführt wurde. Das Gericht entschied nicht nur die Kündigung seiner Stellung am islamischen Gericht – er war Richter am Gerichtshof der Stadt al-Mansura – sondern es entzog ihm auch die Zulassung zur Berechtigung des Lehrens.[6] Ich möchte hier nicht im Einzelnen auf dieses Buch eingehen, es wurde von mir in zahlreichen Studien untersucht.

Bereits ein Jahr später erlebte ein weiterer Gelehrte der Azhar, Taha Hussain (1889-1979), die gleiche Krise, der vom Traditionalismus der Azhar und ihrer Abblockung des offenen Denkens und der freien Meinungsäußerung zur neuen Universität gewechselt war, der Ägyptischen Universität (heute Universität Kairo), wo ihm unbegrenzte Möglichkeiten für neue Erkenntnisse und Wissenschaften eröffnet waren. Kaum hatte er dorthin gewechselt, wurde er auch schon als Stipendiat nach Frankreich gesandt, um dort sein Studium fortzusetzen. Er kehrte 1919 mit einem Doktortitel in Soziologie zurück. Das Studium in Frankreich gab ihm – wie zuvor auch Mansur Fahmi – Einblick in die wissenschaftliche Methodik seines Faches, welche er bald nicht nur bei seinen literaturwissenschaftlichen Forschungen anwandte, sondern auch bei seinen Studien zur islamischen Geschichte. Taha Hussains Verbrechen war, dass er – im Sinne von Descartes – den Skeptizismus als wissenschaftlichen Ansatz einführen wollte. In seinen Vorlesungen zur vorislamischen Dichtung verknüpfte er Descartes Ansatz des Zweifelns mit den Errungenschaften der Prophetentradition in der Evaluierung der Überlieferungen.

Die gleichen Anschuldigungen, Gerichtsverfahren und das Konfiszieren von Büchern wiederholten sich nach Taha Hussain in vielen anderen Fällen, nicht nur in Ägypten, auch in anderen Ländern der arabischen Welt. Ähnlich erging es z. B. at-Tahir Haddad (1899-1935) nach Erscheinen seines Buches Imra’atuna fi ash-shari’a wa-l-mugtama (Unsere Frauen im islamischen Recht und in der Gesellschaft) im Jahre 1929.[7] Das Buch erregte viel Aufsehen, seine Gegner schrieben polemische Schriften gegen ihn und verfluchten und beschimpften ihn von den Kanzeln  der Moscheen. Die vielleicht bekannteste Antwort auf sein Buch ist al-Hidadu ala imra’at al-Haddad (Trauer um die Frau von Haddad). Der Titel [Ein Wortspiel mit dem Namen Haddad, aus dem sich Trauer ableiten lässt] sagt schon aus, auf welchem Niveau die Beschimpfungen und Flüche sich bewegten und auf was sie abzielten. Dies wirkte sich auf seine psychische Verfassung dermaßen aus, dass er jung und unglücklich starb. Erwähnenswert sei hier, dass Haddads Ideen – die Ursache seines Leidensweges – Inspiration für eine sozial ausgerichtete Zeitschrift in Tunesien war, die 1957 erschien und einen Gewinn von niemals wieder erreichtem Ausmaß für die tunesische Frau brachte.[8]

Ich möchte hier auch das Buch von Muhammad Ahmad Khalafallah erwähnen, al-Fann al-qasasi li-l-quran al-karim (Die Erzählkunst im Heiligen Koran), ursprünglich als Doktorarbeit vorgelegt, die die Kairoer Universität aber 1948 ablehnte und Khalafallah  zu Verwaltungsarbeiten innerhalb  der Universität degradierte.[9] Ebenso erging es Khalid Muhammad Khalid mit seinem Buch Min huna nabda’ (Von hier beginnen wir) aus dem Jahre 1950.[10] Auf Entscheidung des  Generalstaatsanwalts, der sich auf den Bericht des Leiters der Fetwa-Kommission der Azhar von Anfang Mai 1950 stützte, wurde das Buch konfisziert. Der Generalstaatsanwalt – derselbe, der Taha Hussain noch frei sprach – verurteilte den Autor und sein Buch in einer Weise, die nicht minder hart, rückschrittlich und extrem war wie der Bericht  der Azhar selbst.

