Arabische Welt und Technik


von Dr. Peter Göpfrich

Technik-Wüste in der arabischen Welt


Blickt man heutzutage auf die arabische Welt – und immer mehr kennen inzwischen aus Urlaubsreisen nicht nur das klassische Ägypten, sondern haben auch die Arabischen Emirate als hochkomfortables Ferienland entdeckt – so kommt man ins Staunen, was da in den letzten Jahren aus dem Wüstenboden gestampft wurde. Das Emirat Abu Dhabi wetteifert mit dem benachbarten Dubai um das höchste Gebäude der Welt, den modernsten und grössten Flughafen, die modernsten Highways, den grössten Industrie-Park, gigantische ContainerTerminals, die größte und komfortabelste Hotelanlage, künstliche, vor der Küste im Meer aufgeschüttete Inseln mit modernsten Ferienanlagen und auch so skurriles wie –– die größte inhouse Skipiste der Welt oder das modernste Eisstadion- und das bei 40-50 Grad Außentemperatur im Sommer.

Oder man erblickt gigantische Einkaufs-Malls mit dem letzten Schrei an Luxus-Produkten, Unterhaltungselektronik und natürlich auch dort der Männer liebstes Spielzeug, LuxusLimousinen und bestens ausgestattete Geländefahrzeuge. Convention-City und Health-City heissen nicht nur so, sondern sind von ihrer Ausdehnung und Ausstattung durchaus kleine Städte, von wo aus, nach der Vision der Herrscherfamilie, nicht nur
die verhältnismässig kleinen Emirate, sondern auch die Nachbar-Regionen oder gar – was ja technisch bei der ebenfalls imposanten Internet-City durchaus möglich ist – die ganze Welt als Kunde anvisiert ist.


Nicht weit von den Emiraten, in Qatar, wurde gerade die grösste Gasverflüssigungsanlage fertig gestellt , eine der modernsten Düngemittelfabriken entstand im Sultanat Oman, von den riesigen petrochemischen Komplexen und Meerentsalzungsanlagen im Königreich Saudi-Arabien ganz zu schweigen. Weiter im Westen der Arabischen Welt, in Ägypten, steht der schon in den sechziger Jahren gebaute, aber immer noch technisch bewunderungswürdige Aswan-Staudamm. Von dem
dadurch aufgestauten Nasser Stausee wird in einem kürzlich fertig gestellten Mega-Projekt mit einer riesigen Pumpe Wasser in die Wüste geleitet, wo einmal ein New Valley mit fruchtbarer Landwirtschaft und neuen Ansiedlungen zur Entlastung der aus allen Fugen geratenden alten
Siedlungsräume, insbesondere der Mega-City Kairo, entstehen soll.


Da liess es sich auch der Nachbar im Westen, Libyen, nicht nehmen, das Great River Projekt in Angriff zu nehmen: über einen riesigen Kanal wird Wasser in weit entfernte landwirtschaftliche Projekte und Städte und Ferienanlagen an der Mittelmeerküste geführt. Das Wasser stammt aus artesischen Lagerstätten tief unter der dem Boden der Sahara, es wird
hochgeholt mit Pumpen, die mit Solarenergie angetrieben werden.
Der Westen blickt bewundernd und manchmal auch verwundert auf das alles, was da in den letzten Jahren in der arabischen Welt entstanden ist. Er weiss aber auch -und daher bewundert er mindestens ebenso sich selbst – dass diese Projekte und Anlagen aus dem Westen gekauft wurden
und auch überwiegend von Managern und Technikern aus dem Westen betrieben werden. Alles was dort in den letzten Jahren entstanden ist und weiter in ungebremstem Tempo mit reichlich fliessendem Ölgeld entsteht, kommt aus dem Ausland und kann nicht auf autochthone Leistungen der arabischen Welt zurückgeführt werden. In der Tat denkt heutzutage niemand an die arabische Welt, wenn es um neue Entwicklungen in
der wissenschaftlichen Forschung oder um neue Technologien geht.
Im Gegenteil: aus einigen in letzter Zeit veröffentlichten Studien und Statistiken (1) kann man entnehmen, dass die arabische Welt nicht nur in ihrer überwiegenden Topographie, sondern auch im Hinblick auf wissenschaftliche und technologische Leistungen im Vergleich zu anderen
Regionen der Welt eine Wüste darstellt:


Kein arabisches Land – auch nicht die erdölreichen – gibt mehr als 0.2 % seines Bruttosozialproduktes für wissenschaftliche Forschung aus und davon geht noch der grösste Teil an Gehälter.

Im Unterschied dazu ist der entsprechende Prozentsatz in den USA etwa zehnmal höher, der Weltdurchschnitt liegt bei 1,4%. Nur einer von 20 Studenten in arabischen Ländern studiert Naturwissenschaften. Das Niveau der Universitäten liegt, auch und gerade bei naturwissenschaftlichen Disziplinen, weit unter Weltstandard. Daran ändert auch momentan noch die grosse Anzahl neu entstandener PrivatUniversitäten nichts, Forschung findet auch dort noch nicht in nennenswertem Umfang und nur vereinzelt auf internationalem Niveau statt. Die staatlichen Universitäten und Forschungsinstitute sind – auch in erdölreichen Ländern – verhältnismässig schlecht ausgestattet, statt Leistung bestimmt oft noch ein intransparentes Beziehungssystem über die Besetzung wichtiger Positionen. In allen Staaten der arabischen Welt werden durchschnittlich pro Jahr weniger als 200 Doktortitel in den Naturwissenschaften vergeben, während Großbritannien diesen Titel jährlich an 3000 verleiht.


50 Prozent aller Medizinabsolventen zwischen 1996-2000 emigrierten ins Ausland. Bis Mitte der siebziger Jahre emigrierten 23 Prozent aller Ingenieure und 15 Prozent aller Naturwissenschaftler in die USA, noch Ende der neunziger Jahre waren etwa 100.000 ägyptische Naturwissenschaftler im Ausland.


Die arabischen Länder produzieren gegenwärtig nur 1% der Zitierungen und tragen nur zu 0,5% der Fachaufsätze in den 200 führenden medizinischen Fachzeitschriften bei. Nur etwa 10.000 Bücher wurden im ganzen letzten Jahrtausend ins Arabische übersetzt, etwa soviel, wie jedes Jahr ins Spanische übersetzt werden. Auf 1000 Einwohner kommen nur 18 Computer, der weltweite Durchschnitt liegt bei 78. Nur 370 industrielle Patente wurden zwischen 1980 und 2000 in die Arabische Welt vergeben,
der größte Teil davon noch an in arabischen Universitäten tätige Ausländer. Im selben Zeitraum waren es für Süd-Korea – in den sechziger Jahren noch weit unter dem damaligen Entwicklungsniveau Ägyptens – 16000 industrielle Patente. R&D ist noch in fast allen arabischen Ländern ein Fremdwort, es fehlt in den meisten arabischen Ländern der hierfür erforderliche und dynamische Privatsektor und auch das Selbstverständnis,
dass Forschung nicht nur eine staatliche Domäne ist.


Die arabische Welt ist in gewisser Weise in einer Catch 22-Situation: Ohne einen dynamischen, innovativen und auch in internationalen Märkten kompetitiven Privatsektor gibt es nicht genügend Raum und Mittel für wissenschaftliche und angewandte Forschung und ohne Forschung und Einführung neuer Technologien gibt es keine genügende Dynamik für eine
Ausweitung der Privatwirtschaft.

Nicht viel besser ist es um die nicht-akademische Ausbildung bestellt. Insbesondere technische Berufe werden meist in praxisfernen staatlichen Einrichtungen gelehrt. Eine etwa der deutschen dualen Ausbildung oder den Berufsakademien vergleichbare berufspraktische Ausbildung, wo
Staat, Wirtschaftsverbände und Industriebetriebe zusammenwirken, steckt allenfalls noch in den Kinderschuhen.


Das Sozialprestige technischer Berufe war bis in die jüngste Zeit in der arabischen Welt nicht besonders hoch, vielleicht abgesehen von Ingenieurberufen, doch die Praxisferne dieser heimischen Ingenieure ( Muhandis) wird gerade oft beklagt. Die in Ägypten häufig benutzte
Anrede Basch Muhandis – in Anlehnung an den in osmanischer Zeit verwendeten Ehrentitel Muhandis Pascha – drückt eher ironisch als ehrerbietig gewisse Zweifel an den technischen Qualifikationen oder der Praxistauglichkeit des Betreffenden aus.Nicht viel besser ist es um die nicht-akademische Ausbildung bestellt. Insbesondere technische Berufe werden meist in praxisfernen staatlichen Einrichtungen gelehrt. Eine etwa der deutschen dualen Ausbildung oder den Berufsakademien vergleichbare berufspraktische Ausbildung, wo Staat, Wirtschaftsverbände und Industriebetriebe zusammenwirken, steckt allenfalls noch in den
Kinderschuhen. Das Sozialprestige technischer Berufe war bis in die jüngste Zeit in der arabischen Welt nicht besonders hoch, vielleicht abgesehen von Ingenieurberufen, doch die Praxisferne dieser heimischen Ingenieure ( Muhandis) wird gerade oft beklagt. Die in Ägypten häufig benutzte
Anrede Basch Muhandis – in Anlehnung an den in osmanischer Zeit verwendeten Ehrentitel Muhandis Pascha – drückt eher ironisch als ehrerbietig gewisse Zweifel an den technischen Qualifikationen oder der Praxistauglichkeit des Betreffenden aus.

