Diese Realität ist fürchterlich: Sun’allah Ibrahims Ägypten zwischen medialer Selbstdarstellung und erlebter Alltagsrealität

Andrea Haist

Am 22. Oktober 2003 sollte Sun’allah Ibrahim, einer der international renommiertesten Romanautoren Ägyptens, endlich einen der höchsten Literaturpreise seines Landes, den mit umgerechnet rund 13.000 Euro dotierten Preis des Hohen Rates für Kultur erhalten. Eigentlich war diese Auszeichnung längst überfällig. Aber lange Zeit hatten es die staatlichen Kulturinstitutionen vermieden, einen Autor auszuzeichnen, dessen Romane sich zwar der Gunst der Literaturkritiker und Leser erfreuten, die jedoch ein ziemlich finsteres Bild von den Verhältnissen im Lande zeichneten, und auch der Autor selbst hatte stets Distanz zum Staat und seinen Institutionen gewahrt. Nun aber hatte eine Jury, bestehend aus zehn führenden Literaturkritikern der arabischen Welt, beschlossen, ihn für sein Lebenswerk zu ehren – und ihm mit diesem Beschluss einige schlaflose Nächte bereitet. Beim Festakt anlässlich der Preisverleihung in der Kairiner Oper kam es zu einem Eklat. Am Ende seiner Rede erklärte der Preisträger, er könne den Preis nicht annehmen – nicht unter den derzeitigen politischen Verhältnissen, und nicht von dieser Regierung. Es sei nun einmal das Schicksal des arabischen Schriftstellers, dass er das, was um ihn herum geschehe, nicht einfach ignorieren könne: die Demütigung der arabischen Welt vom Persischen Golf bis zum Mittelmeer, die israelischen Übergriffe auf die Westbank und die systematische Vertreibung der Palästinenser, die amerikanische Hegemonie über die Region und das schändliche Einverständnis der arabischen Regierungen und Regime mit all diesen Vorgängen. Aber die Katastrophe gehe noch weiter, sie erstrecke sich auf alle Lebensbereiche: Es gebe in Ägypten kein Theater, kein Kino, keine wissenschaftliche Forschung, keine Bildung, keine Industrie, keine Landwirtschaft, keine Gesundheit und keine Gerechtigkeit mehr. Korruption und Diebstahl griffen um sich, und wer dagegen protestiere, werde einem Verhör unterzogen, geschlagen und gefoltert. Diese Realität sei furchtbar. Ein Schriftsteller, der seine Verantwortung ernst nehme, könne vor diesen Zuständen nicht die Augen verschließen und einen Preis annehmen, dessen Verleihung durch die Regierung unglaubwürdig sei. Dann verließ er unter starkem Beifall und umringt von zahlreichen Anwesenden, die ihn zu diesem Schritt beglückwünschten, den Saal, während der ägyptische Kulturminister das Mikrophon ergriff und erklärte, die Rede des Preisträgers sei in Wirklichkeit eine Auszeichnung für die Regierung: Denn hätte sie ihm nicht dieses Maß an Freiheit gewährt, dann hätte er gar nicht hier sein und auf diese Art und Weise sprechen können.

Der Eklat um die Preisverleihung zeigt: Sun’allah Ibrahim ist ein durch und durch politischer Schriftsteller. Sein Schreiben ist eng verknüpft mit den politischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Verhältnissen in Ägypten und der arabischen Welt, mit den Sorgen und Nöten der Menschen, die unter diesen Verhältnissen leben. Seine Kritik ist unbequem, er nimmt kein Blatt vor den Mund. Sein Verhältnis zur politischen Macht ist angespannt und immer wieder gerät er mit ihr in Konflikt.

Sun’allah Ibrahim wurde 1937 in Kairo geboren. Sein Vater war ein hochrangiger Beamter, der in zweiter Ehe eine aus einfachen Verhältnissen stammende Krankenpflegerin heiratete, die seine gelähmte erste Frau pflegen sollte. Schon früh erfuhr er die Bedeutung von Klassenunterschieden: die Familie des Vaters gehörte der oberen Mittelschicht an und verachtete seine Mutter wegen ihrer niederen Herkunft. Seine marxistischen Grundüberzeugungen, die er bis heute beibehalten hat, basieren nicht zuletzt auf diesen prägenden Erfahrungen seiner Kindheit und Jugend. 1952, kurz nach dem Putsch der Freien Offiziere und dem Ende der Monarchie, begann er ein Studium der Rechtswissenschaften an der Universität Kairo. Aber weit mehr als von der Jurisprudenz fühlte er sich von der Politik und vom Journalismus angezogen. Wegen seiner Mitgliedschaft in einer Splittergruppe der Kommunistischen Partei, wurde er am 1. Januar 1959 zusammen mit rund 250 weiteren Personen verhaftet – das nasseristische Regime duldete keine Opposition – und 1960 von einem Militärgericht in Alexandria zu sieben Jahren Gefängnis und Zwangsarbeit verurteilt. Nach einem Aufenthalt in zwei Gefängnissen in der Nähe von Kairo – wo die Gefangenen gefoltert und misshandelt wurden – wurde er dann in ein großes Gefangenenlager in der Oase al-Kharga in der Westlichen Wüste gebracht. Dort waren die Bedingungen nicht weniger hart: In Lumpen gekleidet und barfuss mussten die Gefangenen schwere körperliche Arbeit verrichten; sie wurden geschlagen und manche starben unter der Folter. Erst ein Hungerstreik im Juli 1961 brachte den Gefangenen dann Hafterleichterungen, etwa die Erlaubnis, Papier und Schreibzeug besitzen zu dürfen. Mit Aktivitäten wie etwa Kurzgeschichten- und Lyrikwettbewerben, Theateraufführungen oder Malereikursen sowie der Redaktion einiger Gefängniszeitschriften versuchten die Gefängnisinsassen sich geistig zu behaupten. Gemeinsam mit Freunden verfolgte Sun’allah Ibrahim, – soweit es die in das Gefängnis geschmuggelten Bücher und Zeitschriften erlaubten – experimentelle Entwicklungen in der Weltliteratur, und wie viele seiner Mitgefangenen begann er, selbst zu schreiben. Noch im Gefängnis beschloss er, Schriftsteller werden zu wollen.