All diese Gerichtsverfahren und Bücherverbote sind Ausdruck der allgemeinen Unruhe und aufgeladenen Atmosphäre zwischen den zwei Lagern, der liberalen und der salafitischen Geistesströmung. Es ist ein Wettkampf zwischen Moderne und Konservatismus, zwischen dem Streben nach Fortschritt und Entwicklung, dem Bemühen um Stabilität und Tradition.

Vor diesem Hintergrund ragt Amin al-Khuli heraus (1895-1966), Begründer der Theorie der „literarischen Interpretation des Heiligen Korans“, insbesondere Begründer der Schule der literarischen Koraninterpretation an der Universität Kairo. Er besaß die Fähigkeit, die Problematik der Offenbarung versus historischer Überlieferung auf eine absolut realistisch-historischen Ebene anzugehen. Die literaturwissenschaftliche Interpretation des Koran von al-Khuli unterscheidet  zwischen zwei Dimensionen: die realistische und die idealistische Dimension. Al-Khuli erklärt dies in einfacher, verständlicher Sprache. Er zeigt, dass es theoretisch ein Spannungsverhältnis gibt zwischen der Offenbarung als vom Himmel gesandte ideale Botschaft und der Geschichte in ihrer gesellschaftlichen und menschlichen Dimension, also dem Raum, in dem die Offenbarung stattgefunden hat. Aus dieser historischen Dimension kommt die realistische Dimension der Offenbarung hervor, ohne dabei die ideale Dimension zu verstecken oder zu verbergen. Ebenso wenig verdeckt das Ideal der Offenbarung die historische Dimension. Das Problem liegt in der Methodik der Interpretation und Deutung: Wie können wir eine Methode finden, die beide Dimensionen berücksichtigt und den wahren Kern der Bedeutung aus der Symbiose der scheinbar nicht zu vereinbarenden Dimensionen ableitet? Die einzige Antwort darauf ist die literarische Interpretation des Koran.

Die Ergebnisse, zu denen al-Khuli mit seiner literarischen Interpretation des Koran kam, zeigen nicht nur, wie kompetent diese Methode ist, sondern zeigen auch al-Khulis Fähigkeit, Bedeutungsschichten zu entdecken, die den Koran wirklich gültig für alle Orte und Zeiten macht, nicht nur in dem, was er explizit sagt und mitteilt, sondern auch was er indirekt andeutet und auf was er hinweist.
Der Koran ist einerseits Ausdruck einer historischen Realität der Araber, ihrer kulturellen Wahrnehmung und Lebensweise des 7. Jahrhunderts. Er deutet und weist aber auch auf entfernte Ziele, die dem Ideal nahe sind. Man könnte die Versuche, den Koran für die verschiedenen doktrinären Glaubenslehren auszunutzen – einschließlich der sogenannten „naturwissenschaftlichen Exegese“ , die al-Khuli heftig kritisiert – beschreiben als  Versuche, das Ideal auf dem Boden des konkretem Realismus zu bringen. Umgekehrt werden bei diesen Ansätzen wiederum realistische Passagen im Koran idealisiert. Kurz gesagt, bei Interpretationen orthodoxer Glaubenslehren bzw. ideologisch geprägten Schulen, welche sie auch immer seien, wird das Verhältnis zerstört, der Aufbau wird vernichtet, die Bedeutung und Zeichen verfälscht.

Leider hat sich niemand gefunden, der die solide Methodik al-Khulis anwendet und weiterentwickelt, insbesondere nachdem seinem Schüler Muhammad Ahmad Khalafalla das widerfahren war, was ich anfangs geschildert habe. Weil sich keiner fand,  der den Ansatz al-Khulis weiterentwickelte – einer Methode, die jede Art von ideologischer Interpretation, möge sie noch so gutwillig sein, ablehnt -, so waren Mahmud Muhammad Taha im Sudan, Muhammad Shahrur in Syrien, Gamal al-Banna und Khalil Abd al-Karim in Ägypten nicht imstande, sich von den Ideologien zu befreien, die jedes Mittel zum Zweck rechtfertigen.

