Laudatio

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Laudatio für Nasr Hamid Abu Zayd

Prof. Dr. Rotraud Wielandt

Berlin 25.11.2005

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

ich habe heute die große Ehre und Freude, mit Ihnen die Verleihung des Ibn-Rushd-Preises für freies Denken an Nasr Hamid Abu Zayd zu feiern, den ich hier zusammen mit seiner Gattin, Frau Professor Ibtihal Yunis, unter uns begrüßen darf. Er hat sich für das Anliegen, islamischen Offenbarungsglauben und wissenschaftliche Rationalität auf der Höhe dieser Zeit zusammenzubringen, mit beispielhafter intellektueller Redlichkeit und Konsequenz eingesetzt, und er und seine Frau haben dafür erhebliche persönliche Belastungen auf sich genommen.

Wir kennen Nasr Hamid Abu Zayd heute als einen  international hoch geachteten Wissenschaftler, der seit dem Jahr 2002 den Ibn-Rushd-Lehrstuhl für Islam und Humanismus an der University of Humanistics zu Utrecht bekleidet. Auch schon vor dem heutigen Tag sind ihm etliche renommierte Auszeichnungen zuteil geworden, in arabischen Ländern, in Europa und in den U.S.A.; er erhielt angesehene Stipendien und Gastprofessuren, so war er z.B. 2000/2001 Inhaber des Cleveringa-Gedächtnislehrstuhls für Religions- und Gewissensfreiheit an der juristischen Fakultät der Universität Leiden, 2002/2003 Fellow am Wissenschaftskolleg in Berlin. Sein Weg in die akademische Laufbahn ist allerdings nicht leicht und auch nicht kurz gewesen: 1943 wurde er auf einem ägyptischen Dorf im Nildelta geboren, wo sein Vater einen Laden betrieb. Als er 14 Jahre alt war. starb der Vater. Kurz zuvor hatte er entschieden, dass Nasr trotz sehr guter Schulleistungen nicht auf die Sekundarschule gehen, sondern einen praktischen Beruf erlernen sollte, damit er die Familie ernähren könne. Daraufhin  schloss er erst einmal eine Ausbildung als Funktechniker ab und war dann in diesem Beruf tätig, mit seinem kleinen Gehalt für Mutter und fünf Geschwister sorgend. Das Abitur holte er später auf dem zweiten Bildungsweg nach. Auch während seines ganzen Studiums der Arabistik an der Universität Kairo, das er in seinem 25. Lebensjahr glücklich aufnehmen konnte, hat er in Wechselschicht weitergearbeitet, um die Seinen über Wasser zu halten.

Dass er sich den Zugang zur Hochschule aus bescheidenen Verhältnissen heraus so schwer erkämpfen musste, hat ihn nachhaltig geprägt: Diese Lebensumstände haben ihn schon in jungen Jahren daran gewöhnt, das, was er für sich selbst als richtig erkannt und sich vorgenommen hatte, auch gegen Widrigkeiten durchzuhalten. Und sie haben ihm eine gesunde kritische Distanz zu den Mächtigen und Privilegierten vermittelt.

In der Wissenschaft, die ihm dann schließlich wunschgemäß doch noch zum Beruf wurde, gab und gibt es für Nasr Hamid Abu Zayd ein einziges großes Lebensthema, das ihn seit seiner Magisterarbeit niemals losgelassen hat: die Frage nach der Beziehung zwischen dem Korantext und dessen Hörern oder Lesern, und hier speziell nach den Bedingungen der Möglichkeit der Rezipienten, den Koran so zu verstehen, dass er ihnen sagt, was Gott ihnen in ihrer jeweiligen kultur- und sozialgeschichtlichen Situation sagen will. Diese hermeneutische Grundproblematik hat er in einer Vielzahl von Publikationen immer wieder aus neuen Perspektiven durchdacht.

