Eine schwere Palästina-Reise ( 15. Oktober – 5. November 2002)

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Von Hakam Abdel-Hadi

Zum Autor: Journalist und Publizist , ehemaliger Redakteur der DEUTSCHEN WELLE in Köln, seit sieben Jahren Dozent an der Universität Birzeit in der Westban

Erster Teil :

Nur die Ruhe bewahren

Für einen deutschen Bürger palästinensischer Abstammung ist es ein Privileg nach Palästina/Israel zu reisen. Der deutsche Pass bewirkt Wunder. Von Amman kommend überquert man die König-Hussain-Brücke wie ein ganz gewöhnlicher, fast willkommener Tourist und erspart sich die quälende Wartezeit,  die „normale“ Palästinenser, die  eine andere Passage benutzen, ertragen müssen. Außerdem umgeht das Sammeltaxi Jericho und damit einige Checkpoints; in etwa 30 Minuten  ist das ersehnte Jerusalem in Sicht.

Wer aber nach Ramallah will, muss die Kalandia-Absperrung passieren, wo die Zauberwirkung des deutschen Reisepasses endet. Hunderte von Menschen stehen Schlange und unterwerfen sich der strengen Kontrolle israelischer Soldaten. Wartende sind gute Käufer, und es mangelt nicht an Angebote vieler ärmlicher  Straßenhändler: billige Textilien, Kaugummis, Gemüse, Zigaretten etc.  Sarkastisch  bezeichnen die Leute den Kalandia-Absperrungsmarkt als „unseren palästinensischen Duty Free“.

Die 100.000 Bewohner Ramallahs leben eingesperrt zwischen zwei von  300 Checkpoints, die laut HAARETZ in den besetzten Gebieten zerstreut sind – Kalandia und Surda. Hat der britische Botschafter in Israel übertrieben, als er kürzlich sagte, die Westbank und der Gazastreifen seien das größte Gefängnis der Welt?

Kalandia ist wegen seiner Nähe zu Jerusalem zweifelsohne Nummer eins unter diesen Absperrungen; die Palästinenser können sie ohne Sondergenehmigung nicht passieren. Hat der junge, flinke Palästinenser  vielleicht keine Genehmigung, und wird er vielleicht deshalb von einem gleichaltrigen israelischen Soldaten vor meinen Augen verprügelt? Wer kümmert sich schon um solche Bagatellen?  Jeder ist froh, das berühmt-berüchtigte Hindernis ohne Schikanen hinter sich zu lassen.

Für mich ist der Surda-Checkpoint, der Ramallah, die heimliche Hauptstadt der Palästinenser, von 50 Dörfern trennt, jedoch von großer Bedeutung, weil ich ihn wegen eines Lehrauftrags an der Universität Birzeit  zehn Mal wöchentlich überwinden muss.

Birzeit ist ein kleiner, verschlafener Ort, in dem knapp 20.000 Menschen leben; er liegt lediglich nur sieben Kilometer von Ramallah entfernt. Normalerweise würde die Fahrt dorthin höchstens 15 Minuten dauern, wegen des Kontrollpunkts  braucht man aber eine gute Stunde: eine Fahrt mit dem Sammeltaxi bis zum ersten Verkehrshindernis, danach ein Fußmarsch von knapp einem Kilometer und schließlich eine zweite Fahrt mit dem nächsten Sammeltaxi. Zwischen den beiden  Trennpunkten stehen israelische Panzer und Soldaten, die sich junge Leute heraus picken und nach ihren Ausweisen verlangen. Eine Sondergenehmigung brauchen sie hier nicht, da sie sich in den vom Kern Israel entfernten besetzten Gebieten befinden.

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Mehr als 2000 Studenten und Hochschullehrer haben unter diesen Umständen – gelegentlich wird die Surda-Absperrung  völlig gesperrt – es vorgezogen, das begehrte Stadtleben in Ramallah aufzugeben und nach Birzeit umzuziehen. In Birzeit brach daraufhin die Infrastruktur, die Kanalisation etc., fast zusammen.