Von all diesen Versuchen einer moderneren Sichtweise der Exegese bildet Hassan Hanafi eine Ausnahme. Er spricht wiederholt und ausführlich von der Offenbarung als dialektisches Verhältnis zwischen dem Göttlichen und dem Menschlichen, von einer Auseinandersetzung zwischen Himmel und Erde, zwischen dem Hoheitlichen und dem Wahrnehmbaren….etc. Auch  der pakistanische Denker Fadl ar-Rahman bildet eine Ausnahme. Er hebt die positive Rolle des Propheten Muhammad im Offenbarungsprozess hervor, indem er betont, dass der Prophet nicht nur Briefträger ist. Beide Gelehrten – Hanafi und ar-Rahman –  gingen jedoch über diese flüchtigen Anmerkungen nicht hinaus. Hanafi befasste sich – und befasst sich immer noch – mehr mit der Erneuerung der Traditionswissenschaften. Seine Errungenschaften in diesem Bereich ergänzen sich mit denen von Muhammad Abid al-Gabiri und Tayyib at-Tizini und anderer Philosophen. Was ar-Rahman betrifft, so hat er sich auch mit der Frage der Erneuerung befasst und in der praktischen Anwendung große Leistungen vollbracht. Die Kernfrage aber, die Frage nach dem „Wort Gottes“, beließ er unbeantwortet.

Warum ist die Frage nach dem „Wort Gottes“ wichtig? Eine Erneuerung des religiösen Diskurses kann sich nicht erfolgreich durchsetzen, wenn der Umgang mit den grundlegenden Texten – Koran und Sunna – immer noch derselbe ist, wie er einst aus den theologischen Grundwissenschaften, die das islamische Denken seit dem 3. Jahrhundert d.H. prägten, abgeleitet ist. Ohne diese seither unterdrückte, abwesende, verhinderte Frage zu stellen, bleibt die Exegese ein Instrument zum Hineinlegen der Moderne in die Texte, nicht  zum wahren Verstehen der Texte.

Ich habe versucht, verschiedene Beispiele moderner Koranauslegungen anzuführen, wobei deutlich wurde, welche Tücken und Gefahren entstehen, wenn man versucht, die herkömmlichen Bedeutungen aus der Umklammerung modernistischer Deutungsmuster hervorzuholen. Dies geschieht die ganze Zeit in regelmäßigen Abständen, weil wir alle vom gleichen Begriff ausgehen, dem Begriff des Koran als ewig zeitloses „Wort Gottes“. Diese Definition des Koran als ewig zeitloses „Wort Gottes“ ist verantwortlich für die Billigung der Islamisierung des Wissens,  der Islamisierung der Naturwissenschaft, sowie für die Billigung  von  Gewalt, Mord und Anklagen im Namen Allahs wegen Unglaubens.

Wenn das „Wort Gottes“ die Eigenschaft der Ewigkeit  und Zeitlosigkeit hat, dann ist die arabische Sprache eine äußere Schale, die seine Bedeutung verhüllt, wie es al-Ghazali in seinem Buch Gawahir al-quran (Die Kerninhalte des Koran) sagt. Da die Sprache eine Schale ist, haben alle Wissenschaften wie  Sprachwissenschaft,  Rhetorik, Stilistik und Semantik die Aufgabe, diese Schale zu entfernen, um die dahinter verborgenen Bedeutungen zu finden. Dies betrifft also alle Wissenschaften, die vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen.

Weil das „Wort Gottes“ – der Koran – Verkörperung seiner Zeitlosigkeit ist, umfasst es somit auch die Moderne mit all ihren Werten, Begrifflichkeiten und Philosophien in gleichem Maße, in dem durch den Koran Mord, Anklage wegen Unglaubens und Verbannung gerechtfertigt werden. Wenn dem so ist, wenn also der Koran als ewig zeitloses „Wort Gottes“ all diese Arten von Bedeutungen und Zeichen in sich trägt, das Neue und das Alte, das Fundamentale und Liberale, das Gewalttätige und das Gegenteil … etc, welche dieser zahlreichen Bedeutungen siegen dann? Welche herrschen vor, um die anderen parallelen Deutungen entgültig in den Kerker der Häresie, Apostasie, des Unglaubens, des Fundamentalismus’, Extremismus’ und Terrorismus’ einzusperren? Die Bedeutungen, die immer siegen und vorherrschen werden, sind die, die der Stärkere für sich in Anspruch nimmt, der im Besitz von Macht und Herrschaft ist. Er mag fortschrittlich sein, dann wird er die Vertreter nichtmoderner Deutungen besiegen. Er mag aber auch rückschrittlich sein, dann wird er die Modernen besiegen. Der politische und gesellschaftliche Kampf wird zu einem Kampf um Auslegungen. 