Ansatzpunkte boten ihm dafür zum einen die Vorstellungen, die von ganz unterschiedlichen Strömungen und Einzelpersönlichkeiten der älteren islamischen Tradition über das Verhältnis zwischen der Sprachgestalt des Koran und ihrer durch die Leser zu erschließenden Bedeutung entwickelt worden sind; sie hat er systematisch und tiefgehend erforscht. Dabei kamen theologische Schulrichtungen wie z.B. die der Mutaziliten und der Ašariten ebenso in seinen Blick wie das Rechtsschulhaupt aš‑Šafi’i, die islamische Mystik oder bekannte Autoritäten auf dem Gebiet der arabischen Stilkunst, bei denen sich Elemente einer Sprachtheorie und Semiotik finden lassen. Beim Studium alles dessen stellte  Nasr Hamid Abu Zayd die unterschiedlichen  Denkansätze stets in ihren jeweiligen historischen Kontext, würdigte ihre Leistung, benannte aber auch klar ihre Grenzen, wo ihm solche vorzuliegen schienen. Hervorgehoben zu werden verdient, dass er sich dabei strikt des sonst von muslimischen Autoren theologischer Literatur so häufig geübten Verfahrens enthalten hat, das eigene Kulturerbe lediglich selektiv zu lesen und zur apologetischen Untermauerung vorgefasster eigener Standpunkte heranzuziehen.

Zum anderen bezog er wesentliche Impulse aus neueren westlichen Theorien zur Hermeneutik und Semiotik, in die er sich zunächst anhand der Werke einer Vielzahl verschiedener Autoren eingelesen hat. Insbesondere der deutsche Philosoph Hans Georg Gadamer mit seinem Buch „Wahrheit und Methode“ wurde ihm dabei zu einer wichtigen Bezugsgröße. Auch das innovative Potential der Untersuchungen des japanischen Islamwissenschaftlers Toshihiko Izutsu zur Semantik und zugleich zum Weltbild des Koran erkannte er sofort  und integrierte es in seine eigene Theoriebildung.

Auf der Grundlage der so erworbenen Vertrautheit mit einer großen Breite ganz unterschiedlicher theoretischer Zugänge zum Phänomen des Textverstehens, älteren arabisch-islamischen wie neuzeitlichen von Nichtmuslimen, hat er im Laufe der Jahre einen ganz eigenständigen koranhermeneutischen Gesamtentwurf entwickelt, den er immer weiter konkretisierte und präzisierte und an dem er auch heute noch weiterbaut. Ich kann hier nicht jede einzelne seiner Publikationen, in denen dieser Entwurf Gestalt gewann, ausführlich vorstellen, möchte aber doch einige besonders wichtige unter ihnen erwähnen:

Sein Erstlingswerk, die 1977 abgeschlossene Magisterarbeit, die vier Jahre später unter dem Titel „Die rationalistische Strömung in der Koranexegese“ (al‑Ittigah al‑aqli fi t‑tafsir) als Buch  erschienen ist, untersuchte Anschauungen der Theologenschule der Mutaziliten über das Verhältnis zwischen den metaphorischen Aussagen des Koran und deren Bedeutungsgehalt für die menschlichen Hörer oder Leser. Wie er dabei feststellte, gehen die Mutaziliten im Gegensatz zu ihren ašaritischen Gegnern davon aus, dass der verstehbare Sinn der im Koran enthaltenen sprachlichen Zeichen nicht einfach auf einer Setzung durch Gott beruht, sondern wie alle Bedeutung von Sprache zuvor unter den Menschen, die die Adressaten der göttlichen Botschaft sind, durch Konvention festgelegt worden sein muss. An diese Auffassung hat er sich später mit einer tragenden Prämisse seiner eigenen Koranhermeneutik angeschlossen: der Grundannahme nämlich, dass sich der Koran, auch wenn der Urheber seines Textes allein Gott ist, menschlicher Sprache  bedient haben muss, um von Menschen verstanden werden zu können. Im übrigen öffnete ihm die intensive Beschäftigung mit den zwischen Mutaziliten und Ašariten ausgetragenen Kontroversen über das Offenbarungsbuch und über die Konstituierung von dessen Textverständnis bei den Lesern nach eigenem Bekunden die Augen dafür, dass mit Debatten um den Koran, die auf den ersten Blick theologischer Natur zu sein und sich ausschließlich um Begriffe, Definitionen und Dogmen zu drehen scheinen, Kämpfe ausgetragen werden, in denen es in Wirklichkeit um politische und gesellschaftliche Macht geht – ein Phänomen, auf das  er dann auch in seiner eigenen Gegenwart  verstärkt sein Augenmerk richtete und das ihn eines Tages noch persönlicher betreffen sollte, als er zunächst ahnte.