Nach soviel kritischen Betrachtungen zur Frage, wo die arabische Welt heute tatsächlich wissenschaftlich und technologisch steht und bevor man der Frage nachgeht, wohin sie sich wohl entwickelt – und in einer globalisierten Welt muss man dabei auch stets die Auswirkungen auf die
übrige Welt beachten – scheint es geboten, einen Blick zurückzuwerfen und in eine Periode zu blicken, in der – man glaubt es kaum – Arabisch für fünf Jahrhunderte so selbstverständlich die lingua franca in Wissenschaft und Technik war, wie es heute das Englische ist.

Al Andalus – Das goldene arabische Zeitalter in Wissenschaft und Technik

Kaum jemand im Westen – der doch so stolz ist auf seine wissenschaftliche und technische Revolution, wie sie sich in den letzten 500 Jahren entwickelt hat- ist sich der wichtigen Rolle bewusst, welche die arabische Welt als Katalysator in der frühen Phase dieser Entwicklung spielte. Man weiss vielleicht, dass die Algebra etwas mit der arabischen Welt zu tun hat und man kennt auch aus dem Spanienurlaub oder aus den Medien die Alhambra oder einige andere berühmte Monumente aus der maurischen Zeit. Aber man stellt damit nicht unmittelbar einen Zusammenhang zur eigenen, westlichen Kultur- und Technologiegeschichte her.


Allenfalls Spezialisten oder Studenten der Geschichte sind sich noch des Beitrages bewusst, den die arabische Welt in Wissenschaft und Technik geleistet hat und können einschätzen, welche wichtige, ja überragende Rolle arabische Wissenschaftler bereits in einer frühen Phase als
Katalysator der Wissenschafts- und Technologieentwicklung Europas gespielt haben.


Vor 11 Jahrhunderten fand in der arabischen Welt eine Entwicklung statt, welche die besten Gelehrten und Forscher jedweder Hautfarbe und Religion in ihr versammelte. Diese wiederum zogen die besten Studenten nach sich, denn auch damals war es nicht unüblich für einen
Studenten tausende Kilometer zu reisen, um bei einem berühmten Professor zu hören Spitzenforschung wurde betrieben in Städten wie Bagdad, Damaskus und Kairo im Osten sowie in Cordoba, Granada und Toledo, dem damaligen Westen der arabischen Welt.


Eigentlich -bevor wir uns dem „goldenen Zeitalter“ der arabischen Wissenschafts-und Technologiegeschichte zuwenden – gebietet es die Fairness daran zu erinnern, dass es in vorarabischer Zeit, nämlich bereits Jahrtausende vor Christi Geburt, die damalige sumerische Zivilisation im Zweistromland war – also im Gebiet des heutigen Irak – die als erste das Alphabet einführte. Und auch den Ägyptern – die ja auch oft betonen, dass sie eigentlich keine Araber sind – muss in diesem Zusammenhang gesonderte Referenz erwiesen werden.


Schon im dritten Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung entwickelte sich das Land der Pharaonen zu einem hochorganisierten Staat. Das Land erlebte eine beeindruckende kulturelle Blütezeit. Kunst und Technik, Mathematik und Astronomie erreichten einen erstaunlichen Höhepunkt.
Während der Rest der Erde noch keine Rolle spielte, ließen Cheops (Chufu) und Chephren (Chaf-Ra) schon Bauwerke errichten, deren Großartigkeit auch die moderne Kunst und Technologie nicht zu übertreffen vermocht hat.. Die Pyramiden – erbaut etwa 3000 Jahre AD- waren schon durchaus die steinernen Ergebnisse einer Grossindustrie. Und seit einiger Zeit wird – übrigens von einem deutschen Archäologen – die grösste bronzeverarbeitende HochtemperaturIndustrieanlage ausgegraben, die es im Mittelmeerraum überhaupt gibt. Was die Ausgräber da mit großem Anspruch formulieren, schlägt tatsächlich eine bislang unbekannte Seite in der Technikgeschichte auf – und zwingt Archäologen zum Umdenken. In gewissem Sinne war der Pharao Ramses II, unter dessen Herrschaft diese Anlage etwa 1500 Jahre nach dem Bau der Pyramiden betrieben wurde, der erste Grossindustrielle der bekannten Wirtschafts- und Technologiegeschichte. Im Gegensatz zu anderen Ländern hat Ägypten nicht eine kurze Glanzzeit gehabt, um dann im Dunkel des Vergessens zu verschwinden. Es hatte das seltene Glück, sein Prestige sieben Jahrtausende lang behaupten zu können. Dennoch ist nicht zu leugnen, dass auch dieses Land, nach Jahren des Niederganges in der nachpharaonischen Zeit, erst mit der islamischen Eroberung wieder einen Aufschwung erlebte und
eines der Zentren der sog. Arabisch-Islamischen Zivilisation wurde.

Wie ist diese entstanden?

Wie Germanen in der Völkerwanderungszeit das weströmische Reich zerschlugen, so brachten die Araber das oströmische kurz darauf in schwere Bedrängnis. Sie eroberten Ägypten, den Maghreb, Spanien, das Zweistromland, Palästina, Syrien, Persien, zuletzt auch noch den größten
Teil Kleinasiens. Das erste, was die arabischen Feldherren in den eroberten Städten beschlagnahmten, waren die Bücher und Schriftrollen in den Bibliotheken. Die arabische Kultur ist bilderlos. Als Äquivalent zur bilderlosen arabischen Kultur jedoch herrschte in ihr stets eine riesige Schriftbegeisterung. Der Reichtum und Ruhm eines Vornehmen richtete sich auch primär nach der Größe seiner Bibliothek.


Die Araber besetzten vor allem Alexandria mit seinem extensiven Literaturbetrieb, sie kamen an fast alle wichtigen naturwissenschaftlichen und medizinischen Werke heran, dazu an viele Originalschriften der klassischen Epoche, vor allem des Aristoteles. Während die germanischen Eroberer Westroms ohne weiteres das Lateinische als Herrschaftssprache anerkannten, setzten die Araber von Anfang durch, dass die Sprache des
Propheten, also das Arabische, die allgemein verbindliche Sprache wurde: die Sprache der Behörden, des Handels und des Verkehrs, der Diplomatie, der Wissenschaft und der Rechtsprechung. So setzte denn eine riesige Übersetzertätigkeit ein. Auch alle damals noch verfügbaren philosophischen und naturwissenschaftlichen Texte der Griechen wurden ins Arabische übersetzt und blieben vorrangig im Arabischen erhalten, während die griechischen Originale oft verloren gingen.


In den 400 Jahren seit der Religionsgründung durch den Propheten Mohamed war somit eine islamische Welt entstanden, die zunehmend von einer gemeinsamen religiösen Kultur in arabischer Sprache, durch sich verdichtende Handelsbeziehungen und allmählich angleichende Konsummuster, sowie durch vielfältige, durch Migration, Wirtschafts- oder Pilgerreisen entstandene persönliche Bindungen zusammengehalten wurde. Hinzu kam, dass die Araber zu Herren über die großen internationalen Handelswege nach dem Osten wurden. Vielfältige
Beziehungen von gleich zu gleich mit den alten Agrarzivilisationen China, Indien und Byzanz als auch fruchtbare Kontakte mit den Hirtennomaden Zentralasiens sowie den ‚Barbaren‘ der nordischen Wälder wurden unterhalten


Fast immer gilt den Historikern und Experten der Zeitraum vom 8. bis zum 11. Jahrhundert als Aufstiegs- und Blütephase der wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Entwicklung der islamisch geprägten Gesellschaften Westasiens und Nordafrikas. Ein Vierteljahrtausend oder sogar noch länger waren die Gesellschaften, Staaten und Ökonomien des arabisch – islamischen Raumes dem christlichen, feudalen Westeuropa wirtschaftlich, kulturell und politisch-militärisch in jeder Hinsicht überlegen.Viele Experten identifizieren das Dar Al Islam (Das Gebiet des Islam) zusammen mit China als führende Weltzivilisation der Zeit vor dem Millennium. Ausgangspunkt und eigentlich stets ein wichtiges Zentrum war. Bagdad. Die frühen abbasidischen Kalifen – besonders El-Mansur, Harun Al-Rachid und Al Ma’mun, die von 754 -833 n.Chr. regierten – erhoben die Wissenschaft zur Staatsraison. Wissenschaft und Forschung und allgemein das Studieren wurde in jeder Hinsicht und auf jedem Gebiet unterstützt, das „Haus der Wissenschaft“(Beit Al-Hikma) in Bagdad, später auch die Universitäten von Damaskus und Kairo wurden zu Orten bedeutender wissenschaftlicher Leistungen.