Es scheint, dass wir über Religion streiten? Im Grunde aber benötigen unsere politischen Systeme an erster Stelle eine Modernisierung. Wir brauchen Freiheit, denn sie ist die Voraussetzung für den Denkprozess, der wiederum Instrument für Erneuerung und Änderung ist. Wir brauchen Demokratie, deren Wesenszug die individuelle Freiheit ist. Sie darf  nicht nur aus der Wahl einer Partei und aus einer Gesichtsveränderung bestehen. In einer demokratischen Atmosphäre werden die Freiheit des Einzelnen und sein Recht auf freie Wahl bewahrt. In dieser Atmosphäre kann man von der Freiheit der Wissenschaften und akademischen Lehre in allen Wissensbereichen sprechen, insbesondere im Bereich der Religionswissenschaften. Es handelt sich in diesem Fall um akademische Institutionen, die Religionen „wissenschaftlich untersuchen“, nicht nur „lehren“, wie es in der gesamten islamischen Welt der Fall ist. Die wissenschaftliche Untersuchung der Religionen, ihre Geschichte, ihre Struktur, ihre Theologie, die Methoden der Exegese, die Vorgehensweisen bei der Auslegung, der Aufbau ihrer Institutionen, der Unterschied zwischen Glaube und Dogma … usw. –  all dies ist grundsätzlich anders als bei den Institutionen, die Religion „lehren“. Zugelassen wird dort nur das Unterrichten der aus der Sicht der Institution wahren Dogmen, die von den falschen Dogmen nach Ansicht der Institution unterschieden werden. Sobald aber diese anderen wissenschaftlichen Einrichtungen für das Studium der Religionen eingerichtet sind, ist es möglich, die vergleichende Religionswissenschaft zu gründen, eine Fachrichtung, die bei den Institutionen, die  Religion lehren, nicht existiert. In diesem Fall – bei Vorhandensein der Voraussetzungen – kann die freie Diskussion eröffnet werden in allen bisher unterdrückten, problembelasteten und verschwiegenen Fragen. So wird es möglich sein, sogar das – um Arkouns Sprache zu gebrauchen –„Nicht-Gedachte“ als Thema zu diskutieren. 

In einer Atmosphäre, in der ein Mindestmaß an individueller Freiheit, Freiheit der Wissenschaft und der freien Meinungsäußerung, vorhanden ist, können folgende Fragen angeregt werden, Fragen, ohne die es – sollte man sie nicht offen diskutieren dürfen – keine Chancen für eine Erneuerung des religiösen Diskurses geben wird.  Es sei denn, man versteht den Diskurs (khitab) als Predigt (khutba) und will das alte Denken lediglich in eine moderne Sprache füllen. Dies ist hier und da immer wieder der Fall, wenn man über Erneuerung des religiösen Diskurses spricht.

Die erste und wichtigste Frage lautet:
Was bedeutet, „der Koran ist das Wort Gottes“? Hier geht es nicht darum, ob das Wort Gottes ewig zeitlos ist oder neu und erschaffen. Das war eine Frage, mit der man sich in den ersten Jahrhunderten des Islam beschäftigt hat als Antwort auf die Behauptung der Christen, im Koran sei Christus widersprüchlich dargestellt. Er sei einerseits das Wort Gottes und Teil seiner Seele, andererseits ein normales menschliches Wesen. Die islamischen Gelehrten des frühen Islam sahen es als ihre Aufgabe, den Islam vor dem Vergleich mit dem Christentum zu schützen, indem sie den Begriff von der „Erschaffenheit des Wort Gottes“ prägten und ihn für den Koran verwendeten. Meine Frage hat mit diesem geschilderten Problem nichts zu tun, ich habe eine andere Absicht und der Kontext ist ein anderer. Der Kontext, in dem wir uns befinden, ist der eines wissenschaftlichen Seminars und einer Suche nach dem objektiven Verstehen.