In seiner Dissertation, an der er zwei Jahre lang auch mit einem Stipendium der Ford Foundation an der University of Pennsylvania in den U.S.A. gearbeitet hat und mit der er 1981 den Doktorgrad erlangte, befasste er sich mit den Ansätzen zu einer Theorie der Koranauslegung (falsafat at‑ta’wil), die  der große Mystiker Ibn al‑Arabi  entwickelt hat, und mit deren Ort innerhalb seiner Vorstellung von der Zeichenhaftigkeit des gesamten Universums, das für den Kundigen als Manifestation Gottes selbst lesbar ist. An Ibn al‑Arabi beeindruckte ihn unter anderem die scharfe Sicht des Relativen, das jeder menschlichen Erkenntnis bleibend anhaftet, wenn sie hinter die äußeren Zeichen sprachlicher wie nichtsprachlicher Art zur göttlichen Wahrheit selbst vorzudringen sucht. Sie machte ihm vollends bewusst, dass sich keine einzelne Koraninterpretation absolut setzen darf, vielmehr immer auch andere ernst genommen und in Betracht gezogen werden müssen.

In die Zeit seines Aufenthalts in den U.S.A. fiel auch seine Entdeckung der Relevanz neuerer westlicher Hermeneutik für die Theorie des Koranverständnisses. Und während er Gadamer und Ibn al‑Arabi nebeneinander las, wurde ihm, wie er später berichtet hat, die Richtigkeit der Einteilung der Philosophie in eine östliche und eine westliche zunehmend zweifelhaft: Denn allen in beiden geht es, wie er nun sah, um dieselben allgemein menschlichen Grundfragen, so auch um die ihm besonders wichtige Frage des Verhältnisses des Lesers zum Text, und sogar in den Versuchen, diese Frage zu beantworten, tauchen bisweilen verwandte Motive auf. Damit bahnte sich bei ihm die weitherzige und produktive Synthese von Gedankengut aus seiner heimischen Gelehrsamkeitstradition und Ergebnissen der denkerischen Bemühungen von Nichtmuslimen an, die für seine ganze weitere wissenschaftliche Arbeit kennzeichnend geworden ist – eine Synthese, die sich im übrigen darauf berufen kann, die Erkenntnishaltung eben jener großen Geister wie z.B. Ibn Rushd fortzusetzen, die der arabisch‑islamischen Wissenschaft einst eine führende Stellung in der Welt verschafft haben.