Im Mai 1964 wurde Sun’allah Ibrahim im Zuge einer Generalamnestie aus dem Gefängnis entlassen. Er bezog ein möbliertes Zimmer im Kairiner Stadtteil Heliopolis, unterstand aber nach wie vor der polizeilichen Überwachung, mit der Auflage, abends und nachts zu hause zu sein. Tagsüber machte er sich wieder mit einer Umwelt vertraut, die er fünf Jahre lang nicht gesehen hatte. Seine ersten Eindrücke hielt er allabendlich in Tagebuchaufzeichnungen fest. So entstand Tilka l-ra’iha (Jener Geruch), Sun’allah Ibrahims erster Roman, der 1966 publiziert wurde.
 

Kairo durch die Augen eines entlassenen politischen Häftlings

Dieser Roman, in dem der Autor seine Tagebuchaufzeichnungen verarbeitet, erzählt aus der Perspektive eines nicht näher bezeichneten Ich-Erzählers, der aus politischen Gründen inhaftiert wurde, wie er in den ersten zehn Tagen nach der Entlassung aus der Haft die Realität außerhalb des Gefängnisses erkundet und versucht, an sein früheres Leben anzuknüpfen. Er nimmt Beziehungen zu Menschen wieder auf, die ihm in den unterschiedlichen Stadien seines früheren Lebens nahe standen – zur Witwe eines in der Haft umgekommenen Freundes, zu Freunden und Verwandten, Eltern und Großeltern -, und er besucht Orte, an denen er sich früher aufhielt – ein von den ehemaligen politischen Mitstreitern frequentiertes Café, die Redaktion einer Zeitschrift, für die er früher geschrieben hat, die Kinos im Stadtzentrum und schließlich auch das Haus seiner Kindheit. Von Anfang an wird der Ich-Erzähler mit einer Realität konfrontiert, die seine Freude über die Freilassung trübt: Die Menschen, denen er begegnet, sind müde, verarmt und deprimiert. Ihre Beziehungen zu ihm und untereinander sind zumeist geprägt von Egoismus, lieblos und brüchig, selten solidarisch und herzlich. Das Land ist in einem desolaten Zustand – so desolat wie die Kairiner Kanalisation, deren Abwässer in den Straßen der Innenstadt stehen und deren Gestank allen Leuten in die Nase sticht. Die mit der Revolution von 1952, dem Nasserismus und dem arabischen Sozialismus verbundenen Hoffnungen auf eine bessere, gerechtere und freiere Zukunft haben sich, das ist die Quintessenz des Romans, nicht erfüllt. Erzählt wird diese Rückkehr ins normale Leben auf zwei Ebenen: Auf der Ebene der vordergründigen Realität teilt der Ich-Erzähler lapidar und kommentarlos in chronologischer Folge mit, was er tut, sieht und hört. Er verzeichnet alle banalen Verrichtungen, die zum Alltag gehören, wie Aufstehen, zur Toilette gehen, Duschen, Anziehen, Kaffee kochen, Frühstücken usw., er beschreibt kurz und prägnant Szenen, die er beobachtet, und er gibt Gesprächsfetzen wieder, in denen die Menschen, die er trifft, ihm etwas über ihre individuellen oder die gesellschaftlichen Lebensumstände mitteilen. Er selbst teilt sich ihnen jedoch nicht mit. Was er denkt, wird dem Leser auf einer zweiten Ebene mitgeteilt, in Passagen, die drucktechnisch markiert sind und seiner Innenwelt vorbehalten sind, seinen Reflexionen, die das äußere Geschehen kommentieren, seinen Tagträumen und seinen Erinnerungen an Kindheit, Jugend oder die Zeit im Gefängnis. Dabei nimmt die Beschreibung der erlebten Realität keine Rücksicht auf Tabus: Von Homosexualität, Selbstbefriedigung, Sex ist ebenso die Rede wie von Formen der Gewalt und Verachtung, mit denen der Staat seine Bürger behandelt, oder von Korruption. 

Es versteht sich von selbst, dass dieses ungeschönte Bild der Realität bei der damals noch existierenden Zensurbehörde auf wenig Gegenliebe stieß: Der Roman wurde unmittelbar nach seinem Erscheinen konfisziert und der Autor zum Verhör ins Informationsministerium zitiert. Dennoch gelang es ihm, einige Exemplare des Romans vor dem staatlichen Zugriff zu retten und insgeheim zu verteilen. Zwar wurde der Roman 1968 in einer Beiruter Zeitschrift und 1969 erneut auch in Kairo publiziert, jedoch beide Male in einer zensierten Version. Die erste unzensierte Version erschien 1971 in der englischen Übersetzung von Denys Johnson-Davies. Die arabischen Leser durften den Roman erst 1986 in einer unzensierten Version lesen. Diese Erfahrung mit der Zensur hat den Autor nachhaltig geprägt.

Nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis fand Sun’allah Ibrahim zunächst Arbeit als Buchhändler und Übersetzer, später arbeitete er für die ägyptische Nachrichtenagentur MENA. 1968 übersiedelte er nach Beirut, dann nach Ost-Berlin, wo er für ADN, die staatliche Nachrichtenagentur der DDR, arbeitete. 1971 studierte er mittels eines Stipendiums drei Jahre lang in Moskau Kinematographie, bevor er nach Ägypten zurückkehrte. Er arbeitete zwei Jahre lang für einen Verlag, und 1976 heiratete er. Gemeinsam mit seiner Frau beschloss er, die Arbeit aufzugeben, um sich fortan ganz dem Schreiben widmen zu können. Übersetzungen von Büchern, die eine gewisse Affinität zu seinen eigenen Werken aufweisen, zahlreiche Jugendbücher sowie Drehbücher für Kino- und Fernsehfilme sorgten für ein gewisses Einkommen.
 

Der Bau des Pharao

In den Jahren zwischen 1967 und 1974 entstand Sun’allah Ibrahims zweiter Roman Nagmat Aghustus (August-Stern), der 1974 in Damaskus und erst zwei Jahre später in Kairo erschien. Ihm liegt eine Reise zugrunde, die Sun’allah Ibrahim 1965 gemeinsam mit zwei Freunden zum Assuan-Staudamm unternahm und in einer 1967 publizierten Reportage – Insan al-sadd al-‚ali (Der Mensch des großen Staudamms) – festhielt. Wie diese Reise ist auch der Roman im Jahr 1965 angesiedelt. Ein Ich-Erzähler, von Beruf Journalist, begibt sich im Hochsommer von Kairo nach Assuan, um den Bau des Staudamms zu besichtigen. Tag für Tag besucht er unterschiedliche Bauabschnitte und berichtet minutiös, vom morgendlichen Aufstehen bis zum Schlafengehen, was er tut, sieht und hört, mit wem er sich unterhält und was er dabei erfährt. Technische Abläufe und die beim Bau verwendeten Maschinen werden ausführlich beschrieben und die am beteiligten Personen kommen zu Wort: russische und ägyptische Arbeiter und Ingenieure, LKW-Fahrer, Sekretärinnen, Funktionäre und Militärs. Begleitet wird der Ich-Erzähler dabei zeitweilig von einem Freund, einem erfolgreichen Karinier Journalisten, der Reportagen über den Bau des Staudamms schreibt. Dabei wird er Zeuge, wie die am Bau beteiligten Personen und die ägyptischen Medienvertreter vor Ort den Bau des Staudamms verklären. Er registriert dabei Widersprüche zwischen dem in den Medien dargebotenen Bild vom Staudammbau und der repressiven, menschenverachtenden Realität auf der Baustelle. Später begibt er sich nach Abu Simbel, wo der Felsentempel Ramses’ II zerlegt wird, um an anderer Stelle wieder aufgebaut zu werden. Dies gibt ihm Gelegenheit, Parallelen zwischen der Verehrung des Pharao und Nassers zu ziehen, die sich beide mit der Errichtung großartiger Bauwerke ein Denkmal setzen. Der Bau des Staudamms, dessen Planung bereits 1952 begonnen wurde und dessen Bauzeit sich von 1960 bis 1971 erstreckte, spiegelt sinnfällig die nachrevolutionäre ägyptische Gesellschaft unter Nasser wieder – mit all ihren Widersprüchen. 

Ähnlich wie in Jener Geruch wird auch in August-Stern auf zwei Ebenen erzählt: Auf der Ebene der vordergründigen Realität verzeichnet der Ich-Erzähler kommentarlos, was er tut und sinnlich wahrnimmt. Hierin eingestreut sind drucktechnisch markierte Textpassagen mit Erinnerungen an die Zeit im Gefängnis, ein innerer Monolog, Auszüge aus einem Buch über Michelangelo sowie aus einem ägyptologischen Aufsatz über Ramses II. Diese Texte stellen den Bau des Staudamms in einen weiteren autobiographischen, philosophischen und historischen Kontext. 
 

Eine Satire auf die Sadat-Ära

Der 1981 in Beirut erschienene Roman al-Lagna (Der Prüfungsausschuss) ist dagegen eine sarkastische Abrechnung mit der Ära Sadats: Die schwere wirtschaftliche Krise, in die Ägypten Ende der sechziger Jahre geriet, versuchte Sadat Anfang der siebziger Jahre durch eine politische Umorientierung zu lösen: Ägypten suchte den Anschluss an den Westen, insbesondere an die USA, und ein Gesetz zur Liberalisierung der Wirtschaft öffnete ab 1974 das Land für westliche Investitionen. Es erlaubte Joint Ventures, den Transfer von Profiten ins Ausland und den Import ausländischer Waren, die sehr bald den ägyptischen Markt überschwemmten. Aber nur eine kleine Oberschicht, vor allem Spitzenfunktionäre und geschäftstüchtige Selfmademen, profitierten von der Öffnung. Der Lebensstandard großer Teile der Mittelschicht verschlechterte sich durch die steigende Inflation bei gleich bleibendem Einkommen zunehmend, und die Kluft zwischen Reich und Arm vergrößerte sich immer weiter.