Eindrücke von der Birzeit-Universitaet

Nachts, etwa gegen vier Uhr , ruft der Rektor der Universität, Dr. Hanna Nasser, seine Vertreterin Dr. Carmela Omari Zuhause an, wo ich drei Wochen zu Gast bin: „ Die israelischen Soldaten sind in den Campus einmarschiert und haben die Asta-Räume verwüstet“.  Dies geschieht während meines Aufenthaltes drei Mal. Ein anders Mal positionieren sich zwei Militärfahrzeuge vor den beiden Eingängen. Plötzlich rufen aufgebrachte Studenten mit Handmikrophonen zum Widerstand auf. „Wir müssen unsere Universität verteidigen“, skandieren sie. Innerhalb einer halben Stunde findet eine Demonstration statt. Steine werden gegen die Fahrzeuge geschleudert. Die Soldaten ziehen ab; man kann aufatmen. Es hätte jedoch schief gehen können. Am nächsten Tag kommt prompt die Strafe: Die Surda-Absperrung wird dicht gemacht.

Der Lehrbetrieb wird dennoch im großen und ganzen aufrechterhalten. Die Leitung weicht in extremen Notfällen auf eigene Einrichtungen in Ramallah aus. Viele Studenten, vor allem aus dem Gaza-Streifen sowie aus manchen Dörfern und Städten, wie Jenin und Nablus, können  wegen der vielen Absperrungen und der unsicheren Strassen zwar nicht zur Universität gelangen, aber die meisten von ihnen, die sich das leisten können, sind längst in Ramallah oder Birzeit eingezogen. Seit fünf Monaten müssen die Hochschullehrer mit halben Gehältern auskommen, weil die Kassen der Autonomiebehörde fast leer sind und die Unterstützung für die älteste und prominenteste  Alma Mater des Landes eingestellt ist.

Der Alltag in Ramallah

In Sangria, einem Hotelcafe, sitzen Dutzende von gut aussehenden und flott gekleideten  jungen Frauen und Männern, trinken Bier und ziehen gelassen noch am späten Abend an den langen Schläuchen ihrer Wasserpfeifen. Wo sind wir, in Beirut, Paris, denn in Ramallah herrscht doch  ab 1800 Uhr eine totale Ausgangssperre? Walid Al Omari, Korrespondent  der Fernsehanstalt AL JAZIERA, antwortet lapidar: „Seit der ersten Invasion der israelischen Armee am 29. März gibt es hier mehr oder weniger eine Ausgangssperre, aber es scheint, dass das Leben stärker als die Besatzung ist“.  Natürlich wird die Ausgangssperre nur von besonders wagemutigen und lebenslustigen jungen Leuten und den meisten Taxifahrern gebrochen. Ein Taxifahrer sagt: „Mich können sie einsperren oder erschießen, aber sie können mich nicht daran hindern, alles zu tun, um meine Familie zu ernähren“. Ja, und was ist,

wenn ein Taxifahrer von einer Patrouille erwischt wird? Ihm wird der Autoschlüssel abgenommen. Aber die gewieften Fahrer haben, wie es heißt, mindestens sieben Ersatzschlüssel.    

So einfach ist das Leben im allgemeinen leider nicht, obwohl  den Bewohnern Ramallahs scheinbar an nichts fehlt.  Die Regale in den Geschäften sind voll, meist mit israelischen Waren. Dennoch: der Schein trügt. Zehntausende von Menschen haben ihre Arbeitsplätze in Israel und den besetzten Gebieten verloren. Abu El Walid, der im Flüchtlingslager Al Amari, einem Stadtteil Ramallahs, mit seiner fünfköpfigen Familie unter unerträglichen Bedingungen haust, ist ein Musterbeispiel für das Elend

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der meisten Palästinenser. Er lebt seit zwei Jahren von Gelegenheitsjobs und der Unterstützung einiger Nachbarn  und Verwandten. Überhaupt, die sonst so entwicklungshemmende Großfamilie ist für diese Zeit der Not wie geschaffen. Wenn einer es im In- oder Ausland irgendwie schafft, zieht er die anderen Familienmitglieder mit.