Von dieser Frage leiten sich viele weitere Fragen ab, z. B. die Frage nach dem Charakter der Offenbarung und der Art und Weise, wie Offenbarung erfolgte, sowie die Frage, ob die Kommunikation verbal über die Sprache oder nonverbal durch Eingebung und Inspiration erfolgte. Der Koran selbst spricht von Eingebung als nonverbale Kommunikation. Dies ist das Ergebnis vieler Forscher, ohne dabei jedoch die rote Tabugrenze der traditionellen Auslegung des folgenden Koranverses zu überschreiten: „Und es steht keinem Menschen an, dass Gott mit ihm spricht, es sei denn durch Eingebung oder hinter einem Vorhang, oder indem Er einen Boten sendet, der ihm dann mit Seiner Erlaubnis eingibt, was Er will.“ (Koransure 42, Vers 51). Die traditionellen Auslegungen dieses Verses unterscheiden drei Arten der Kommunikationsmittel, mit denen Gott mit dem Menschen in Verbindung tritt: Die erste Art ist die Eingebung. Als Beispiel dafür ist die Art und Weise, wie Gott zu Moses’ Mutter sprach. Die zweite Art ist, wie Gott mit Moses hinter einem Vorhang, dem Vorhang des Berges und des Feuers, sprach – diese Interpretation ist umstritten, die Mutaziliten interpretieren es so, dass Gott Worte schuf, die Moses hören konnte. Damit versucht man die göttliche Einheit – tauhid – zu schützen bzw. jede Art von Vergleich zwischen Gott und Mensch zu vermeiden. Die dritte Art der Kommunikation zwischen Gott und den Menschen ist die Offenbarung im Islam, vermittelt durch einen Boten, in diesem Fall Gabriel, der zu Muhammad sprach. Die traditionelle Exegese betrachtet die Kommunikation zwischen Gabriel und Muhammad als eine sprachliche Kommunikation, das heißt, Gabriel sprach zu Muhammad in arabischer Sprache. Dies ist eine Interpretation, die der o.g. Koranvers nicht beinhaltet. Dort heißt es ja, der Bote gibt dem Menschen ein, was Er will, was hieße, dass die Kommunikation zwischen Gabriel und Muhammad nonverbal war in Form einer Eingebung. Diese Auslegung ist meines Erachtens von vielen Überlieferungen, die auf den Propheten zurückgeführt werden, bestätigt. In denen berichtet er, dass die Offenbarung ihm manchmal wie das „Läuten der Glocken“, ein anderes Mal wie das „Summen der Bienen“ herabgesandt wurde. Diese Beschreibung kann niemals auf eine verbale Kommunikation im normalen Sinne deuten.

Aus dieser beschriebenen Problematik ergeben sich neue Themen zur Diskussion über die Bedeutung der Prophezeiung und ihre Deutung. Was bedeutet die Tatsache, dass der Koran nicht auf einmal von Gott an Muhammad herabgesandt wurde, sondern stückweise entsprechend den Umständen und den gegebenen Begleiterscheinungen? Daraus erfolgt eine weitere Frage: Besteht der Koran aus einem einzigen Text oder aus mehreren Texten, die alle in unterschiedlichen Kontexten entstanden sind? Wenn das so ist – daran besteht ja kein Zweifel – warum wurden dann die koranischen Texte, als sie zu einem Buch zusammengefasst wurden, nicht in chronologischer Reihenfolge, in der Reihenfolge ihrer Offenbarung, geordnet, sondern in einer Anordnung, deren Bedeutung noch nicht untersucht ist. Diese Frage soll nicht im geringsten am Koran als solchen zweifeln. Vielmehr soll sie die Diskussion eröffnen, die dem „Sinn“ nach der derzeitigen „Anordnung“ nachgeht, sei es eine tauqifi göttliche Anordnung, oder eine taufiqi menschlich gemachte Anordnung, wie es einige nennen.