Als sein bisher bedeutendstes Werk hat Nasr Hamid Abu Zayd selbst sein Buch “Der Begriff des Textes“ (Mafhum an-nass, 1990) eingeschätzt, das er während seiner Lehrtätigkeit an der japanischen Universität Osaka zwischen 1985 und 1989 verfasste. Die Ausgangsthese des Buches ist die, dass der Koran wissenschaftlich gesehen zunächst einmal ein Text ist und darum für sein Verständnis dieselben Regeln gelten wie für dasjenige aller anderen Texte. Dass diese Auffassung auch schon einer Reihe von Autoritäten der klassischen sunnitischen Koranwissenschaften keineswegs fremd war, belegt er mit Verweisen auf entsprechende Aussagen, blendet allerdings auch gegenteilige Anschauungen nicht aus. Das Textverständnis als solches erklärt er dann mit einem Denkmodell westlicher Provenienz, das ihm durch ein Werk des russischen Autors Jurij Lotman zur Struktur literarischer Texte bekannt geworden ist, aber ursprünglich von dem amerikanischen Informationstheoretiker Claude Elwood Shannon stammt. Nach diesem Modell ist das Textverständnis in Analogie zum Empfangen von verschlüsselten Rundfunksendungen zu begreifen: Damit der Empfänger den gesendeten Text verstehen kann, muss der Sender ihn in einem Code gesendet haben, den der Empfänger kennt. Der geoffenbarte Korantext  ist gewissermaßen eine sprachförmige Sendung Gottes an die Menschen. Sprache bezieht ihren genauen Bedeutungsgehalt aber grundsätzlich aus menschlichen Konventionen, in denen der gesamte sozial- und kulturgeschichtliche Horizont derer, die die betreffende Sprache sprechen, mit zum Tragen kommt. Von daher ist klar, dass sich auch Gott im Koran des Sprach- und Kulturcodes von dessen ersten Empfängern  bedienen musste, um von diesen verstanden zu werden. Deshalb ist vorauszusetzen, dass der Korantext von den sprachlichen Ausdrucksmitteln  und bis zu einem gewissen Grade auch der Vorstellungswelt Gebrauch macht, die dem Propheten Muhammad und seinen Zeitgenossen im frühen 7. Jahrhundert auf der arabischern Halbinsel vertraut waren. Da Sprache und Vorstellungswelt der Menschen im späten 20. Jahrhunderts  und danach aber in etlichen Hinsichten nicht mehr so beschaffen sind wie die dieser ersten Muslime, ist es Aufgabe heutiger Interpreten, das, was Gott den Menschen im Koran sagen will, aus dem damaligen Sprach- und Kukturcode in die Sprache  und den intellektuellen Horizont der Hörer oder Leser unserer Tage zu übersetzen. Nur so kann die Bedeutung koranischer Aussagen für heutige Menschen verständlich gemacht und gewahrt werden.

Mit diesem hermeneutischen Modell hat Nasr Hamid Abu Zayd Raum geschaffen für eine historische Koranexegese in dem Sinne, dass einzelne Aussagen des Koran, die den sozialen Lebensformen und dem kulturellen Horizont Muhammads und seiner ersten Hörer entsprachen, aber mit denjenigen heutiger Leser nicht mehr in Einklang zu bringen sind, als zeitbedingt erkannt werden können und darum so, wie sie dastehen, nicht mehr als gültig betrachtet werden müssen. Wohlbemerkt bedeutet dieses Modell des Koranverständnisses aber nicht, dass damit etwa die alleinige Autorschaft Gottes am Wortlaut des Koran bestritten und der geschichtsgebundene Mensch Muhammad zum Verfasser des Koran erklärt worden wäre. Das hat Nasr Hamid Abu Zayd entgegen den Darstellungen derer, die ihn nachher  des Abfalls von der wahren Religion  bezichtigten, niemals getan. Er hat vielmehr mit seinem hermeneutischen Konzept einen Weg dazu gewiesen, den Glauben an die wörtliche Inspiriertheit des Koran auch angesichts der Erkenntnis aufrecht zu erhalten, dass manche seiner Aussagen inzwischen nur noch als ein Stück Geschichte verstanden werden können, weil sie sich in der Sprache und der Vorstellungswelt Muhammads und seiner Zeitgenossen bewegen, die nicht mehr diejenigen  gegenwärtiger Leser sind und sein können.

Im weiteren Verlauf seiner Arbeiten hat Abu Zayd dann den Gedanken der Geschichtlichkeit des Korantexts noch weiter entfaltet, so z.B. in einem größeren Aufsatz aus dem Jahr 1995, der den Begriff der Geschichtlichkeit (tarikhiyya) näher erklärt, um gängige Vorbehalte gegen ihn auszuräumen, die auf Missverständnissen beruhen. Er hat außerdem zu bedenken gegeben, ob nicht eine bekannte theologische Lehre aus der islamischen Tradition, nämlich die mutazilitische Vorstellung der Erschaffenheit des Koran, eine zusätzliche Brücke zur Anerkennung von dessen Geschichtlichkeit bilden könne. Wie Abu Zayd zutreffend vermerkt, verbanden die Mutaziliten selbst mit der Erschaffenheit des Koran noch nicht dessen Geschichtlichkeit. Er vermutet aber, die letztere liege dennoch in der logischen Konsequenz dieser ihrer Lehre.