Die Einfuhr von Papier aus China gab einen ungeheuren Schub für den Austausch von Wissen. Im neunten Jahrhundert hatte etwa die Bücherei des Klosters von St.Gallen –die grösste in Europa – 36 Bände, während die von Bagdad über 500.000 verfügte. Die kulturelle Diskrepanz zwischen der östlichen arabischen Welt und dem europäischen Westen liegt nach Auffassung vieler Experten auch zum grossen Teil daran, dass die Araber Papier hatten und der Westen keines.


Der Aufbau riesiger Bibliotheken setzte auch eine lebhafte Bewegung der Übersetzung und des Studiums antiker Werke und der Entwicklung neuer Kenntnisse in einem bisher nicht gekanntem Masse in Gang, arabische und muslimische Gelehrte erzielten Leistungen in nahezu jedem Feld der Wissenschaft. Dieser Wissensdurst wanderte bald auch in andere Teile des islamischen Empire, insbesondere Andalusien (al Andalus) wetteiferte bald mit Bagdad als kulturelles und wissenschaftliches Zentrum für Araber und Muslime.


Der Name Al Andalus leitet sich von den „Wandalen“ ab, die lange vor den Westgoten vorübergehend auf der iberischen Halbinsel gesiedelt hatten. Die Wandalen hatten später nach Nordafrika übergesetzt und waren mit arabischen Berberstämmen in engen Kontakt gekommen. Sie kamen für die Araber aus „al-Andalus“, dem Wandalenland, und so nannten sie später bei
ihrer Ankunft auf der Halbinsel das Land weiterhin bei diesem Namen. Heute wird noch die südliche Provinz Spaniens als Andalusien bezeichnet, der Teil des Landes, der den Mauren 800 Jahre später als letzter verblieben war. Seine größte Pracht entfaltete Al Andalus unter dem Omaijaden Abd ar-Rahman III., der von 912-961 n. Chr. regierte. Er war nach einer Zeit der
politischen Wirren im muslimischen Andalusien an die Macht gekommen und wurde schließlich der erfolgreichste Herrscher in Cordoba. Während seiner 49jährigen Regentschaft versöhnte er den regionalen Araberadel und die Berber miteinander. Er war der Sohn einer Nebenfrau seines Vaters, einer fränkischen Sklavin. Von den zeitgenössischen Chronisten wird er als rotblond und blauäugig beschrieben.


Um die Gläubigen enger an sich zu binden ließ er Cordoba als alternativen Wallfahrtsort zu Mekka und sich selbst zum „Herrscher aller Gläubigen“ ausrufen, was der Stadt ungeheuren wirschaftlichen Aufschwung brachte. Außerdem löste er damit die auf der iberischen Halbinsel lebenden Muslime noch stärker vom Orient los und festigte das eigenständige islamische Kalifat von Cordoba. Den Titel Emir, den seine Vorgänger trugen, um vom Kalifat in Bagdad geduldet zu werden, ersetzte er nun selbstbewusst durch Kalif. Durch diesen gezielten Bruch mit der Einheitstradition sollte kundgetan werden, dass Cordoba nun selbst zur ernstzunehmenden Großmacht aufgestiegen war.


Cordoba war im elften und zwölften Jahrhundert für die Christen eine Märchenstadt, wo sie, wenn sie das Glück hatten einmal dort zu sein, aus dem Staunen nicht mehr herauskamen. Gegen Ende der Regierung des Kalifen Abd ar-Rahmans III. um 961n.Chr. war Cordoba die bevölkerungsreichste und wohlhabendste Stadt Europas. Nach arabischen Quellen soll die Stadt um das Jahr 1000 eine halbe Million Einwohner gehabt haben. Keine Stadt Europas, außer Konstantinopel, zählte zu dieser Zeit mehr als 30 000 Einwohner.

Spanien galt als Heimat des feinen Lebensgenusses und hoher wissenschaftlicher und künstlerischer Tätigkeit. Allein die Zahl der Gebäude und Einrichtungen Cordobas ist bis zum heutigen Tag beeindruckend. Überliefert sind die folgenden Zahlen: 113 000 Häuser, 80 455 Läden, 600 Moscheen, 50 Hospitäler, 300 öffentliche Bäder, 80 öffentliche Schulen, 17 höhere Lehranstalten und Hochschulen und 20 öffentliche Bibliotheken. Europäische Reisende berichteten zu Hause von dem sagenhaften Komfort und Luxus Cordobas. Sie erzählten von gepflasterten Straßen, die des Nachts beleuchtet wären, von Wohnhäusern, die mit fließendem Wasser ausgestattet seien und von Kristallglas, das die Goldund Silberbecher als Trinkgefäße verdrängt habe. Außerdem von den teuren Gewürzen, die hier angepflanzt würden wie Zimt, Safran, Koriander, Ingwer, Muskat und Nelken. Diese Schätze wurden dann alsbald von Andalusien ins mittelalterliche Europa ausgeführt, wo sie die Speisen
verfeinerten. Die Staatsschatulle des Kalifats profitierte von diesen teuren Exporten ganz erheblich.

Das Kalifat von Cordoba war gewissermaßen der Inbegriff des irdischen Paradieses (2).

Mit dem Abfall Cordobas von Bagdad entwickelte sich eine geschlossene Kultur, die sich ungestört von der Auseinandersetzung zwischen Christentum und dem Islam entwickeln konnte. Dank der fruchtbaren Zusammenarbeit aller Bevölkerungsgruppen stieg das maurische Spanien
zum reichsten und am dichtesten bevölkerten Land Europas auf. War Cordoba am Anfang nur eine Nachahmungszivilisation dessen, was in der Hauptstadt der Abbassiden, Bagdad, vorgegeben wurde, so entwickelte es doch zunehmend ein eigenes Gewicht, zumal die Herrscher durch eine gezielte Standortwerbung viele Wissenschaftler, Studierende, Geschäftsleute und Gewerbetreibende veranlasste, aus dem Osten der arabischen Welt nach Westen überzusiedeln. Insbesondere wurde auch das griechische und römische Erbe, das im christlichen Europa vergessen oder als Teufelswerk verdammt war, gepflegt. Dabei wurden in Andalusien besonders die Naturwissenschaften in Theorie und Praxis betrieben.

Einige Beispiele wissenschaftlicher und technologischer Leistungen mögen den Beitrag der damaligen arabisch-islamischen Welt für die weitere Wissenschaft und Technologie verdeutlichen:
Würdigen wir zunächst beispielhaft einige Namen, die man durchaus als Universalgelehrte bezeichnen kann, die bereits damals „Weltruhm“ erlangten und ihn auch nach heutigen globalen Massstäben noch verdienen.

Ein solcher berühmter Wissenschaftler – und vielleicht der berühmteste und bedeutendste überhaupt – war Radi Is Abu Alia Al-Hussein Ibn Sina, besser bekannt in Europa als „Avicenna“, den man auch als „ Aristoteles der Araber“ bezeichnete. In seiner langen Karriere, die neben seiner wissenschaftlichen Arbeit auch hohe politische Ämter beinhaltete, verfasste er eine unglaubliche Fülle literarischer, medizinischer, philosophischer und naturwissenschaftlicher Abhandlungen. Er schrieb Bücher über Minerale und Gesteinsformationen, deren Aufbau und auch ihre gewerbliche Nutzung. Seine Hauptleistungen lagen aber auf medizinischem Gebiet. Avicennas monumentales „Lehrbuch der Medizin“ wurde im 12. Jahrhundert ins Lateinische übersetzt und war das grundlegende medizinische Standardwerk in Europa für die nächsten fünf Jahrhunderte.


Einer der ersten berühmten Wissenschaftler, der aus dem Osten nach Andalusien übersiedelte, war Abbas Ibn Firnas (gest.888) der, hätte er im Florenz der „Medici“ gelebt, wohl als „Renaissance-Mensch“ bezeichnet worden wäre. Er kam nach Cordoba um Musik zu lehren, dann wandte er sich der Mathematik zu, um sich dann – nicht mit einer Fachrichtung begnügend für die Mechanik des Fliegens zu interessieren. Er konstruierte ein par Flügel aus Holz und Federn und versuchte zu fliegen, ganz wie Leonardo da Vinci sechshundert Jahre nach ihm. Glücklicherweise überlebte er den Flugversuch und konstruierte ein Planetarium mit rotierenden Planeten und der Simulation von Donner und Blitz; dann wandte er sich wieder mathematischen Problemen zu, analysierte die Struktur bestimmter Kristalle und entwickelte eine Technologie für
die Herstellung künstlicher Kristalle.