So beklemmend und trostlos der Alltag in Ramallah auch ist, so vermag die Besatzungsmacht das Rückgrad der palästinensischen Bevölkerung nicht zu brechen. Sie kann diese Not offenbar Dekaden aushalten. Man trifft selten einen  Palästinenser, der daran denkt, sein Land aufzugeben. Fast alle hier haben sich mit der Existenz Israels abgefunden, aber die israelische Regierung bietet ihnen mit ihrer Siedlungspolitik keine Kompromisse.

Von der Weltgemeinschaft erwarten sie Sprüche, aber wenige  ernsthafte Taten.  Ein Al Fatah-Anhänger beschreibt die Lage so:  „Ich kann kein Licht am Ende des Tunnels sehen, weil kein Tunnel in Sicht ist.“  Mit Scharon, dem Mentor der militanten Siedler, der fast alles haben will, ist wohl keine Regelung zu erzielen- das pfeifen die Spatzen von den palästinensischen Dächern. Und Scharon  wird im Januar 2003 höchstwahrscheinlich  wieder gewählt. Also die Misere wird Jahre dauern. Diese Geduld werden die seit 35 Jahren unter israelischer Besatzung lebenden Buerger aufbringen:  Ihnen bleibt nichts anders übrig.

Arafat ist der Alte geblieben

Am 29. Oktober tagt das palästinensische Parlament in Al Mukqataa,  Präsident Arafats Hauptsitz. Dr. Sami Muassalam, ein in Bonn promovierter Politologe und Leiter des Präsidentenbüros in Jericho, sagt mir, „du kannst die Sitzung live erleben. Ja, wir sind eine Demokratie“. Zunächst bin ich über das Ausmaß der Al Mukqataa-Zerstörung erschrocken. Es handelt sich um ein Gelände von etwa einem halben Quadratkilometer. Dutzende von Gebäuden wurden von israelischen Kanonen  dem Erdboden gleichgemacht. Nur das mit vielen Sandsäcken barrikadierte Büro Arafats und ein Nebengebäude sind nahezu unversehrt geblieben. Solche Bilder sind durchaus, wenn auch in kleineren Maßstab,  mit jenen in Dresden und Köln im Jahre 1945 vergleichbar. Der Karikaturist der palästinensischen Tageszeitung AL QUDS witzelt über die fehlende arabische Solidarität: „Eine großzügige arabische Spende traf heute für Arafats Büro ein, Tausend Sandsäcke“.

Es handelt sich  für Arafat um eine wichtige Parlamentssitzung. Es geht ihm darum,  Vertrauen für das neu gebildete Kabinett zu gewinnen. Der erste Versuch war vor einigen Wochen gescheitert. Die meisten Al Fatah-Abgeordneten, die die Mehrheit bilden, hatten den Vorschlag Arafats abgelehnt. Sie forderten die Ablösung einiger korrupter Minister. Nun sprachen sie dem neuen Kabinett das Vertrauen aus, obwohl nur vier Minister ausgewechselt wurden. Einige Abgeordneten aus dem Gazastreifen dürfen nicht anwesend sein, weil die israelische Militärbehörde  ihnen die Ausreise verweigert. Die anderen solidarisieren sich mit ihnen und bleiben in Gaza. Sie können sich  an der Debatte und an der Abstimmung durch eine Satellitenschaltung beteiligen. So kann man beispielsweise den alten und neuen Versorgungsminister, Abu Ali Schahien, ein Demagoge ersten Ranges, sehen und hören. Der Mann, der Kapital aus einem 20-jaehrigen Gefängnisaufenthalt in Israel schlägt, gilt für viele Palästinenser als  korrupt und als „Mehlkönig“.  Der Abgeordnete Hussam Khader wirft ihm u.a. vor – trotz der Not seiner Landsleute – Mehlsäcke an israelische