Im Jahre 1992 verhinderte an der Universität Kairo der Gutachter Abdassabur Šahin, seines Zeichens Professor für Sprachwissenschaft und zugleich ein populärer Kairiner Prediger, die Beförderung von Nasr Hamid Abu Zayd zum ordentlichen Professor, und zwar mit einem grob unsachlichen Minderheitsvotum, in dem er den Vorwurf erhob, dieser habe sich mit seinen Auffassungen zum Korantext des Unglaubens und der Ketzerei schuldig gemacht. Drei Jahre später kam es doch noch zu dieser Beförderung, aber da stand Abu Zayd bereits nicht mehr im Dienst seiner Heimatuniversität, und er ist auch seither nicht dorthin zurückgekehrt. Inzwischen hatte nämlich eine Gruppe islamistischer Anwälte mit der Begründung, er sei von der Religion abgefallen, und eine Muslimin dürfe nach islamischem Familienrecht nicht mit einem Nichtmuslim verheiratet sein, eine Klage auf Zwangsscheidung seiner Ehe mit Ibtihal Yunis eingereicht. Ich brauche hier die weitere Entwicklung nicht im Detail zu schildern, denn sie hat weltweit die Presse beschäftigt.  Nur soviel: In einer Serie von drei Prozessen, die sich von 1993 bis 1996 über drei Instanzen hinzogen, fällte die dritte und letzte Instanz, gegen deren Entscheidung keine Berufung mehr möglich ist, nämlich der Kassationsgerichtshof, schließlich das Urteil, die zweite Instanz habe zurecht auf die Scheidung der Ehe des Paares erkannt. Ein untergeordneter Richter hat dann wenigstens dem nach ägyptischem Recht bei Verdacht auf grobe Rechtsfehler möglichen Einspruch des Ehepaares gegen Vollstreckung des Urteils so weit stattgegeben, dass er diese einstweilen aussetzte, und dabei ist es bis heute geblieben. Das reichte aber weder, um  den Schaden, den dieses Urteil dem internationalen Ansehen Ägyptens zugefügt hat, ernsthaft zu mildern,  noch gab es Nasr Hamid Abu Zayd und Ibtihal Yunis die Möglichkeit zurück, in ihrer Heimat ein normales Arbeits- und Privatleben zu führen. Schon vor dem Urteil des Kassationsgerichts hatte es Morddrohungen gegen Abu Zayd gegeben, und Scheich Yusuf al‑Badri, der als treibende Kraft hinter der Klage gilt, hatte den Spruch der zweiten Instanz öffentlich mit dem Hinweis kommentiert, der Inhaber der Regierungsgewalt habe den Apostaten auf Anordnung des Richters zu töten. Aufgrund des durchaus realistischen Eindrucks, dass in einer solchen Atmosphäre niemand seines Menschenrechts auf körperliche Unversehrtheit sicher sein und ruhig forschen und lehren kann, hatte das Ehepaar bereits 1995 keinen anderen Ausweg mehr gesehen, als ins Exil zu gehen. Seither lebt es in den Niederlanden.