Und noch einer sei, unter den Vielen, die es eigentlich verdienen, besonders gewürdigt:
„Also sprach Al-Chwarismi …“ so beginnt eines der wichtigsten mathematischen Werke der menschlichen Geistesgeschichte, betitelt „Wiederherstellung und Ausgleich“. In einer späteren lateinischen Übersetzung heißt es “ Dixit algoritmi“…, sein Verfasser, der arabische Mathematiker Al-Chwarismi war Entdecker und Namensgeber eines der wichtigsten Zweige der Mathematik, der Algebra.


Es gäbe viele Gebiete der Wissenschaft und Technik aufzuzählen, an denen arabische Wissenschaftler grossen Anteil hatten, im Folgenden einige wichtige Beispiele.

In der Mathematik – ihr berühmtester Vertreter wurde schon erwähnt – haben die Araber u.a. auch das Rechnen mit Dezimalbrüchen erfunden.
Es waren die Araber, die die indischen Zahlen (in Europa „arabisch“ genannt) nach Europa brachten. Wichtiger noch war die kulturelle Leistung, die darin bestand, das Nichts (null) aus der religiös-philosophisch geprägten Mathematik der Hindus in ein von Kaufleuten und Wissenschaftlern nutzbares System zu übertragen. Die Araber gaben dem hinduistischen „Nichts“ (Null) seinen Platz im Dezimalsystem – sozusagen der gordische Knoten der Zahlendarstellung.


Die von den Babyloniern übernommene und weiterentwickelte Astronomie war für Moslems von immenser Bedeutung, da der Gang der Sonne und des Mondes die Gebetszeiten sowie Beginn und Ende des Ramadan bestimmte. Ebenso legten sie mit Hilfe der Kenntnis der Astronomie die Gebetsrichtung nach Mekka fest. Von den arabischen Astronomen hat Europa die
Sexagesimalrechnung und die Sechzigerteilung des Kreises übernommen. Kreis, Ziffernblatt der Uhr, Einteilung der Stunde in Minuten und Sekunden – all das basiert auf dem Sexagesimalsystem.


Der in Mittelalter und Renaissance hochberühmte und bewunderte Astronom Al-Battani (latinisiert Albategnius)entdeckte, dass alle Himmelskörper (Sterne, Sonne) eigenes Licht aussenden, dass der Mond hingegen seine Helligkeit von der Sonne empfängt. Noch Kopernikus
und Laplace beschäftigten sich mit seinen Studien. Im Bereich der Optik erklärte Ibn Al-Heitham (verballhornt zu „Alhazen“) die Mondfinsternis und
erfand die Lesebrille. Sein Einfluss beherrschte im Bereich von physikalisch-optischen Theorien die europäische Wissenschaft bis in die Neuzeit hinein.

Übrigens haben die Araber auch die ersten Augenoperationen durchgeführt. Medizin war ohnehin die muslimische Wissenschaft par excellence. Das Interesse daran geht bis auf die Anfänge zurück. Der Prophet Mohamed selbst konstatierte, dass es für jede Krankheit eine Behandlung gab und er war sich auch bewusst, dass manche Krankheiten ansteckend sind. Zur Zeit der Kreuzzüge war es Christen zwar bei Strafe der Exkommunizierung verboten sich von arabischen Ärzten behandeln zu lassen, aber einige Unerschrockene (oder Verzweifelte) haben es dennoch getan. Dabei hat sich herumgesprochen, dass die Kranken bei den Arabern eine unvergleichlich höhere Gesundungsquote (und Überlebensquote) hatten. Weltliche Arzneien bewiesen den mittelalterlichen Christen mangelndes Gottvertrauen. Das „unehrliche“ Handwerk der Chirurgen und Wundärzte war Christen verboten. Zu den berühmtesten und wichtigsten Medizinern aller Zeiten gehört neben dem bereits erwähnten Avicenna auch Ar-Rasi ( latinisiert zu „Rhases“), die zusammen mit Hypokrates und Galen die wichtigsten Säulen der abendländischen Medizin bilden. Noch heute studiert kein Deutscher oder Franzose Medizin, ohne in Vorlesungen mehrfach die Namen Avicenna und Rhases zu hören. Auch im Bereich der Hygiene verdankt die Welt den Arabern viel. Die Pest des 13. und 14. Jahrhunderts wurde in Europa auf alles Mögliche zurückgeführt, u.a. auf einen Meteoriteneinschlag. Sie reduzierte die Bevölkerung Europas um ein Drittel. Es waren die Araber, die den Menschen in Genua und anderen. Häfen klar machten, dass die Hygiene eine entscheidende Rolle bei der Bekämpfung der Pest spielte.

Eine grosse Leistung der Araber bestand auch darin, das medizinische Studium auf eine wissenschaftliche Grundlage zu stellen, Aberglaube sowie primitive Wundheilerei zu überwinden und auch die ärztliche Ethik wieder auf eine hohe Stufe zu heben. Die einzelnen Fachrichtungen der Medizin wurden systematisch entwickelt, darunter die Chirurgie, die Augenheilkunde, Orthopädie, Schmerzbetäubung, Wundbehandlung sowie die Behandlung Geisteskranker. Hospitäler waren auf hohem Niveau. Das grosse Krankenhaus von Cordoba hatte fliessendes Wasser und Bäder sowie verschiedene Abteilungen für die entsprechenden Krankheiten, jede
Abteilung geleitet von einem Spezialisten. Sie mussten 24 Stunden am Tag geöffnet sein, hatten eine Notaufnahme zu unterhalten und sie durften keinen Patienten abweisen. Man konstruierte auch eine grosse Anzahl chirurgischer und medizinischer Instrumente, die sich durch grosse
Präzision sowie ein elegantes und funktionales Design auszeichnen.


Ein Ableger der Medizin war die Botanik, insbesondere die Wissenschaft der Erforschung und der Verwertung der Heilpflanzen; besonders Ibn Baytar aus Andalusien erwarb sich hier Meriten. Es ist überwältigend, was die Mauren in Spanien allein an Kunst und Architektur hinterlassen
haben. Cordobas große Moschee zählt zu den eindrucksvollsten Monumenten des maurischen Stils. Noch berühmter ist die Alhambra in Granada. Sie ist ein im Originalzustand erhaltener maurischer Königspalast im Kalifatstil. Wie vieles im maurischen Baustil weicht auch jener der
Alhambra erheblich von der traditionellen Architektur ab, die in den Bauwerken der nordafrikanischen Heimat der Mauren herrschte. Sie haben neben arabischen Formelementen auch gotische Stilmittel in Bogen und Kuppeln übernommen. Im 12. Jahrhundert entstand daraus ein eigener Dekorationsstil, der als „Mudejar“ bezeichnet wurde.


Technologische Innovationen spielten insgesamt eine grosse Rolle in dem Erbe, das die arabische Welt, überwiegend vermittelt über Andalusien, dem mittelalterlichen Europa hinterliess. Papier wurde bereits erwähnt, aber dies betrifft auch andere bedeutende Technologien: die Windmühle, neue
Techniken der Metallverarbeitung, der Keramikherstellung, im Bauwesen, im Bereich der Spinnerei und Weberei.


Die Entwicklung der Landwirtschaft nahm im Andalus speziell unter AbdAr-Rahman III. einen schier unglaublichen Aufschwung. Der Kalif gründete das „Tribunal de las Aguas“, das die Verteilung des Wassers an die Bauern regelte und Streitigkeiten schlichtete. Das System der Wasserkanäle stammte schon von den Römern. Die Araber hatten es übernommen und
weiterentwickelt. Die sagenhafte Fruchtbarkeit der „Huertas“, wie die intensiv genutzten, bewässerten Obst- und Gemüseländereien heißen, machten Cordoba reich. Das Bewässerungssystem ist zum Teil bis
heute unverändert in Betrieb. Die Technik mit den Wasserschöpfrädern, den Norias und Gräben, prägt noch immer das Bild der Landschaft im Süden Spaniens.


Die Menschen Andalusiens liebten Gärten und verbanden dies mit Techniken für die Kultivierung von Bäumen, die Erstellung von Säften und Flüssigkeiten, die Insektenbekämpfung und die Herstellung von Essenzen und Parfümen.

Es gäbe noch viele andere Beispiele zu erwähnen, vielleicht tragen auch einige der bekanntesten technischen Lehnworte aus dem Arabischen – Alchemie (Chemie), Aldehyd. Algebra, Algorithmus, Alkali (alkalisch) Alkohol, Almanach, Amalgam, Anilin, Arsenal, Balsam, Benzin, Calium, Kabel, Karat, Kamin, Karussell, Kuppel, Lack, lasieren, Lapislazuli, Matratze, Mine, Muskete, Natrium, Rakete, Soda, Zenit, Ziffer – zur Illustrierung bei.(3)

Noch liegt die Erforschung des technologischen Beitrages der arabischen Welt zur Technologiegeschichte in den Kinderschuhen, aber man kann getrost feststellen, das er auf die weitere Entwicklung der Technologiegeschichte Europas einen mindestens so profunden
Einfluss hatte wie die muslimischen Exegeten und Kommentatoren der Werke von Aristoteles auf die europäischen Intellektuellen des Mittelalters.