Im Roman Der Prüfungsausschuss stellt sich ein Ich-Erzähler mit offensichtlich linker Vergangenheit – er steht für das Ägypten Nassers, aber auch für die Linksintellektuellen der siebziger Jahre – der Befragung durch ein skurriles Komitee, das sich aus Zivilisten, hochrangigen Militärs, einer alten Jungfer und einem westlichen Ausländer zusammensetzt – allem Anschein nach Repräsentanten der kapitalistischen und pro-westlichen Kräfte. Der Ich-Erzähler möchte ein neues Leben beginnen, und bei der Prüfung soll herausgefunden werden, ob er sich trotz seiner Vergangenheit dafür eignet. Zu diesem Zweck muss er allerhand erniedrigende Prozeduren über sich ergehen lassen und schließlich zwei Fragen beantworten, die zeigen sollen, wie weit seine Selbstverleugnung geht. Die erste Frage lautet: „Welche Leistung des 20. Jahrhunderts ist so bedeutend und weltumspannend, dass man sich auch zukünftig an sie erinnern wird?“ – „Coca-Cola“, antwortet der Erzähler nach längerem Nachdenken. Denn Coca-Cola, führt er aus, sei ein weltweit verbreitetes Produkt, es sei – als Getränk amerikanischer Soldaten – mit den maßgeblichen Ereignissen des 20. Jahrhunderts eng verbunden: „Coca-Cola ließ sich auf das Risiko zweier Weltkriege ein – und ging siegreich daraus hervor.“ Der Coca-Cola-Konzern beeinflusse bis heute die amerikanische und internationale Politik, insbesondere in der Dritten Welt. Aber diese ironische Antwort, die die Verflechtungen eines Großkonzerns mit der internationalen Politik offen legt, gefällt dem Ausschuss ganz und gar nicht. Bei der zweiten Frage sind historische Kenntnisse des Erzählers über die Cheops-Pyramide gefragt. Da er – in Anspielung auf den ägyptisch-israelischen Separatfrieden von 1979 – ausführt, dass die Ägypter allein wohl nicht in der Lage gewesen seien, diese zu bauen, sondern dabei wahrscheinlich die technologische Unterstützung von Israeliten gehabt hätten, zeigt sich der Ausschuss zufrieden. Der Erzähler wird aus der Prüfung entlassen und verbringt die nächsten Wochen zwischen Hoffen und Bangen. Schließlich erhält er ein Telegramm, in dem er gebeten wird, eine Abhandlung über die „strahlendste arabische Persönlichkeit unserer Zeit“ zu verfassen – eine schwierige Aufgabe: Politische Führer und Regierende scheiden aus, weil der Ich-Erzähler sie möglicherweise anders beurteilt als es dem Ausschuss lieb ist, und auch keiner der sieglosen arabischen Militärführer, opportunistischen Dichter und Schriftsteller, ins Ausland abgewanderten Wissenschaftler, käuflichen Richter usw. kommt als „strahlendste arabische Persönlichkeit“ in Betracht. Beim Durchblättern einer Tageszeitung stößt der Ich-Erzähler dann auf die schillernde Figur des ‚Herrn Doktor’, eine in der arabischen Welt höchst einflussreiche Persönlichkeit, und er beschließt, sie zum Thema seiner Abhandlung zu machen. Die Recherchen gestalten sich allerdings schwierig und werden behindert, da in den Archiven der großen Tageszeitungen sämtliche Einträge aus den Dossiers entfernt und aus den Zeitungen alle Artikel über den Herrn Doktor herausgeschnitten wurden. In einer Frauenzeitschrift und in einem amerikanischen Magazin wird der Erzähler schließlich doch noch fündig. Es gelingt ihm, die Biographie des Herrn Doktor und seinen – für die Zeit typischen – Aufstieg zum Milliardär zu rekonstruieren: Aus einer armen Familie stammend, aber mit verwandtschaftlichen Beziehungen zu einem der neuen Machthaber nach 1952 ausgestattet, kann er als Filmregisseur, und später als Präsident eines staatlichen Bauunternehmens, der Baufirmen, an denen er persönlich beteiligt ist, mit Subkontrakten versieht, den Grundstein zu seinem späteren Vermögen legen. Zu Beginn der siebziger Jahre steigt er in den Waffenhandel ein – ein angesichts der Kriege und Spannungen im Nahen Osten lukratives Geschäft – und nach der Liberalisierung der Wirtschaft betätigt er sich als Importeur von Flugzeugen, Autos, Nahrungsmitteln und anderen Konsumgütern. Darüber hinaus ist er im Besitz einer nationalen Abfüllkonzession für Coca-Cola. Denn nachdem Coca-Cola von der arabischen Welt boykottiert wurde, weil der Konzern auch Israel eine Abfüllkonzession erteilt hatte, wird durch den ägyptisch-israelischen Separatfrieden ein solcher Boykott überflüssig, und der Herr Doktor, der sich für die Beseitigung von Handelshindernissen eingesetzt hatte, erhält zur Belohnung die Konzession für Ägypten. Doch als der Erzähler mit seinen Recherchen schon so weit gediehen ist, aus dem gesammelten Material weitreichende Schlüsse ziehen zu können, sucht ihn der Prüfungsausschuss auf und legt ihm nahe, das Thema zu wechseln. Um zu verhindern, dass der Erzähler das Thema weiterverfolgt, lässt der Ausschuss eines seiner Mitglieder bei ihm zurück. Auf Schritt und Tritt bewacht, wird das Leben für den Ich-Erzähler unerträglich, und als er entdeckt, dass sein Bewacher einen Revolver mit sich führt, bringt er ihn mit einem Küchenmesser um. Die bei den anschließenden Trauerfeierlichkeiten aufgestellten Beileidskränze zeigen, dass die politischen und ökonomischen Machteliten der westlichen Industrienationen, Israels und der Dritten Welt um den Ermordeten trauern. Bei dieser Gelegenheit muss sich der Erzähler auch vor dem Ausschuss rechtfertigen. In einer langen Rede erklärt er, welche weiteren Zusammenhänge er noch zu durchschauen in der Lage war. Er kann beispielsweise erklären, dass die Verschlechterung der Qualität und die Knappheit von Trinkwasser ursächlich mit Bewässerungsprojekten des Coca-Cola Konzerns in der israelischen Negev-Wüste zusammenhängt und dass zudem die daraus resultierende Verschmutzung des Trinkwassers wiederum den Import von Mineralwasser und Limonade desselben Konzerns nach sich zog. Aber diese Erkenntnisse missfallen dem Ausschuss, und der Erzähler wird verurteilt. Da er nichts mehr zu verlieren hat, lässt er sich auf dem Heimweg auf einen Akt der Rebellion gegen die unerträglichen Lebensverhältnisse ein: Er stellt sich als einziger der Umstehenden vor eine Frau, die von einem Mann belästigt wird. Bei den sich dabei ergebenden Handgreiflichkeiten wird er verletzt, muss er sich in ärztliche Behandelung begeben – eine willkommene Gelegenheit, dem Arzt unverblümt ins Gesicht zu sagen, er ruiniere durch die Eröffnung seiner Privatpraxis das staatliche Gesundheitssystem. Zuhause kommt er zu dem Schluss, er hätte nicht vor, sondern gegen den Prüfungsausschuss aussagen müssen, denn sein ehrliches Handeln bedeute letztlich seinen Untergang. Dann vollstreckt er das über ihn verhängte Urteil und – verzehrt sich selbst.