Die Frage nach der Anordnung der Verse leitet zur nächsten Frage über, der Frage nach dem Prozess des Sammelns und Niederschreibens des Koran. Wie hat er begonnen? Wie hat der Koran sich von der bloßen osmanischen Schrift entwickelt, die sich durch Fehlen der diakritischen Punkte (Punktuation), der Vokale (Vokalisation, anhand derer die Syntax deutlich wird), sowie durch Fehlen von Punkten, Kommas oder irgendeines Pause-Zeichens kennzeichnet, bis er später zu einer klar lesbaren Schrift wurde? Und in welchem Verhältnis steht diese letzte gereifte schriftliche Form mit den verschiedenen Lesarten, von denen es unzählige gibt, bis Ibn Mugahid entschieden hat, dass es nur noch sieben von der Sunna anerkannten Lesungen geben soll? Dies geschah lange nach der Vokalisierung des Koran. Trotzdem zeigt die Geschichte der Lesarten, dass Ibn Mugahid und andere die Vielfalt der Rezitationsarten nicht eingrenzen konnten. Drei Lesarten wurden den sieben hinzugefügt, damit wurden es 10. Es folgten weitere neue, dann wurden es 14., sieben als verbindliche von der Sunna vorgeschriebe Lesungen und sieben erlaubte. Nichtsdestotrotz veröffentlicht Ibn Ginni das Buch al-Muhtasib fi tabyin wuguh al-qira’at ash-shadhdha (Untersuchung zur Erläuterung der Eigenschaften nichtkanonischer Lesarten des Koran) und räumt den  ungewöhnlichen Lesarten einen Platz ein. Daraus ist zu schließen, dass es neben den 14 Lesarten noch zahlreiche andere gibt und dass dies durchaus wahrgenommen wird.

In diesem Zusammenhang sollte man auch nicht – weder aus wissenschaftlichen Gründen noch aus Gründen des Glaubens – die aus verschiedenen Handschriften bestehenden Blätter ignorieren, die man zufällig im Dachgeschoss einer Moschee in Sanaa im Jemen gefunden hat, nachdem das Dach nach einem starken Regenfall 1972 herabgestürzt war. Die Handschriften sind in der Higazi-Schrift geschrieben. Vielleicht sind sie die übriggebliebenen Reste der Handschriften, die der 3. Kalif Uthman verbrennen ließ. Diese Handschriften enthalten nichts anderes als den Koran, den wir kennen. Sie sind nur in einer Weise niedergeschrieben, die andere Lesarten möglich machen, andere als die, die der Koran in der jetzigen Form  erlaubt.

Ebenso wenig sollte man die Herausforderung eines deutschen Wissenschaftlers unbeachtet lassen, der sein Buch im Jahr 2000 unter einem Pseudonym  veröffentlicht hat.[11] Seiner Meinung nach sei der Koran hauptsächlich aus einer ursprünglich christlichen Schrift entlehnt, in Ost-Aramäisch, also Syro-Aramäisch geschrieben. Viele der sprachlichen Probleme und rätselhaften Sprachstile im Koran, die viele muslimische Exegeten und europäische Übersetzer ratlos machen, hätten ihre erfolgreiche Lösung, wenn man die altsyrische Sprache konsultieren würde.[12]

Sollte dieses Buch nicht übersetzungswürdig sein, damit wir muslimischen Wissenschaftler und Forscher uns an der aktuellen Diskussion über unser heiliges Buch beteiligen können, anstatt dass wir uns weiterhin vom Rest der Welt abschotten und in Isolation verweilen, in der wir uns bis zum heutigen Zeitpunkt befinden? Seit wir gezögert haben, das Buch von Theodor Nöldecke Geschichte des Koran Ende der 90er Jahre zu übersetzen, hat sich der Graben zwischen uns und den Forschungen Anderer vergrößert. Als schließlich George Tamer zusammen mit einer Reihe von kompetenten Übersetzern das Buch übersetzt hat, und das Buch mit finanzieller Unterstützung einer deutschen Stiftung in Beirut erschien, wurde das Buch mit der Begründung konfisziert, es würde zu konfessionellen Auseinandersetzungen anstiften. Dies ist beschämend, wann immer so etwas geschieht.  Insbesondere ist es eine Schande, da es sich im 21. Jahrhundert abspielt.