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Kibbuzim für gutes Geld verkauft zu haben. Andere Abgeordnete, wie z.B. der palästinensische  Unterhändler und Minister für lokale Angelegenheiten, Saeb Erekat, ergreifen das Wort. Er richtet seine Worte an die ausländische Presse, die reichlich vertreten ist: „ Sie können mit Ihren eigenen Augen sehen, wie demokratisch wir unsere Probleme diskutieren. Wir haben es nicht nötig, uns von anderen  (gemeint sind die USA) belehren zu lassen“.

Nach der Abstimmung applaudiert das Publikum und manche stimmen das alte Lied an: „ Siegreich bist du, o Al Fatah, siegreich, o du unsere Revolution“.

Das Ganze hat einen leicht folkloristischen Charakter. Dennoch bleiben das gewählte Parlament und der gewählte Präsident, der seinen  Platz neben dem Parlamentspräsidenten Abu Al Ala` und seinen Vertretern auf der Bühne einnimmt, die einzige legitime Vertretung des palästinensischen Volkes. Die etwa zweistündige Rede  Arafats, die er zuvor gehalten hatte, konnte ich leider nicht hören, aber sie wurde von allen Tageszeitungen veröffentlicht.

Die meisten Palästinenser bleiben von der Kabinettsumbildung und der angeblichen Demokratie unbeeindruckt. Sie wissen, dass Arafat allein das Heft in der Hand hat. Eine Zahnärztin sagt: „ Nach seinem Tode wird sein Kopftuch uns vierzig Jahre regieren“. Er regiert zwar nicht mit harter Hand, aber mit einem Scheckheft, von dem etwa Hunderttausend  Beschäftigte im öffentlichen Dienst abhängig sind. Während der ersten Invasion der israelischen Armee und der dramatischen Belagerung von Jenin  , so berichtete ein gut informierter Palästinenser, telefonierte er mit seinem Planungsminister Nabil Schaath, der einst in Kairo weilte, um stets zu wiederholen: „Die Gehälter, denk daran, die Gehälter müssen gesichert werden“.

Für ihn ist die Loyalität zu seiner Person das A und O.  Kritiker meinen hinter vorgehaltener Hand, dass er sogar korrupte Mitarbeiter schätzt, weil er sie dadurch im Griff hat. Er selbst, sieht man von seiner Machtgier ab, ist allerdings ein Asket. Seine Untertanen sind hin und her gerissen: Einerseits sind sie über sein korruptes System entsetzt, andererseits unterstützen sie seine patriotische Haltung und respektieren seine historische Leistung als Gründer der modernen palästinensischen Befreiungsbewegung. Der 73-jaehrige Mann hat sich ja schließlich in den vergangen 50 Jahren seines Lebens für die Erlangung der Rechte des palästinensischen Volkes unermüdlich eingesetzt, aber leider mit wenig Erfolg. Dennoch steht der alte Mann nach jeder Niederlage auf und zeigt mit einem gequälten Lächeln das Siegeszeichen. Die meisten Palästinenser wissen dann nicht, ob sie stolz darauf sein, lachen oder weinen sollen?

Die Zerstörung der Al Mukqataa und die Fernsehbilder, die ihn stets zeigen, wie er vor den Sandsäcken ungebrochen seine Erklärungen abgibt, bekräftigen seine seit fast 40 Jahren bestehende Führung. Die israelische Invasion der Autonomiegebiete und die Angriffe auf die Al Mukqataa, die sich gegen Arafat persönlich richten, machen  ihn zu einem einzigartigen  Volkshelden. Er hat keine ernsthaften Rivalen und wird wahrscheinlich zu seiner Lebenszeit keine bekommen. „Ja, es stimmt“, sagt ein Fatah-Vertreter, der sich für einen Abgeordnetensitz des bald zu wählenden Parlaments bewirbt, „das System ist korrupt, aber in erster Linie geht es uns um den Kampf gegen die verdammte israelische Besatzung und einen konsequenteren Widerstandskämpfer als Arafat haben wir nicht“.  