Neben den Naturwissenschaften oder eigentlich noch vor ihnen und mit ihnen verwoben, waren es die Geisteswissenschaften, die in der arabisch-islamischen Hochzeit ebenfalls eine einzigartige Blüte erlebten. Auf sie auch im Rahmen eines Beitrages zur Technik einzugehen, ist gerade für
die Betrachtung der arabischen Welt wichtig, weil anhand ihrer Entwicklung aufgezeigt werden kann, wie wichtig die philosophische Begleitung technisch-wissenschaftlicher Entwicklungen ist und welche Interdependenzen im Positiven wie im Negativen bestehen. Eine sehr wichtige Rolle spielten dabei die Übersetzer, die unermüdlich -in manchen Städten nachgerade mit industriellen Methoden – fremdsprachliche Werke vor allem hellenistischer Provenienz ins Arabische und umgekehrt arabische Texte ins Lateinische übersetzten. So wurden die abendländischen Gelehrten peu à peu wieder mit den Werken von Euklid und Ptolomäos bekannt, aber vor allem natürlich mit Aristoteles und, was ähnlich folgenreich war, mit dessen arabischen Kommentatoren, vor allem mit Ibn Rushd (bekannt unter dem Namen Averroes), dessen Kommentare Sensation machten und ihm im ganzen Abendland den Ehrentitel „Der Kommentator“ einbrachten, der Kommentator „des Philosophen“, der natürlich Aristoteles war. Der Kommentator und der Philosoph – so sprach man im christlichen Mittelalter, wenn man Averroes und Aristoteles meinte.


Dabei lässt sich sagen, dass die arabischen Kommentare und besonders Averroes ausdrücklich die empiristisch-wissenschaftliche Seite der aristotelischen Lehre herausgestellt haben, den Zug zum Pantheismus, den Zug zur Betonung der Sterblichkeit der Einzelseele, der Anfangs- un
Endlosigkeit der Welt, das Wesen der Technik und die Beziehung des Menschen zur Technik usw.


Zusammenfassend kann man zu jener vergangenen Epoche, dem goldenen islamisch-arabischen Zeitalter, sagen, dass wissenschaftliche und technische Errungenschaften verbunden mit einer Faszination des arabischen Lebensstils, der arabischen Kultiviertheit, Vornehmheit, Eleganz und Schönheit – kurz, der eigentümliche Zauber der arabischen Welt eine unwiderstehliche Anziehungskraft ausübten.

Der Niedergang


Trotz der unbestreitbaren militärisch-politischen Erfolge mehrerer islamischer Dynastien (Aiyubiden, Mamluken, Osmanen) – die Eroberung der letzten Kreuzfahrerstützpunkte an der Küste Palästinas ging 1291 zu Ende – wird die Ära der Kreuzzüge häufig als eine Trendwende der
ökonomischen, politischen und kulturellen Beziehungen zwischen Westeuropa und islamischer Welt eingestuft. Dem Anschein nach hatte die arabische Welt einen epochalen Sieg errungen, doch umgekehrt
beginnt sich proportional der Mittelpunkt der Welt deutlich nach Westen, nach Europa zu verlagern.


Gleichzeitig fand mit dem Übergang der politischen Macht an die europäischen Herrscher auch ein umfangreicher Technologietransfer statt. Während am östlichen Hauptschauplatz der Kreuzzugsbewegung nur relativ wenig Wissens – und Kulturtransfer zwischen islamischer Welt
und christlichem Westeuropa zustande kam – die Kreuzfahrer in Palästina diese Chance also vertan haben – erfolgte in anderen Konflikt- und Kontaktzonen eine intensivere Aneignung muslimischer Kenntnisse, die damit einen wichtigen Beitrag zur westlichen Wissenschafts-, Kultur- und Wirtschaftsentwicklung seit dem Spätmittelalter geleistet haben. Neben den
venezianischen Kolonien im östlichen Mittelmeerraum und dem von den Normannen eroberten und schließlich an Friedrich II. gelangten Sizilien, war es wie erwähnt insbesondere die Iberische Halbinsel, wo die Weitergabe islamischen und damit auch antiken Wissens an das feudale Europa erfolgte. So fielen mit dem beginnenden 11 Jahrhundert die leidenden arabischen Provinzen unter den Schwertern der europäischen Armeen, und damit fiel diesen ein unermesslicher Schatz in die Haende: die epische intellektuelle Leistung der arabisch-islamischen Gelehrten seit dem
8.Jahrhundert.


Im Gegensatz zu den Mogulen, die im 13. Jahrhundert Bagdad und seine Bibliotheken zerstörten und dabei abrupt das goldene Zeitalter der arabisch-islamischen Zivilisation zerstörten, realisierten die Europäer rasch, was ihnen da als Windfall-Profit an Wissen in die Hände gegeben
war und sie nutzten es in der Folge intensiv.

Trotz des politischen Niederganges der arabischen Welt entwickelten sich Handel und auch die meisten Gewerbezweige fast überall in der islamischen Welt im 11. und 12. Jahrhundert noch recht positiv. Natürlich beeinträchtigten Kriege, der Niedergang staatlicher Administration, die Verlegung von Handelswegen oder Engpässe der Agrarproduktion immer wieder die Gewerbebetriebe einer Region. Verständlicherweise schlugen die normannischen Flottenangriffe auf Alexandria ebenso negativ auf die Handwerksproduktion durch wie die kreuzzugsbedingten Zerstörungen in vielen Gewerbestädten Syriens. Insgesamt verlief die Entwicklung der Lokalund Exportgewerbe sogar in den Kernräumen der christlichen Invasionen bis ins späte 12. Jahrhundert günstig; es wird berichtet , dass etwa irakische Textilien noch regelmäßig exportiert wurden, dass das unterägyptische Textilgewerbe bis etwa 1200 ungebrochen florierte, dass die Glaserzeugung in den Städten Syriens und die Metallverarbeitung in allen Regionen höhere Qualität und Quantität erreichte, dass die Imitation von Porzellan im arabischen Osten immer besser gelang, dass sich die Papierherstellung vervielfachte und die Zuckerproduktion in Obermesopotamien, Syrien und Ägypten und ständig wuchs.

Die erste Hälfte des 13. Jahrhunderts brachte in Ägypten, im Nahen Osten und in den Maghrebländern allerdings einen drastischen Niedergang des Gewerbes, die Textilindustrie Unterägyptens erlitten schwere Einbrüche, die sogar zur Aufgabe und Verödung so berühmter Produktionszentren wie Tinnis und Damietta führten in den Bereichen von Wissenschaft, Technik und Kunst blieb die europäische Reconquista nahezu folgenlos – vielleicht einfach deshalb, weil der Westen ziemlich wenig anzubieten hatte. Nur im
Bereich der Kriegstechnologie zeigten die Muslime Respekt vor den Kenntnissen und Möglichkeiten der Kreuzfahrer. Ab dem 12. Jahrhundert wiesen die Bewaffnung und die Befestigungsanlagen der islamischen Streitkräfte immer öfter fränkische Einflüsse auf, die auf gezielte Nachahmung oder den Einsatz christlicher Militärtechniken schliessen lässt.


Es gibt unzählige Theorien für die Tatsache, dass seit dem 11. und 12. Jahrhundert, parallel zum Aufschwung Westeuropas, ein allmählicher Niedergang der arabisch-islamischen Welt zu beobachten ist und Jahrhunderte der Stagnation folgten. Die Gründe der Dekadenz seien, neben der Invasion der „christlichen Barbaren“- Plünderungen
christlicher Kreuzfahrtheere spielten sicherlich eine Rolle – der Aufstieg türkischer Dynastien und ihrer Nomadenverbände sowie die Unfähigkeit der Araber, dauerhafte Institutionen zu schaffen, gewesen.


All dies mögen gewichtige Gründe für das Phänomen sein, dass in der arabischen Welt der Niedergang eintrat, während gleichzeitig für Europa die Epoche der Kreuzzüge der Beginn einer echten Revolution auf wirtschaftlichem und kulturellem Gebiet war. Wichtiger noch und wahrscheinlich entscheidend war aber , dass die von vielen Seiten bedrängte muslimische Welt intolerant und steril wurde und sich zunehmend auf sich selbst zurückzog, während der christliche Westen den Weg in die Moderne und zur globalen Expansion antrat.