Wir sollten uns den Herausforderungen stellen, statt die Köpfe in den Sand zu stecken und an diesem feigen Verhalten festzuhalten, immer wenn es darum geht, die Religion mit anderen Methoden als die, die wir über Jahrhunderte gewohnt sind, zu untersuchen. Wir müssen uns entscheiden zwischen einer blinden Nachahmung, wie unsere Vorväter es auszuüben pflegten, und einem selbstständigen Handeln in der Gegenwart, indem wir uns mit den Methoden des Studierens vertraut machen und mit unseren Zeitgenossen diskutieren, unabhängig von der Tatsache, dass sie sich von uns durch ihre Religionszugehörigkeit unterscheiden, wie es Ibn Rushd sagen würde.

Wenn die Glaubensschwäche uns nicht überwältigt, und wir die Diskussion um das Thema und die Prüfung von Tatsachen zulassen, und wir nicht darauf bestehen, die Vernunft auszuschalten, wohin mögen all diese Fragen dann führen? Diese Fragen werden mit Sicherheit nicht den Koran abschaffen.  Ebenso wenig werden sie die Religion vernichten und den festen Glauben erschüttern. Sondern es werden uns neue Möglichkeiten des Verstehens eröffnet, das die Offenbarung des Göttlichen in dem Menschen sieht und das „Wort Gottes“ in der gewöhnlichen Sprache des Menschen wiederentdeckt. Die historische Untersuchung des Koran kann uns den Kontext liefern, der uns mit der Zeit abhanden gekommen ist, damit wir den Sinn der göttlichen Botschaft und ihre Bedeutung erkennen und zwischen den „historisch bedingten“ und den „zeitlosen“ Bedeutungen unterscheiden können. Wir würden z. B. entdecken, dass all die Bestrafungen für die Übertretung eines koranischen Verbotes (hudud) wie Abhacken der Hand eines Diebes,  Auspeitschung eines Ehebrechers, Auge um Auge, Zahn um Zahn usw. all diese Strafen ihren Ursprung in der vorislamischen Zeit haben. Wir würden erkennen, dass die „zeitlose“ Bedeutung darin liegt, dass das System der Gerechtigkeit durch Bestrafung realisiert werden muss. Was die Umsetzung der Strafe anbetrifft, so ist dies den historischen Umständen entsprechend, also je nach Zeitalter anders.

Wir erkennen damit, dass wir niemals die „historisch bedingte“ Bedeutung auf Kosten der „zeitlosen“ bevorzugen dürfen. Ist einmal festgestellt, dass die Gerechtigkeit an sich das Primäre ist, so verstehen wir folglich auch, dass der Befehl, zu töten – Polytheisten und andere – die „historisch bedingte“ Bedeutung ist. Ein Beweis dafür ist die Tatsache, dass die Muslime bei ihren Eroberungen anderer Länder niemals Massentötungen von Polytheisten veranlasst haben. Nicht einmal der Prophet hat zu seiner Zeit seine Gegner getötet, als er Mekka eingenommen hat.
Wenn wir dies begriffen haben, werden wir die Historizität des koranischen Textes nicht als etwas Zeitliches verstehen. Wir begreifen den Korantext als kulturelles Produkt in seiner historischen Entstehung und gleichzeitig als Erzeuger einer neuen Kultur in der Geschichte. Die Erzeugung einer Kultur durch den Text geschieht jedoch nur über die Rezeption des Korantextes durch die Muslime, die wiederum von ihren eigenen  Perspektiven und Geisteshaltungen abhängig ist. Wenn wir dies verstehen, können wir schlussfolgern, dass diese Kultur, die die Muslime selbst erzeugt haben, eine zeitlich gebundene Kultur ist, die wir kritisch analysieren und verstehen können, unabhängig davon, ob sie sich in den islamischen Gesetzeswissenschaften (fiqh), in der Koranexegese, in den Traditionswissenschaften (hadith), der Philosophie, der scholastischen Theologie (ilm al-kalam), der islamischen Mystik oder der Sprach- und Literaturwissenschaft niedergeschlagen hat.