Aber auch wenn der Erzähler sich am Ende selbst verzehrt, weil es noch zu früh ist, gegen das imperialistisch-kapitalistische System anzugehen, so ist Der Prüfungsausschuss doch, wie Stephan Guth festhält, ein Appell, gegen die herrschende Klasse Position zu beziehen, sich ihrer Verschleierungstaktik nicht zu unterwerfen, sondern ein kritisches politisches Bewusstsein zu bewahren, Zusammenhänge – wie die Verbindung des Herrn Doktor zur herrschenden Machtelite und zum Coca-Cola-Konzern zu durchschauen –, Widerstand zu leisten und Missstände nicht einfach zu tolerieren, sondern dagegen anzugehen.
 

Wie liest man Zeitung in der Ära Mubarak?

Wie das konkret geschehen könnte, wird in dem 1992 in Kairo publizierten Roman mit dem Titel Dhat vorgeführt. Dhat ist der ungewöhnliche Name der Heldin des Romans. Es ist eine Anspielung auf die Heldin des mittelalterlichen arabischen Volksepos um die Prinzessin Dhat al-Himma („die Frau mit edlen Absichten“), eine Amazone, die in den arabisch-byzantinischen Kriegen des 8. und 9. Jahrhunderts Heldentaten vollbringt. Für sich genommen kann Dhat auch Selbst bedeuten. Der Roman ist ein modernes Epos, in dem Dhat, eine typische Angehörige der städtischen Mittelschicht, gegen die Widrigkeiten des Alltags kämpft und Widerstand leistet, so gut und so lange es eben geht – aber gegen die sich verschlechternden Lebensbedingungen, den Verfall der öffentlichen Moral, den Zusammenbruch staatlicher Institutionen und Einrichtungen und das Abgleiten der Gesellschaft in religiösen Fanatismus und Obskurantismus kommt sie nicht an.

Die Handlung des Romans setzt Mitte der sechziger Jahre ein, als Dhat, Studentin der Medienwissenschaft, und Abd al-Magid, Bankangestellter mit abgebrochenem Studium, heiraten und einen Hausstand gründen. In Heliopolis haben sie in einem Neubauviertel für Angehörige des öffentlichen Dienstes eine günstige Mietwohnung gefunden. Noch ist die Welt in Ordnung: Abd al-Magids Einkommen ist ausreichend, seine Zukunftsaussichten sind gut, sein männliches Selbstwertgefühl ungebrochen und die Geschlechterhierarchie noch intakt: Abd al-Magid kann es sich leisten, Dhat die Fortsetzung des Studiums zu verbieten. So wird sie Hausfrau und Mutter zweier Töchter, und sie begräbt ihren Traum, eines Tages Journalistin zu werden. Aber in den siebziger Jahren steigen die Lebenshaltungskosten und Dhat muss arbeiten gehen. Über Beziehungen findet Abd al-Magid für sie einen Job bei einer Tageszeitung. Dort arbeitet sie in einer Abteilung, die formal die sprachliche und sachliche ‘Korrektur’ – ein Euphemismus für Zensur – und Bewertung der in der Zeitung publizierten Artikel verantwortlich ist, tatsächlich aber keine Funktion mehr hat, da das, was in den Zeitungen veröffentlicht werden darf, vom Informationsministerium oder Präsidialamt diktiert wird. Diese Abteilung wird im Laufe der Zeit zu einem wichtigen Nachrichten-Umschlagplatz, in dem all die Nachrichten von Skandalen und Wirtschaftsverbrechen ausgetauscht werden, die in der Zeitung nicht veröffentlicht werden dürfen. So erhält Dhat erstaunliche Einblicke in die ägyptische Gesellschaft aus erster Hand. Zu Beginn der Ära von Hosni Mubarak, der 1982 Sadat nach dessen Ermordung gefolgt war, wird Dhat – wegen ihrer Sympathien für Nasser und Antipathien gegen Sadat – ins Archiv strafversetzt. Dort hat sie es mit den für diese Zeit typischen Zeitungen und Magazinen zu tun, die auf die öffentliche Malaise nur mit der Wiedergabe von leeren politischen Sonntagsreden und Slogans reagieren, und sie ist mit unpolitischen, überwiegend islamisch gesonnenen und nach islamischen Vorschriften gekleideten Kolleginnen konfrontiert, die Banalitäten aus ihrem Mütter- und Hausfrauenalltag erzählen und sie wegen ihrer offenbar linken politischen Gesinnung ablehnen.