Dass der beschriebene Zermürbungsfeldzug eines bestimmten Flügels der ägyptischen Öffentlichkeit gegen Nasr Hamid Abu Zayd und schließlich auch seine Ehefrau überhaupt solche Dimensionen annahm, hängt nicht in erster Linie mit seinen bisher genannten fachwissenschaftlichen Arbeiten und mit seinen koranhermeneutischen Vorstellungen zusammen, deren tatsächliche Beschaffenheit seine Gegner offensichtlich kaum ernsthaft zur Kenntnis genommen hatten. Es erklärt sich vielmehr hauptsächlich daraus, dass er kein nur um sein eigenes Fortkommen besorgter Stubengelehrter ist, sondern ein Wissenschaftler, der auch seine Verantwortung für das Gemeinwesen kennt und sich ihr stellt. Deshalb hatte er 1992 mit seinem Buch „Kritik des religiösen Diskurses“ (Naqd al‑khitab ad-dini) eine kritische Analyse der aktuellen politischen und gesellschaftlichen Rolle der wichtigsten Gruppen und Persönlichkeiten veröffentlicht, die sich derzeit in Ägypten als berufene Sachwalter der recht verstandenen islamischen Religion betrachten. Darin ging er sowohl mit dem staatlich besoldeten Religionsgelehrten- und Predigerstand Ägyptens als auch mit der islamistischen Opposition hart ins Gericht. Er äußerte die Einschätzung, dass nicht nur der Einfluss, den derzeit in Ägypten Islamisten ausüben, sondern auch die starke gesellschaftliche Stellung der im Dienste des Staates stehenden traditionsgebundenen Religionsgelehrten die Entwicklung eines freien Diskussionsklimas im Lande behindere, wie es für die nötigen Problemlösungen erforderlich sei. Zur Begründung führte er an, beide Gruppen hätten gemeinsam, dass sie um ihrer eigenen Machtinteressen willen ihre jeweilige Interpretation des Koran als die allein richtige, seit jeher und auf ewig gültige, absolut verbindliche durchzusetzen versuchten – nur dass die Versteifung auf diesen Anspruch im Falle der staatlich bestallten Religionsgelehrten den sie begünstigenden Status quo zementieren helfe, während die Islamisten mit ihr einen nicht weniger unfreien neuen Zustand, in dem dann sie das Sagen haben werden, erst noch herbeiführen wollten. In diesem Buch und an anderen Stellen hat Abu Zayd außerdem darauf hingewiesen, dass die von staatlich besoldeten Religionsgelehrten wie von Islamisten häufig wiederholte traditionelle Ansicht, es gebe bei Korantexten einen direkten Zugriff auf den darin ausgedrückten Gotteswillen, für den es keines Aktes  der Interpretation bedürfe, und folglich dürften normative Aussagen des Koran, die sie für hinreichend explizit halten, nicht interpretiert, sondern nur angewandt werden, sachlich unhaltbar und für die Freiheit der Wissenschaft wie auch für die der Gesellschaft gleichermaßen gefährlich ist. Denn da Text immer nur wirksam werden kann, indem er auf die eine oder andere Weise verstanden wird, führt diese Auffassung , wie er korrekt feststellte, in Wirklichkeit nur dazu, dass diejenigen, die sie vertreten, unversehens ihr persönliches, potentiell kritikbedürftiges Textverständnis, das sich ja nie überspringen lässt, an die Stelle der göttlichen Wahrheit setzen und dann allzu oft anderen mit Zwangsmitteln aufzuoktroyieren suchen. Abu Zayd hat sogar die Formulierung gebraucht, es sei heidnisch (wathani), zu behaupten, es gebe eine einzige vertretbare und gültige Koraninterpretation, nämlich diejenige, die man selbst propagiere. Damit hat er in pointierter Form die durchaus richtige Beobachtung geäußert, dass der Akt der Selbstvergottung, die in dieser Absolutsetzung des eigenen menschlichen und damit immer auch begrenzten Textverständnisses liegt, sich schlecht mit dem für den Islam ja zentralen Prinzip des Monotheismus verträgt. Dass sich sowohl Islamisten als auch einige staatlich bestallte Religionsgelehrte und Prediger durch diese massiven Infragestellungen des von ihnen reklamierten Deutungsmonopols für den Korantext äußerst unliebsam betroffen fühlten und vollends den von Abu Zayd hergestellten Zusammenhang zwischen diesem Deutungsmonopol und ihren Machtinteressen lieber nicht öffentlich erörtert gesehen hätten, lässt sich leicht denken. Das rechtfertigt allerdings die Art ihrer Gegenwehr nicht.