Eigenartige Verhältnisse

Einiges kommt mir in diesem Land so surrealistisch vor: eine sogenannte palästinensische Autonomie, ein Quasi -Staat mit einem gewählten Parlament und

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Präsidenten, Ministerien und sonstigen Institutionen, aber vor der Tür Arafats fahren israelische Panzer wie selbstverständlich. Es ist ein voll und ganz besetztes Land, aber eben ohne einen von der Besatzungsmacht ernannten palästinensischen Gouverneur. Die „Autonomie“ -Behörde vor allem in der Westbank ist ohne echte Macht und Staatsgewalt.  Dennoch gibt es unter den Palästinensern keinen  Mord und Totschlag, keine Raubüberfälle, zumindest nicht über das übliche Maß hinaus. Die Gerichte arbeiten. Der Verkehr funktioniert im Grossen und Ganzen. Alles läuft irgendwie, wenn auch nicht besonders ordentlich. Ist es vielleicht die soziale Kontrolle, oder die Untergrundorganisationen, oder die Clans, die den Buerger schützen und mit unsichtbaren Händen vieles lenken? Vermutlich eine Mischung von allen drei Elementen. Man beobachtet gelegentlich einen unbewaffneten Mann in ziviler Kleidung ( ? einen Polizisten ), der in der Stadtmitte leise den Verkehr regelt. Was für Verhältnisse?

Makaber finde ich, dass sogar  ein Staatsminister einräumt, dass die Korruption zweifellos das „Regime“ aushöhlt. Warum unternimmt aber um Himmelswillen keiner etwas dagegen?

ZWEITER TEIL

ANGST UND TRAUER  – SUBJEKTIVE EINDRÜCKE

 Jähes Ende eines gemütlichen Abends

Am 21.Oktober sitze ich in Ramallah mit dem Kollegen Aref Hijjawi, BBC-Korrespondent und stellvertretender Leiter des Medieninstituts der Universität Birzeit, in seinem Wohnzimmer zusammen. Es ist kurz vor 1800 Uhr, Beginn der Ausgangssperre. Wir wollen einen längeren gemütlichen Abend verbringen. Danach kann ich, trotz der verhängten Ausgangssperre , wie an anderen Abenden mit dem Taxi zur Wohnung meiner Freunde gelangen, wo ich untergebracht bin. Aref ist ein Literaturkenner und exzellenter Oudspieler ( Oud ist ein altes orientalisches gewölbtes Instrument, das am ehesten mit einer Gitarre zu vergleichen ist). Seine 16-jaehrige Tochter Mariam ist ab und zu bereit, zu singen. Wir müssen sie nur ein wenig beschwatzen und aufmuntern. Hervorragend sang sie vor wenigen Tagen das fast 100 Jahre alte Lied von Sayyid Darwisch, dem Vater der ägyptischen Gesangskunst: „ Steht auf Ihr Handwerker vor den Türen Gottes“.  Wenn sie ein Wort vergaß, half Aref zärtlich : „Jalla Jaba, weiter mein Kind“. Es wird also auch heute viel Gutes zu hören und zu erzählen geben. Die Wasserpfeifen werden angeworfen.