Ein Beispiel für viele ist das Schicksal des bereits erwähnten Averroes, des kongenialen und weithin verehrten, berühmten Kommentators des Aristoteles. Er geriet ins Fadenkreuz fundamentalistischer Mullahs und zeternder Zeloten. Einer der bekanntesten Fundamentalisten jener Zeit war etwa Hamid Mohamed Al-Ghazali , der in seiner Bedeutung und seinem Einfluss auf die islamische Welt oft mit Thomas von Aquins Bedeutung für
die christliche Kirche verglichen wird und mit dem Averroes sich heftige Kontroversen lieferte. Averroes musste Cordova verlassen, flüchtete nach Afrika. Unter dem Schutz des Kalifen von Marrakesch war er zwar vor den Häschern aus Cordoba sicher, aber wohl um den Preis, dass er mundtot gemacht wurde. Es ist keine in Marokko geschriebene Schrift von ihm bekannt geworden, seine bereits veröffentlichten Werke wurden wahrscheinlich schon zu seinen Lebzeiten verbrannt oder aus den Bibliotheken entfernt.


Jedenfalls sind die meisten von ihnen nur noch in den lateinischen Übersetzungen des Abendlands bekannt – da zeigt sich die Dialektik der Rettung von Texten: Die Araber retteten den Aristoteles vor der Ignoranz der Abendländer, indem sie ihn ins Arabische übersetzten, aber die arabischen Übersetzungen wurden von den Abendländern gerettet, indem diese sie ins Lateinische übersetzten.


Von den vielen Werken Averroes sei hier nur eines etwas ausführlicher behandelt, denn es bedeutet die einzigartige und aus unserer Sicht fortschrittliche Weltsicht dieses grossen Vertreters der arabisch-islamischen und europäischen Geisteswissenschaft und gleichzeitig der Zusammenhang von Natur (-wissenschaft) und Geist (-eswissenschaft ).In seinem Werk Über das Verhältnis von Theologie und Philosophie macht Averroes ein Gedankenexperiment: Er lässt einen Menschen in völliger Einsamkeit und nur mit der Natur als Partner aufwachsen, um zu prüfen, ob ein solcher Mensch „Gott erkennen“ könne. Ja, sagt Averroes, der Einsame kann Gott
erkennen, aber sein Gott ist ein „Naturgott“, mit der Natur identisch und sie beseelend und mit Leben erfüllend. Das, sagt Averroes, was den Naturmenschen umgibt und ihn zwar einerseits in Notwendigkeiten einbindet, andererseits aber mit der unendlichen Freude des Entdeckens und Wissens erfüllt, das ist Gott. Und wenn nun dieser Naturmensch in die Welt der Menschen eintritt und ihren biblischen oder koranischen Reden zuhört, dann fällt es ihm wie Schuppen von den Augen: Diese Bibel- und Koranredner meinen ja dasselbe wie ich, nur reden sie nicht präzise
im Stile exakten Wissens darüber, sondern gewissermaßen in bildlicher Hülle. Sie verbieten zwar die Bilder, halten sich nur an die Schrift, aber die Schrift wird in ihren Händen selber zum Bild, zur heiligen Ikone, die man nicht wirklich lesen, sondern nur anbeten darf. Das kommt daher, dass sich diese „Schriftgelehrten“ nie auf ein ordentliches exaktes Naturstudium eingelassen haben, sie hatten ja gar keine Zeit dazu, sie waren in Geschäften unterwegs und mit ihrem alltäglichen Kleinkram beschäftigt, wie das eben für das Volk, „die Menge“, wie Averroes auch sagt, üblich ist. Die Masse, lehrt Averroes, braucht die offenbarte Religion mit ihren schlichten, faktisch bildlichen Erzählungen, aber der Gelehrte braucht sie nicht.

Natürlich wurden Averoes für diese Weltsicht von den Konservativen und Fundamentalisten der schwerwiegende Vorwurf der Gotteslästerung gemacht. Doch man kann die Polemik umdrehen. Indem die siegreichen Mullahs und Zeloten ihre für die Menge bestimmten „Bilderbücher“ bis in
die Gelehrtenstuben hineingetragen haben und die Gelehrten zwangen, sie anzubeten, haben sie den Islam wissenschaftlich mattgesetzt, mit allen verhängnisvollen Folgen.


Während die Kommentare von Averroes sich im Abendland tief eingruben und dort zweifellos zur Formierung eines spezifisch technischen, auf mathematisches Kalkül und Weltveränderung
erpichten Bewusstseins beitrugen, wurden sie in den islamischen Stammländern höchst wirkungsvoll unterdrückt, verfolgt und aus der kulturellen Tradition getilgt – und danach gings bergab.


Das Beispiel und Lebensschicksal von Averoes ist eines von vielen möglichen Beispielen für die von vielen Orientforschern mit guten Argumenten vorgebrachte These, dass eine rückwärts gewandte Auslegung des Islam durch erzkonservative Religionsgeistliche in Verbindung mit
einem repressiven politischen System letztlich für den Niedergang der arabisch-islamischen Zivilisation verantwortlich war. Die konservativen Religionsgeistlichen ging dabei ein Bündnis ein mit der sich ausbreitenden osmanischen Herrschaft über die arabische Welt, die dies gerne aufnahm, da es sich leichter regieren lässt, wo das freie Denken verboten ist.


So setzte sich dezidiert eine Denkrichtung durch, welche die eigene Erkenntnisfindung oder den Analogieschluss (Ijtihad und Quiyas) zugunsten einer wörtlichen Anwendung des Koran und einer äusserst restriktiven Interpretation der arabischen Erkenntnis- und Rechtsquellen untersagt.


„ Das Tor des Ijtihad ist geschlossen “, so ein berühmtes Dogma dieser konservativen Richtung, ein Verhängnis für die arabische Welt, ein Abtriften vom goldenen Zeitalter in ein dunkles Kapitelder arabisch-islamischen Geschichte und dabei auch und insbesondere ein Stillstand der arabischislamischen Wissenschafts- und Technologiegeschichte insgesamt.

East meets West

Nach Jahren der Stagnation erlebte die arabische Welt mit der Eroberung Ägyptens durch Napoleon 1798 ihre erste Konfrontation mit dem modernen europäischen Wissens- und Weltmarkt. Die militärisch-technische Überlegenheit der sich industrialisierenden Staaten, ihr aggressiver
Expansionsdrang und die soziokulturellen Herausforderungen führten zu einer ständigen Auseinandersetzung mit europäischen Vertretern aus Wissenschaft, Kultur und Politik. Und dabei ist es eigentlich bis in die heutige Zeit geblieben.


Der libanesische Physiker Antoine Zahlan beschreibt, wie sich seit der Invasion Napoleons ein kollektives Gefühl der Minderwertigkeit festgesetzt hat: “Während die Bevölkerung der Region eine unrealistische Vorstellung von der osmanischen Stärke vor der Zeit der napoleonischen Invasion hatte, so entwickelte sie sogleich ein Unterlegenheitsgefühl gegenüber dem Westen. Dieses Gefühl der Hilflosigkeit und Abhängigkeit verstärkt sich je mehr die einzelnen Arabischen Staaten nach Modernität suchen und je tiefer die militärischen und wirtschaftlichen Fehlschläge sind. Denn, ob es um Kampfflugzeuge geht oder petrochemische Anlagen, Sport-Arenen, Krankenhäuser oder Häfen, die arabischen Regierungen kennen heute nur einen Weg sie zu bekommen: als schlüsselfertige Lieferung durch internationale Unternehmen.“


Zahlen nennt mehrere Parameter, die Technologietransfer von Napoleons Invasion bis heute charakterisiert haben: einmal die Schnelligkeit, mit der sich Technokraten für den Import von Kapitalgütern entscheiden, und der stockende Aufbau lokaler Forschungsinstitute, die diese Prozess begleiten könnten; weiterhin stark personalisierte Entscheidungen der Staatsoberhäupter; dann eine unterbewertete Rolle von Technologie in der Planungsphase; sodann die Tatsache, dass es keine ausreichenden Evaluierungen der Projekte gebe und schliesslich die mangelnde Ausbildung an technischen Neuerungen. (4)

Technologietransfer ist in dieser Lesart ein weiterer Bereich, durch den der Norden seine wirtschaftliche und kulturelle Dominanz über den Süden verfestige. Häufig, so andere Kritiker, propagierten westliche Manager den Transfer von Einfach- und Billigverfahren, die als zweitrangig empfunden werden und das Gefühl von Ungleichheit verstärken.


Es gibt heute in der arabischen Welt verschiede Richtungen, dieser Konfrontation mit der westlichen Technologie zu begegnen, manche harmlos, manche aber auch besorgniserregend Teilweise, so wird angefuehrt, entwickelten die Menschen in den arabischen Staaten,
insbesondere in den reichen arabischen Ländern, eine illusorische Adoption von Wissenschaft und Technologie, so als sei Öl plus Technologie schon eine simple Formel für Industrialisierung und Modernisierung und so als sei arabische Popmusik schon der American way of life.


Man kauft unbefangen und selbstverständlich die neusten Produkte, die modernsten Anlagen und den letzten Stand der Technologie – und auch de entsprechenden Bediener dieser Technologie, die Expatriates- aus dem westlichen Ausland ein, ohne zu realisieren, so merken auch arabische
Soziologen kritisch an, dass eine Gesellschaft, die nur schlüsselfertige Projekte und Fertigprodukte importiert, Gefahr läuft, zu einer „turn-key“- Kultur und reinen Konsumgesellschaft – in einigen Ländern noch eingebettet in tribalistische Stammesstrukturen – zu werden.