Gerade weil Nasr Hamid Abu Zayd auf die Unterscheidung Gottes von selbsternannten Göttern auf Erden als Muslim großen Wert legt, lehnt er auch undemokratische Verhältnisse und jede Form von Unterdrückung der Meinungsfreiheit in Wissenschaft und Politik aufs entschiedenste ab. Aus dieser Haltung heraus hat niemals nur seine eigene Freiheit eingefordert und verteidigt, sondern stets auch die Andersdenkender.  So hat er den Militärputsch in Algerien, der den als sicher zu erwartenden Regierungsantritt der Islamisten nach einer schon fast gewonnenen demokratischen Wahl verhinderte, scharf kritisiert. Und er hat auch zugunsten von Abdassabur Šahin, des Gutachters also, der mit seinem Häresie- und Unglaubensvorwurf die ganze Kampagne gegen ihn ausgelöst hatte, Stellung bezogen und den Schutz von dessen Recht auf Meinungsfreiheit verlangt, als dieser – welch Ironie des Schicksals – wegen eines 1998 veröffentlichten Buches mit dem Titel „Mein Vater Adam“ (Abi Àdam), in dem er die koranische Schöpfungsgeschichte mit der Evolutionstheorie in Einklang zu bringen versuchte, plötzlich selbst dem öffentlichen Vorwurf der Ketzerei ausgesetzt war. Dass Abdassabur Šahin die Unterstützung Abu Zayds nicht recht goutierte, verwundert nicht, kam sie für seine Begriffe doch von der falschen Seite. Dennoch entsprach sie Abu Zayds stets bekundeten Prinzipien. Ihm ist es nie einfach darum gegangen, seine Meinung durchzusetzen, sondern immer nur darum, dass die Koexistenz einer Pluralität von Meinungen als legitim anerkannt und die Freiheit zur offenen argumentativen Auseinandersetzung darüber, was richtig ist, gewährleistet wird. Ohne Zulassung von Meinungspluralität und freier, gegebenenfalls auch sehr kontroverser  Diskussion greift, das hat er deutlicher als manche anderen erkannt, leicht die intellektuelle Stagnation um sich, und ohne sie sinkt in Ägypten genau wie anderswo die Chance drastisch, zukunftsfähige Lösungen für die eigenen Probleme zu finden. Dem Koranverständnis kommt in islamischen Ländern, deren Bevölkerung im allgemeinen noch stark in der Religion verwurzelt ist, für die Möglichkeiten sozialer und kultureller Entwicklung eine schlüsselhafte Bedeutung zu. Deshalb und weil, wie Nasr Hamid Abu Zayd genau wie einst der deutsche Dichter Lessing ganz richtig konstatiert hat, nur Gott allein über die ganze Wahrheit verfügt, kann dort gerade das Koranverständnis von der Zulassung von Pluralität, wissenschaftlicher Meinungsfreiheit und offener Diskussion nicht ausgespart werden. Um dazu zu ermutigen, diesen Prinzipien wieder mehr zu vertrauen, hat Nasr Hamid Abu Zayd auch stets daran gearbeitet, in Publikationen und Vorträgen die ganze Breite des Meinungsspektrums sichtbar zu machen, die in der älteren islamischen Tradition in bezug auf die von ihm erforschten Fragen existiert hat. In der Tat hat diese Tradition in früheren Zeiten aus ihrer Vielstimmigkeit und aus der Zulassung offener Kontroversen viel intellektuelle Kreativität bezogen. Diese Pluralität und Diskussionsbereitschaft ist zwar, wie Abu Zayd vermerkt hat, infolge späterer dogmatischer Verengungen vielen aus dem Blick geraten, und heutzutage wird sie oft dadurch verdeckt, dass Personen, die in Wirklichkeit nur ihr eigenes Islamverständnis vertreten, in hochklingenden Worten davon sprechen, was „der Islam“ lehre. Aber man kann und soll, dies ist seine Überzeugung, diese Pluralität der islamischen Tradition wiederentdecken und sich ihr Anregungspotential zum Besten aller zunutze machen. Nasr Hamid Abu Zayd setzt dieses Bekenntnis zum Wert von Pluralität und freier wissenschaftlicher Diskussion im übrigen auch in seine Lebenspraxis um: Er gehört, wie ich aufgrund eigener Beobachtung sagen kann, zu den ganz wenigen mir begegneten Hochschullehrern, die Widerspruch aus den Reihen ihrer Studenten geradezu genießen ­– unter der einzigen Bedingung, dass er argumentativ begründet wird und damit das gemeinsame Nachdenken über die im Raum stehenden Fragen vorantreibt. Schon allein deshalb ist der von einigen seiner Gegner erhobene Vorwurf, Abu Zayd gefährde die akademische Jugend, indem er sie mit seinen Ideen indoktriniere, unbegründet. Er hat sie nie gefährdet, er hat sie nur das selbständige Denken gelehrt.