Dhat und Abd al-Magid gehören nicht zu denjenigen, denen in den siebziger und achtziger Jahren der soziale und ökonomische Aufstieg gelingt. Im Gegenteil, ihre Lebensverhältnisse werden immer schlechter. Das saubere Wohngebiet verdreckt, die Straßen sind voller Abwässer, überall liegt Müll, und im Treppenhaus treiben zahlreiche Katzen ihr Unwesen. Vergeblich versucht Dhat, die Hausbewohner zu bewegen, in einer gemeinsamen Initiative etwas gegen den Müll und die Katzenplage zu unternehmen – die Partikularinteressen der Hausbewohner verhindern eine Lösung des Problems. Das Haus verkommt und die Wohnung müsste dringend renoviert werden. Aber eine neue Küche, ein neues Bad, für die im Fernsehen geworben wird, können sich Dhat und Abd al-Magid nicht leisten, – im Unterschied zu den Nachbarn, die als Offiziere bei Polizei und Militär oder Angestellte bei der Stadtverwaltung hin und wieder ihr Einkommen mit Schmiergeldern aufbessern können und mit diesem Geld ihre Wohnungen renovieren. Und da Abd al-Magid weder willens noch in der Lage ist, sein Studium abzuschließen oder in die reichen Golfstaaten zu emigrieren, und es den beiden auch nicht gelingt, sich selbstständig zu machen, müssen sie Konsumverzicht üben. Während Abd al-Magid sein Versagen mit dem Konsum von Pornofilmen und Geschichten über imaginäre Heldentaten kompensiert, kämpft Dhat tagsüber gegen den Alltag, nachts träumt sie von den heroischeren Männern, wie denen aus den ägyptischen Spielfilmen der fünfziger und sechziger Jahre. Die Geburt des lang ersehnten Sohnes zieht einige Veränderungen nach sich. Abd al-Magid ändert seinen Lebensstil und wird fromm. Auch Dhat ändert ihr Auftreten und legt den Schleier an, – weil Abd al-Magid es so will. Die Pflege und Erziehung des Sohnes konfrontiert Dhat wiederum mit grotesken sozialen Malaisen.

Der Besuch eines befreundeten Ehepaars, das aus Europa zurückkehrt, bringt Dhat noch einmal neue Erkenntnisse: Die Medikamente, die in den ägyptischen Apotheken erhältlich sind, sind in Europa wegen ihrer gesundheitsschädigenden Wirkungen nicht zugelassen, und die Lebensmittel, die in Ägypten verkauft werden, enthalten ebenfalls gefährliche Stoffe. Da zudem in der Zeitung zu lesen ist, hormonbehandeltes Hähnchenfleisch habe bei ägyptischen Männern den Verlust der Libido und eine Vergrößerung der Brust zur Folge gehabt – Abd al-Magid hat diese Symptome auch schon an sich beobachtet – wird Fleisch aus dem Speiseplan verbannt und auf gesunde Ernährung umgestellt. Eine Dose Oliven, die mit einem falschen Haltbarkeitsdatum versehen wurde, veranlasst Dhat schließlich zu einem heroischen Akt des Widerstands: Sie beschließt ihre Rechte und Pflichten als Staatsbürgerin wahrzunehmen und informiert das Gesundheitsamt sowie die Polizei über den Vorfall. Aber zu zahlreich sind solche Fälle, als dass die Behörden die Sache ernst nehmen würden. Was Dhat bleibt, ist, die Meldung des Vorfalls protokollieren zu lassen. So gerät sie, unterstützt von ihrer Freundin Himma, in den Dschungel der ägyptischen Bürokratie, in dem sich ein einfaches Protokoll als komplizierter Verwaltungsakt erweist, der mehrere Tage in Anspruch nimmt.
 

Fiktionalisierungen des Wirklichen

Dhats Geschichte macht jedoch nur eine Hälfte des Romans aus; die andere Hälfte besteht aus Collagen von Zeitungsausschnitten, die hauptsächlich der ägyptischen Presse entnommen sind und die im Wechsel mit den Erzählkapiteln dargeboten werden. Sie beleuchten Entwicklungen auf nationaler und internationaler Ebene, die für die politischen, ökonomischen und sozialen Verhältnisse in Ägypten im dargestellten Zeitraum bestimmend sind – und auch Dhats Leben prägen. So ergibt sich aus den Zeitungsausschnitten ein Bild der ägyptischen Gesellschaft der achtziger Jahre. Das Material zielt darauf ab, die herrschende politische und ökonomische Elite zu diskreditieren; zugleich geht es darum, mittels der Collagen den ideologischen Charakter der Medienberichterstattung zu entlarven.