Für sie wird der Erwerb der neusten technologischen Produkte synonym mit dem Glauben, sie seien damit Partner in der technischen Revolution der modernen Welt durch ihren enormen Reichtum und eine hohe Kaufkraft bewegen sie sich in einem von modernster Technik geprägten Lebensraum, ohne jedoch die kulturelle und geistige Modernisierung ihrer Gesellschaft mit vollzogen zu haben.


Wir treffen auf moderne Konsumenten, die sich zwar neuster Technologien bedienen, die sich aber nicht darüber klar sind oder sich nicht darüber bekümmern, dass der „local content“ an diesen Technologien bei der Anwendung und erst Recht im Vorfeld der Anwendung, also bei der Erforschung und Entwicklung, verschwindend gering ist. Einige Soziologen interpretieren die Tatsache, dass die arabische Welt einerseits die technologischen Errungenschaften des Westens ganz selbstverständlich nutzt und nachahmt, gleichzeitig aber sich aber entweder mit dem die westliche Technologie begleitenden Wertesystem nicht auseinandersetzt oder sich von letzterem gar distanziert und es öffentlich brandmarkt, als
im ersten Falle gefährlich naiv und im zweiten Fall als naiv gefährlich.


Ein bisschen von beidem konnte man auch an den Reaktionen der arabischen Öffentlichkeit zu den Ereignissen des 11 September 2001 feststellen. Sicherlich gab es auch viele, die diesen terroristischen Massenmord aus ideologischfundamentalistischer Blutsbrüderschaft mit Osama Bin Laden befürworteten und als wirkungsvollen Schlag gegen den Westen bejubelten. Aber das war sicherlich eine Minderheit. Die überwiegende – ausserhalb der arabischenWelt, insbesondere in den USA durchaus auch Irritation und Unverständnis hervorrufende – Reaktion war eher Bewunderung für die Perfektion der Ausführung und der medialen Bildwirkung, d.h. die Beherrschung so genannter westlicher Ideologien. Die allgemeine Anerkennung in der arabischen Welt galt den Elitestudenten, die erfolgreich im Westen studiert hatten und offensichtlich westliche Technologien meisterten.


Jemand aus der Mitte ihrer Gesellschaft war so gut integriert, dass man ihn „Schläfer“ nannte. Die arabische Bewunderung für die Attentäter mischte sich allerdings auch mit Äußerungen der Unterlegenheit: So wurde gleichzeitig von vielen immer wieder betont, dass Osama Bin Laden
nicht der Verantwortliche sein könne, da Muslime keinen Zugang zu den nötigen Technologien hätten.


Dieser – eigentlich unpolitischen, dem Westen eher unkritisch positiv eingestellten, andererseits aber auch nicht besonders reflektierten – Sicht der westlichen Welt stehen allerdings durchaus auch andere, eher kritische Richtungen gegenüber. Dabei ist diese Diskussion um die Übernahme moderner Technologien als eines der Kernstücke von Globalisierung stark geprägt von Fragen nach Identität, Selbstbestimmung und Abgrenzung.


Auf der einen Seite wird moderne Technologie als unersetzlich für die Entwicklung der Gesellschaft und – insbesondere in neuerer Zeit – für die Wettbewerbsfähigkeit in der globalisierenden Welt betrachtet, auf der anderen Seite materialisiert sich danach in moderner Technologie die ökonomische und kulturelle Dominanz des Westens, die abgelehnt wird.
In der postkolonialen Periode, wo Industrialisierung durch = Technologietransfer zu den wichtigsten Anliegen gehörten, bezog sich dieser kritische Ansatz gegenüber dem Westen eher auf allgemeine Probleme von Entwicklungsländern als auf spezifische Probleme der arabischen oder islamischen Welt. Danach seien die modernen technischen Errungenschaften den tatsächlichen Problemstellungen der Entwicklungsländer nicht angepasst, hätten auf die Verbesserung der Lebensumstände der breiten Bevölkerung keinen Einfluss und sie verstärkten die Abhängigkeit vom Westen.


Eine aktuellere Richtung nimmt westliche Wissenschaftler und Unternehmer als aktiven Teil des „clash of civilizations“.

Die Globalisierungsprozesse werden nicht als Zeitalter verstanden, welches neue Phänomene aufgrund einer wissenschaftlich-technischen Revolution birgt, sondern als neokoloniales Bedrohungsszenarium dargestellt und diskutiert. Im Zeitalter der Globalisierung wird von dieser Richtung die wissenschaftlich-technische Revolution als neokoloniales Unterdrückungsszenarium diskutiert und das Phänomen der Integration von Wirtschaft, Politik, Kultur und Wissenschaft als Fortsetzung der Unterdrückung durch eine „Neue Weltordnung“ gesehen, die man bekämpfen muss.


Nach einer die Globalisierungskritik aufgreifenden islamistischen Variante äussert sich dies in einer zunehmenden Feindschaft zwischen der islamischen und der christlichen Welt. Schliesslich wird, von einer noch extremeren islamistisch-fundamentalistischen Variante, das Bild von den neuen Kreuzrittern gezeichnet, die aufs Neue versuchen, das Dar Al Islam, das islamische Gebiet, zu unterwerfen und die man daher auch in ihren eigenen Metropolen bekämpfen müsse.


Im Zeitalter der unipolaren Welt wird dabei der Globalisierungsprozess auch überwiegend als Amerikanisierungsprozess angesehen, insbesondere wenn er , als Reaktion auf die Ereignisse des 11.September, in den USA mit einem Politikkonzept des Kampfes gegen „die Achse des Bösen“ oder in einer anderen Phrase, des „Kampfes gegen den Terror“ einhergeht.

Klischees erzeugen Gegenklischees.

Technologietransfer bedeutet ja nicht nur den Verkauf bestimmter Anlagen und Maschinen. Mit ihnen kommen Menschen, die das für den Betrieb notwendige Know-how vermitteln, die aber auch ihre eigenen Wertvorstellungen mitbringen. Und so sind die ausländischen Ingenieure, die in saudischen Ölraffinerien arbeiten, der Gesellschaftsmehrheit genauso ein Dorn im Auge wie die amerikanischen Soldaten und
Soldatinnen samt ihrer Militärpriester, die nach dem zweiten Golfkrieg in Saudi-Arabien oder nach der Invasion im Irak stationiert wurden. Ein anderer, nicht militant nach aussen, sondern eher nach innen gerichteter Ansatz nimmt ebenfalls den Koran als Bezugsrahmen, um dem Dilemma zu entgehen, einerseits am technologischen Fortschritt teilnehmen zu wollen, andererseits aber nicht in orientierungslose „Verwestlichung“ abzudriften.
Dies aber nicht im Sinne eines militanten Djihad gegen die modernen Kreuzritter, sondern eher als Verweis auf das glorreiche Zeitalter islamischer Wissenschaft zwischen dem achten und zwölften Jahrhundert.


Dabei wird insbesondere die Notwendigkeit betont, auch dort, wo westliche Technologie verwendet wird, autochthone, vom Islam bestimmte Formen des menschlichen Zusammenlebens zu entwickeln.

Bluetooth lüftet den Schleier

Wenn eine solche Rückbesinnung auf das goldene Zeitalter nicht eine blosse Nostalgie oder eine, im Zeitalter der Globalisierung langfristig nicht durchhaltbare, Abkapselung von der übrigen Welt, ist, birgt eine solche Rückkoppelung vielleicht Chancen für die Zukunft. Einmal zur Stützung des arabischen Selbstbewusstseins, denn eine solche Rückschau zeigt ja,
dass die arabische Wissenschaft und Technologiegeschichte eigentlich nie ganz ausgeschlossen war, sondern in ihrer Adaption durch die europäische industrielle Revolution doch in gewisser Weise partizipiert hat.


Wichtig ist eine solche Rückbesinnung aber auch, um aus dem Beispiel von Al Andalus die Erkenntnis zu fördern, dass Dialog und Konfrontation verschiedener Kulturen möglich und fruchtbar sind und dass die industrielle und technische Dynamik aus dem Westen nicht militant
zurückgewiesen werden muss, sondern dessen Technologie und damit einhergehende Wertmuster positiv beantwortet und teilweise sogar integriert werden können.

Von Al Andalus könnte die heutige arabische Welt auch lernen, dass Wissenschaft und Technologieentwicklung auf Dauer nicht von dem allgemeinen Prozess des Denkens und den soziokulturellen Eigenschaften ihrer Erzeuger getrennt werden kann. Eine solche Betrachtungsweise würde es auch erleichtern, die Unterschiede in Kultur und den Werten zwischen technologieproduzierenden und technologiekonsumierenden Gesellschaften zu begreifen. Und schliesslich kann das Anknüpfen an Al Andalus auch dazu beitragen, dass die Kräfte der Wissenschaft und der Technologieentwicklung im wahrsten Sinne des Wortes entfesselt werden.