Wenn dieser Zustand gegeben ist, haben wir unsere Kultur wieder in unserem Besitz. Wir können darauf aufbauen, indem wir selbst anfangen, neue Fragen zu stellen, anstatt dass unsere eigene Kultur uns zur Last wird, wie es im Moment der  Fall ist. 
 
[1] Min zu’ama’ al-islah von Ahmad Amin, Teil 2, S, 7-8.
[2] in der arabischen Übersetzung des Buches siehe Abduhs Reaktionen darauf, erschienen bei al-Hai’a al-misriyya al-amma li-l-kitab, Kairo, S. 15-93.
[3] Qasim Amin war nicht der erste, der Bücher speziell zu diesem Thema (Frauenemanzipation) aus liberaler Sicht schrieb. Aber er war der berühmteste und wirkungsvollste, bis er schließlich zum „Befreier der Frau“ gekürt wurde. Ihm vorangegangen war der Algerier Muhammad ibn Mustafa ibn al-Khawga, dessen Buch al-Iktirath fi huquq al-inath (Beachtung der Sorge um die Rechte der Frau) 1895 erschienen war, also vier Jahre vor Qasim Amins Befreiung der Frau und fünf Jahre vor Erscheinen seines 2. Buches Die neue Frau. Muhammad ibn Mustafa ibn al-Khawgas Buch wurde deshalb 1999 neu vom Hohen Rat für Kultur im Rahmen der Jubiläumsfeier in Erinnerung an die Erstausgabe von Qasim Amins Buch Befreiung der Frau mit einer Einleitung von Muhammad Hafiz Diyab aufgelegt. 
[4] Muhammad Abu Zaids Publikationen sind: az-Zawag wa-t-talaq fil-lislam, Kairo 1927, Mukhtasar min zad al-mi’ad, Kairo o. J., al-Hidaya wa-l-irfan fi tafsir al-qur’an bi-l-qur’an, Kairo 1930.
[5] nähere Details zum Verfahren von M. Abu Zaid siehe Artikel von M. Rachid Reda  „Ilhad fi-l-qur’an“, und „dinun gadidun baina l-batiniyya wa-l-islam“, in der Zeitschrift al-Madar (Kairo), Bd. 21, Heft 1, S. 49-56 und Bd. 31, Heft 9, S. 673-697, Bd. 10, Heft 10, S. 753-770.
[6] Einzelheiten zu diesem Gerichtsverfahren ist nachzulesen bei Muhammad Amara al-Islam wa-usul al-hukm von Ali Abd ar-Raziq: Eine dokumentierte Untersuchung, al-Mu’assasat al-arabiyya li-d-dirasat wa-n-nashr, Beirut 1988, S. 57-111.
[7] siehe meine Ausführungen und Kommentare in meinem Buch Dawa’ir al-khauf, qira’a fi khitab al-mar’a, al-Markaz ath-thaqafi al-arabi, Beirut 2000², S. 65-72.
[8] Ich habe diese Zeitschrift (als juristisches Dokument) in der vorangegangenen Fußnote im erwähntem Buch besprochen, S. 281-309.
[9] Näheres dazu in Amin al-Khulis Vorwort zur zweiten und dritten Ausgabe von al-Fann al-qassasi fi-l-quran al-karim. Al-Khuli war Abd ar-Raziqs Doktorvater , siehe Maktabat an-nahda al-misriyye (4. Ausgabe).
[10] siehe Sonderheft von al-Ahali, der Zeitung der linken Sozial-Demokratischen Unionspartei, mit Zitaten aus dem Gerichtsverfahren und dem gesamten Text des Buches, al-Ahali, 4. Mai 1996.
[11] Sein Pseudonym lautet Christoph Luxenberg, und das Buch trägt den Titel Die syro-aramäische Lesart des Koran: Ein Beitrag zur Entschlüsselung der Qur’ansprache, Das Arabische Buch, Berlin 2000.
[12] Rezensionen zu diesem Buch: Robert R. Phenix Jr. und Cornelia B. Horn an der University of St. Thomas, Minnosota, USA, Department of Theology, erschienen in der Zeitschrift Hugoye: Journal of Syriac Studies, Bd. 6,  Heft 1(Januar 2003).

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