Die unter Sadat vollzogene Allianz mit dem Westen, insbesondere den USA, verspricht finanzielle und technologische Hilfe, aber diese Hilfe schafft auch politische Abhängigkeit. Die Wirtschaftsreformen Sadats erweisen sich als ‘Ausverkauf’ von Staatseigentum und ziehen die Zerstörung der einheimischen Industrie nach sich. Führende ägyptische Politiker und andere Staatsdiener sind an dem damit verbundenen Transfer ägyptischen Kapitals an ausländische Unternehmen oder in die eigene Tasche maßgeblich beteiligt und die Staatsverschuldung steigt. Der ideologische Überbau dieser Gesellschaft wird von islamisch-fundamentalistischen Theologen geliefert, die – unter Sadat als Antipoden von Kommunisten und Nasseristen gefördert – die Islamisierung der Gesellschaft predigen. Sie machen ihre eigenen Geschäfte, indem sie beispielsweise die Verschleierung der Frau propagieren und gleichzeitig die ersten Modehäuser für muslimische Frauen eröffnen. Der Schluss dieses Kapitels wird ironisch durch ein Zitat von Mubarak gekrönt: „Umfassende Entwicklung hat in allen Lebensbereichen stattgefunden dank all derer, die in allen Feldern der Produktion mit einem Teamgeist der Solidarität und Ehrlichkeit arbeiten.“ Die vorausgegangenen Zeitungsausschnitte widersprechen dieser Aussage ganz entschieden und stellen sie als leeres Gerede bloß. 

Die darauf folgenden Kapitel beleuchten die ägyptisch-amerikanisch-israelischen Beziehungen, den Zustand des Gesundheitswesens und der Infrastruktur, berichten von Naturkatastrophen, Epidemien und Unfällen, von Aufständen und Streiks und deren Niederschlagung, befassen sich mit der Islamisierung der Gesellschaft, dem islamischen Diskurs in den Medien, den Geschäftspraktiken islamischer Firmen und Banken und den zunehmenden Spannungen zwischen Muslimen und Kopten oder verfolgen den Aufstieg und Fall von Politikern, Wirtschaftsbossen, Theologen, Schauspielern und anderen Figuren des öffentlichen Lebens. Selbst Werbeanzeigen werden aufgenommen. Dabei werden immer wieder Schlagzeilen und Nachrichten über tatsächlich geschehene Vorfälle und aufgedeckte Skandale kontrastiert mit Verlautbarungen von Politikern, Erklärungen hoher Funktionäre oder Berichten staatlicher Institutionen.

Im Prüfungsausschuss wurde der Ich-Erzähler in seinen Nachforschungen unterbrochen, als er begann, aus dem gesammelten Material brisante Schlüsse über den Zusammenhang von Politik, Kapital und dem Niedergang Ägyptens zu ziehen, und diese niederzuschreiben. In Dhat wird ebenfalls nur Material präsentiert, hier aber ist der Leser aufgefordert, das zu tun, was der Erzähler im Prüfungsausschuss nicht tun sollte: Schlüsse ziehen.

Aber nicht nur die offiziellen staatlichen Verlautbarungen werden durch die Collagen demaskiert, sondern auch der islamische Diskurs wird in seinem ideologischen Charakter durch die ausgewählten Zitate rücksichtslos entlarvt. So kommt etwa Scheich Sha’rawi zu Wort, ein in Ägypten wegen seiner Fernsehauftritte außerordentlich populärer Theologe, dessen Einfluss, Macht und Ansehen seit Anfang der siebziger Jahre kontinuierlich wuchs und der viel zur Islamisierung Ägyptens beitrug. Sha’rawi produziert eben die Ideologie, die verhindert, dass sich an den sozialen Verhältnissen etwas ändert – und der Staat dankt es ihm: 
 

Wenn du ein Haus siehst, das seinem Besitzer hohe Mieteinnahmen bringt, solltest du auf diesen Mann nicht neidisch sein. Vielmehr solltest du für ihn beten, weil er sein Geld ehrlich verdient. Er hat niemanden ausgebeutet, sondern nur für die Ernährung und Bekleidung der ärmsten Arbeiter gesorgt. 


Auch die Verflechtung islamistischer Ideologie mit handfesten Geschäftsinteressen wird in zahlreichen Zeitungsausschnitten aufgedeckt. So wird der Leser einmal beispielsweise mit einer skurrilen Fusion islamistischer und westlicher Manager-Rhetorik konfrontiert: 

                                                               Sony feiert Rückkehr
Ergebnis der Kooperation zwischen der japanischen Firma Sony, der Internationalen Islamischen Handelsgesellschaft für Computer, der Internationalen Islamischen Bank und der Banha Elektronik-Handelsgesellschaft
Prof. Muhammad Samir ‚Ulaish: Lob sei Gott und Dank. Hinter diesem großen Ereignis stehen viele Jahre kontinuierlicher und beharrlicher Arbeit. Heute ernten wir die Früchte unserer Arbeit und unserer Anstrengungen, und ein Traum wird wahr. Ja, Sony ist zurück auf dem ägyptischen Markt. Ende der siebziger Jahre trafen wir uns erstmals mit einigen Wegbereitern dieses Projekts und beschlossen, in allen Lebensbereichen den Namen Gottes und das Gesetz Gottes zu erhöhen. Denn die Grundsätze des Islams sind nicht nur Rituale, die man vollziehen muss, sondern sie sind auch eine Anleitung fürs richtige Leben, der alle Menschen, die sich darum bemühen, folgen können. So sind wir heute Zeugen der Geburt der Internationalen Islamischen Handelsgesellschaft für Informationstechnologie (Computum), einer neuen Tochtergesellschaft der Firma Compuland, die ihre Ziele erreichen und die Welt der Zukunft im Sturm erobern wird, die Welt der Information, die bisher das Monopol einiger weniger Staaten war.