Mangel an Funds, schwache institutionelle Unterstützung und schwache Integration in die internationale Wissenschaftler-Gemeinde, die oft als Gründe angegeben werden, um den gegenwärtigen schwachen Stand der Wissenschaft in den arabischen Ländern zu erklären, erfassen zwar nicht die eigentlich fundamentalen Wurzeln, aber sie sind sicherlich doch von
erheblicher Bedeutung. Das Geld ist ja in den meisten Ländern da; was entwickelt werden muss ist die Überwindung der bereits erwähnten Turnkey- und Konsumentenmentalität und der Wille und der Stolz, durch
eigene autochthone Beiträge zum allgemeinen wissenschaftlichen und technologischen Fortschritt beizutragen. Wer die Begeisterung in der ägyptischen akademischen Jugend erlebt hat, mit der der ägypten-stämmige – wenn auch in den USA arbeitende – Nobelpreisträger Zuwail in den ägyptischen Universitäten gefeiert wird, sieht, was möglich sein könnte.
Selbstverständlich- und auch hier kann ein Blick zurück in einen von Toleranz geprägten Politikansatz der damaligen arabisch-islamischen Welt hilfreich sein – ist es auch unumgänglich, die für die Entwicklung von Wissenschaft, Forschung und Technologie notwendigen politischen
und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen zu schaffen.


Denn unterhalb der Schicht der Staatselite, die oft genug nur durch Repression nach innen und Abkapselung gegen aussen auf Erhaltung des Status quo aus ist, sind es nahezu alle gesellschaftlichen Gruppen, die von bad governance nach innen und Abgrenzung nach aussen negativ betroffen sind. Gerade für Natur- und Sozialwissenschaftler führt die Isolation von
freiem Informationsfluss sowie offenem Dialog zu einer Marginalisierung, die ihre eigene Position schwächt. Denn ihre Forschung kann nur in geringem Maße auf weltweiten Forschungsergebnissen aufbauen. Ihre Ergebnisse und Theorien werden selten in internationalen Foren diskutiert und finden so wenig Möglichkeiten der Kommentierung oder Korrektur,
geschweige denn der Verbreitung. Gerade für die Bereiche Wissenschaft und Kultur kann Abgrenzung zum Selbst-Ausschluss führen, da eigene Rückwirkungen auf westliche Wissenschaft und Kultur ignoriert werden.

Die Zurückdrängung nationalstaatlicher Politik durch den Prozess der Globalisierung bringt ausserdem das Verhältnis von Staat und Gesellschaft ins Wanken. In zahlreichen arabischen Ländern berührt eine Änderung der Rahmenbedingungen sogar auch die Frage der Legitimität der Regierungsform oder zumindest der jeweiligen Regierung. Folge ist, dass die Gegenreaktionen immer dezidierter werden.


Viele machen daher für das Nachzügeln der Araber auf dem Gebiet der Wissenschaft und autochthoner Technologieentwicklung zu Recht vor allem die Politik der Regierungen verantwortlich. Für den Aufbau einer vernetzten Gesellschaft sei ein politischer Anstoss notwendig. Zuallererst sollte es einen liberalen Ansatz geben, was den Zugang zu Informationen
und den Austausch von Ideen betreffe.

Hier bietet die moderne Informations-und Kommunikationstechnologie vielleicht einen Ansatz, dem sich – nicht nur in der arabischen Welt – letztlich keine Regierung entziehen kann.

Denn die Politik, die in grossen Teilen der arabischen Welt verfolgt wird, läuft dem Prinzip, auf dem das Internet beruht – „das wichtigste, die Welt verändernde technologische Ereignis seit dem Einfangen des Feuers“ wie der Internet Guru John Perry Barlow (Gründer der Internet Freedom Foundation) es einmal ausdrückte – zuwider.


Das Internet fördert den freien Austausch und die freie Debatte und führt Versuche der Zensur immer mehr ad absurdum. Die neue technischen Möglichkeiten laden dazu ein, Informationen außerhalb der vorgeschriebenen Standards zu produzieren. Der inzwischen weltweit bekannte unabhängige arabische Fernsehsender Al-Djesira ist dafür ein gutes Beispiel.


Die Möglichkeiten der Kommunikationstechnologie gehen weit über den allgemein gesellschaftlichen Bereich hinaus, sie greifen auch in die individuellen Lebensverhältnisse ein. Ein amüsantes Beispiel sind die Möglichkeiten, die seit neuestem Bluetooth etwa in SaudiaArabien für Frauen eröffnet: Frauen können immer noch ohne die Einwilligung eines
„männlichen Vormunds“ – in der Regel der Vater oder der Ehemann – kaum Entscheidungen treffen, selbst bei der Beantragung eines Reisepasses oder beim Abschluss eines MobiltelefonVertrages ist die Zustimmung eines männlichen Familienmitgliedes nötig, ja noch nicht einmal den Führerschein dürfen sie machen. Doch die moderne Technik erlaubt es nunmehr, die rigiden Sittengesetze zu umgehen, wonach derjenige, der in der Öffentlichkeit sich mit einem Vertreter des anderen Geschlechts unterhält, im gleichen Auto sitzt oder essen geht, zumindest die Aufmerksamkeit der Religionspolizei auf sich zieht.


Jugendliche flirten daher seit neuestem mit Bluetooth. Mit dieser Technik lassen sich drahtlos Daten übertragen, ohne dass die Geräte „Sichtkontakt“ haben müssen – und das bis zu zehn Meter weit. Der Kontakt über Bluetooth ist ebenso sicher wie einfach und ermöglicht nunmehr eine unmittelbare Kommunikation, gegen die auch die gestrenge Obrigkeit machtlos ist.
Die Regierung versuchte vor einiger Zeit, die Kamera-Handys zu verbieten, mit denen junge Mädchen – die landesüblich sich in der Öffentlichkeit nur vollverschleiert zeigen dürfen – Passbilder von sich verschicken und so ihrem Gesprächspartner „Sichtskontakt“ verschaffen können. Weil es inzwischen aber kaum mehr ein Mobiltelefon ohne solche Ausstattung gibt, war dieser Versuch schon bald zum Scheitern verurteilt.


Der Universitätsleitung blieb daher nur der etwas hilflose Versuch, die Studenten auf möglichen Missbrauch von Bluetooth hinzuweisen: Wer Fotos seiner Mutter oder Schwestern im Handy gespeichert habe, riskiere, dass sie im ganzen Hörsaal verbreitet werden. Zugegeben, dieses etwas klischeehafte, aber durchaus sympathische Beispiel der befreienden
Wirkung von Bluetooth bedeutet nunmehr noch nicht, dass die Möglichkeiten der modernen Kommunikationstechnologien schon für sich einen Katalysator für die Öffnung der arabischen Welt und die Entfesselung seiner humanen Produktivkräfte in Wissenschaft und Technik darstellen.


Die in den Medien immer wieder gern beschriebene, allerdings wohl ebenso klischeehafte, Vorstellung, dass Osama Bin Laden aus den unzugänglichen Höhlen im Grenzgebiet von Afghanistan und Pakistan mit Hilfe des Internet und anderer moderner Kommunikationstechnologien ein weltweit operierendes Netzwerk von Terrorzellen steuert, spricht prima facie eher dafür, dass das Internet per se nur so gut oder böse ist, wie sein
jeweiliger Nutzer.

Dennoch dürften diese modernen Technologien, die über politische und institutionelle Schranken hinweg die arabische Jugend – mehr als 50 Prozent der Bevölkerung in den arabischen Staaten sind unter 18 Jahren – mit der Welt verbinden, auf Dauer mehr Chancen bieten als neue
Gefahren eröffnen, mehr Türen eröffnen als Schranken errichten.


Vielleicht öffnet sich auch so eines nicht allzu fernen Tages wieder das seit vielen Jahrhunderten geschlossene Tor des Ijtihad und lässt die arabische Welt wieder anknüpfen an ein Zeitalter, in dem arabische Kultur, arabische Wissenschaft und arabische Technologie blühten und – darüber sollten sich besonders die Europäer und der Westen insgesamt wieder klar werden – einen unschätzbaren Beitrag für die Menschheitsgeschichte leisteten.

1.) Die Beispiele sind aufgeführt im UNDP – Arab Human Development Report“ von 2003, sowie in einer Studie des Arab Social Development Fund, Kuwait 2003


2.)Ausführlich zu Cordoba: Paul Lunde, Islam: Culture, Faith and History (2001, Dorling Kindersley).


3.)Diese Begriffe und weitere Beispiele finden sich bei: Sigrid Hunke, Allahs Sonne über dem Abendland – unser arabisches Erbe, (Fischer Verlag, 2001)


4.)Antoine Zahlan, Science and Science Policy in the Arab World, zitiert nach Sonia Hegazi, Au Politik und Zeitgeschichte Nr. 18 / 03.05.2002

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