Gegenaktionen derer, die seine Vorstellung von legitimer Pluralität der Koranverständnisse nicht teilen, haben ihm schlimme Beschwernisse eingebracht. Er hat sie mit großem persönlichem Mut getragen. Mit kompromissloser Aufrichtigkeit ist er weiter für das eingetreten, was er selbst als richtig erkannt hatte, aber auch für die Überwindung von gesellschaftlichen Zuständen und Mentalitäten, die, wie er das am eigenen Leibe erleben musste, die freie Diskussion von neuen Konzepten behindern und die Neigung begünstigen, Dissens mit Inquisitionsmaßnahmen oder dem Ruf nach staatlichem Zwang zu unterbinden. Woher hat er die Kraft dazu genommen? Sicher war die Beziehung zu seiner Frau, die treu zu ihm gehalten und dafür erhebliche Opfer gebracht hat, eine seiner wichtigsten Kraftquellen. Ich wage aber auch zu sagen: Er hat diese Kraft nicht zuletzt deshalb aufbringen können, weil er nicht nur ein leidenschaftlich der Suche nach der Wahrheit verpflichteter Wissenschaftler, nicht nur ein von der Notwendigkeit des Kampfes für die Gedanken- und Meinungsfreiheit aller überzeugter homo politicus ist, sondern zugleich ein gläubiger Mensch, dem der Koran außerordentlich viel bedeutet. Das hat sich nicht geändert, seit er, wie man einem autobiographischen Zeugnis entnehmen kann, als kleiner Schuljunge im kuttab tief von dessen Rezitation ergriffen wurde. Und nur weil das so ist, hat er sich im Bemühen um die wissenschaftliche Absicherung tragfähiger Zugänge zum Verständnis des Koran erheblich mehr geistige Anstrengung abverlangt als all diejenigen, die ihn im Namen der vermeintlich einzig richtigen, das heißt konkret ihrer eigenen Art der Koraninterpretation bekämpft haben. Für mich ist diese geistige Anstrengung, die er aufzuwenden bereit war, um auf dem heutigen Stand wissenschaftlicher Erkenntnis eine überzeugende theoretische Grundlage für eine Exegese zu schaffen, die die Bedeutung des Korantexts für Menschen mit dem sozialen und kulturellen Lebenshorizont unserer Zeit neu erschließt, nicht nur ein Ausweis seines wissenschaftlichen Engagements, sondern auch ein beeindruckendes Zeugnis seines islamischen Glaubens.

Informationen zu Prof. Dr. Rotraud Wielandt

Kurzbiographie:

  • Geboren 1944 in Tübingen
  • Studium der Islamkunde/Arabistik, Turkologie, Vergleichenden Religionswissenschaft und Philosophie an den Universitäten München, Tübingen und Istanbul (Türkei)
  • 1970 Promotion zum Dr. phil. an der Universität Tübingen. 1970/71 wissenschaftliche Mitarbei­terin am „Wörterbuch der klassischen arabischen Sprache“ in Tübingen
  • 1971-74 Forschungsstipendiatin der Deutschen Forschungsgemeinschaft, zugleich Lehrbeauftragte an der Universität Tübingen
  • 1975-78 wissenschaftliche Refe­rentin am Orient-Institut der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft in Beirut (Libanon)
  • danach freiberufliche Übersetzer- und Forschungstätigkeit
  • 1978-80 in Rom
  • 1980-82 in Marburg
  • 1982 Habilitation an der Universität Bonn
  • 1982-85 Heisenberg-Stipendiatin, während einer einjährigen Unterbrechung des Stipendi­ums 1984-85 Vertreterin des Lehrstuhls für Islamkunde an der Universität Tübingen
  • Seit 1985 Professorin für Islamkunde und Arabistik an der Universität Bamberg
  • 1986 Preis der Philologisch-Historischen Klasse der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen
  • 1999 Ablehnung eines Rufs auf einen Lehrstuhl an der Universität Leipzig
  • 2000 Wahl zum korrespondierenden Mitglied der Heidelberger Akademie der Wissenschaften
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