Die Kapitel mit Collagen aus Zeitungsausschnitten enthalten auch Bilder und Bildunterschriften. Die für die Bilder reservierten Plätze bleiben allerdings leer; es ist am Leser sie zu füllen. Aufgrund seiner Kenntnis der Wirklichkeit und deren üblicher Darstellung in den Medien weiß er, wie das Bild auszusehen hat, das zur Bildunterschrift gehört: „Präsident Mubarak schüttelt Shaikh Sha’rawi die Hand und überreicht ihm den Orden der Republik“ oder „Einwohner von Alexandria, überschwemmt von Abwasser, in und vor ihren Häusern“.
Die Kapitel mit den Collagen aus Zeitungsausschnitten sind eng mit den Kapiteln des Erzähltexts verflochten. Was im Erzähltext Dhat und Abd al-Magid widerfährt, wird erst durch die Collagen in vollem Umfang verständlich. Aus ihnen erfährt der Leser beispielsweise, weshalb die Oliven, die Dhat kauft, verdorben sind: weil nämlich das Gesundheitsministerium die Kontrollen für importierte Waren aufgehoben hat. Umgekehrt lässt der Erzähltext auch den ideologischen Charakter mancher Zeitungstexte aufscheinen, etwa, wenn in einem Zeitungstext Shaikh Sha’rawi erklärt, Frauen seien gezwungen, arbeiten zu gehen, weil die Männlichkeit ihrer Gatten abnehme. Der ägyptische Leser weiß jedoch nicht zuletzt aus eigener Erfahrung, dass die Frauen in erster Linie wegen der gestiegenen Lebenshaltungskosten arbeiten müssen.

Erzähler und Leser als Komplizen

Autor und Verleger haben, beraten von drei Rechtsanwälten, dem Roman eine Erklärung vorangestellt: „Die Vorkommnisse, von denen in einigen Kapiteln des Romans berichtet wird, sind der ägyptischen Presse entnommen, sowohl der staatlichen als auch der oppositionellen. Mit ihrer Reproduktion ist weder eine Bestätigung ihrer Richtigkeit, noch eine Schädigung des Rufs der Personen, die sie behandeln, beabsichtigt. Sie sollen die Medienatmosphäre widerspiegeln, die das Leben der Figuren bestimmt und sie beeinflusst.“
Das ist gewiss nur die halbe Wahrheit. Dhat ist ein Text, in dem Erzähler und Leser eine permanente Komplizenschaft eingehen. Sie wissen ganz genau, wie der Alltag, die Realität aussieht, dass sie den Verlautbarungen der herrschenden Klasse und dem Diskurs in den Medien nicht trauen dürfen. Sie benutzen das den Zeitungen entnommene Material zur Subversion und behalten die daraus gewonnenen Erkenntnisse über die Machenschaften der herrschenden Klasse für sich. 

Es ist sicher kein Zufall, dass der Roman auf ein begeistertes Echo in der ägyptischen Literaturkritik stieß. Einer Meinungsumfrage zufolge war Dhat der beste Roman des Jahres 1992. Im Jahr darauf sollte er mit einem staatlichen Preis als wichtigster ägyptischer Roman ausgezeichnet werden – aber dazu konnten sich die staatlichen Institutionen nicht durchringen. Es sollte ein weiteres Jahrzehnt dauern, bis Sun’allah Ibrahim der höchste ägyptische Literaturpreis angetragen wurde – und dieser ihn ablehnen durfte.
 

Werke
Tilka l-ra’iha (Jener Geruch), Kairo 1966. 
Nagmat Aghustus (August-Stern), Damaskus 1974. 
al-Lagna (Der Prüfungsausschuss), Beirut 1981.
Bairut, Bairut, Kairo 1984.
Dhat, Kairo 1992.
Sharaf, Kairo 1997.
Warda, Kairo 2000.
Amrikanli (‘Amerikanlisch’), Kairo 2003.

Übersetzungen
The Smell of It and other stories, übers. v. Denys Johnson-Davies, London 1971.
Etoile d’août, übers. v. Jean-Francois Fourcade, Paris 1987.
Der Prüfungsausschuss, übers. v. Hartmut Fähndrich, Basel 1987.
Zaat, übers. v. Anthony Calderbank, Cairo, New York 2001. 
Charaf ou l’honneur, übers. v. Richard Jacquemond, Arles 1999.
Warda, übers. v. Richard Jacquemond. Arles 2002.

Weiterführende Literatur
Draz, Ceza Kassem: „Opaque and Transparent Discourse in Sun’allah Ibrahim’s Works“, in: The View from Within. Writers and Critics on Contemporary Arabic Literature, hg. v. Ghazoul, Ferial J. u. Harlow, Barbara, Kairo: The American University in Cairo Press 1994.
Fähndrich, Hartmut: „Trials and The Trial. ÑunÝallÁh IbrÁhÐm, Franz Kafka etc.“, in: Myths, Historical Archetypes and Symbolic Figures in Arabic Literature. Towards a New Hermeneutic Approach, hg. v. Neuwirth, Angelika u.a., Beirut, Stuttgart: Steiner 1999, S. 239-245.
Guth, Stephan: Zeugen einer Endzeit. Fünf Schriftsteller zum Umbruch in der ägyptischen Gesellschaft nach 1970, Berlin: Schwarz 1992 (bes. S. 114-149).
Mehrez, Samia: Egyptian Writers Between History and Fiction. Essays on Naguib Mahfouz, Sun’allah Ibrahim and Gamal al-Ghitani, Kairo: The American University in Cairo Press 1994, (bes. S. 119-146).
Stagh, Marina: The Limits of Freedom of Speech. Prose Literature and Prose Writers in Egypt under Nasser and Sadat, Stockholm 1993.
Stehli, Ulrike: „Referenz und Selbstreferenz. Strategien des Erzählens in Sun´allah Ibrahims Tilka r-ra`iha“, in: Understanding Near Eastern Literatures. A Spectrum of Interdisciplinary Approaches, hg. v. Verena Klemm u. Beatrice Gründler, Wiesbaden: Reichert 2000, S. 203-214.

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