Plötzlich kommt seine aufgeregte Frau Samira: „so eben berichtete AL JAZIERA über ein Selbstmordkommando. Die Täter sprengten ihren PKW und einen israelischen Bus in der Nähe von Khdera. Viele Tote“. Aref und ich springen zum Fernsehgerät. Mir wird mulmig und die Freude ist schnell verflogen. Wie werden die Israelis darauf reagieren? Werden sie die Ausgangssperre verschärfen? Werden sie Arafats Sitz, ein Steinwurf von Arefs Wohnung, angreifen?  Werden heute Abend noch Taxis fahren? Ich werde unruhig und ängstlich.

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„Aref, bestell bitte ein Taxi für mich. Ich weiß nicht, wie die israelische Armee sich verhalten wird, und wer weiß, ob unter diesen Umständen später Taxis fahren würden“. Er bietet mir an, bei ihm zu übernachten, aber ich bestehe, in meiner Unruhe verfangen, drauf, meinen Besuch abzubrechen.

Der Taxifahrer fährt wild, und mir ist es recht so, aber muss der Idiot direkt an die Mukqataa  vorbeifahren. Unweit davon, etwa 300 Meter entfernt, haben israelische Panzer vor dem Kulturministerium Position bezogen. Das  fünfstöckige Gebäude, in dem auch der Privatsender AMWAJ untergebracht war, ist seit Monaten von Soldaten besetzt. Sie brauchen also nur einen Schiessbefehl per Funk zu erhalten, und in wenigen Minuten könnten sie die Reste des  Sitzes von Präsident Arafat in die Luft jagen, und der durchgedrehte Taxifahrer nimmt keine Umgehungsstrasse. Die 10 Sekunden um die Mukqataa, etwa 500 Meter, kommen mir wie eine Ewigkeit vor. Viele Bilder spielen sich in meinem Kopf ab: ich sehe mein Konterfei an den Wänden von Ramallahs Gassen geklebt: „Hakam Abdel-Hadi, Märtyrer des Wortes, ein in Deutschland lebender Journalist, am 21. Oktober 2002 von Besatzungssoldaten erschossen“.

Einige Tage später erzähle ich diese Geschichte meinen Brüdern in Amman, als sie mich fragten, ob es Gefahrenmomente während meines Aufenthaltes in Ramallah gegeben hätte. „Na, hacke ich nach, ist die Situation gefährlich gewesen, oder bin ich ein Angsthase?“ Sie stimmen  überein, dass ich ein Angsthase sei.

Ein Verkehrschaos und ein drohender israelischer Panzer

Ich erzählte meinen vier Brüdern eine zweite Geschichte:

Nach Beendigung meiner Arbeit in Birzeit bin ich nach dem Fußmarsch dabei, das zweite Verkehrshindernis der Surda-Absperrung mit einem Sammeltaxi mit weiteren sechs Mitfahrern zu verlassen. Man kann sich keine Vorstellung davon machen, was für ein Chaos dort immer gibt- nicht zuletzt, weil es keine Polizei in der ganzen Westbank geben darf: Dutzende von Sammeltaxis bemühen sich hinein oder heraus  zu fahren. Die Strasse dieser verordneten Sackgasse hat eine normale Breite und bietet für die Autos keine gute Wendemöglichkeit. Alle sind ungeduldig und bemüht, den verhassten Ort in Windeseile zu verlassen. Hunderte von  Studenten, Kindern mit ihren Müttern, Bauern mit Säcken  ihrer eben eingebrachten Olivenernte, die sie in Ramallah verkaufen wollen, sind wie vom Teufel geritten.     

In dem Moment kommt ein israelischer Panzer von oben in Richtung dieser besagten Sackgasse. Ein Soldat mit Maschinengewehr sitzt drauf. Das Fahrzeug will zu den beiden Panzern durchstoßen, die 200 Meter hinter der Absperrung mitten im Tal den Kontrollpunkt bilden, aber wie kann es in diesem Wirrwarr durchkommen. „ Zur Seite Ihr, Hunde- und Hurensöhne“, schreit der Soldat die Taxifahrer und Passanten auf Arabisch an. Immer wieder ruft er sie dazu auf, die Strasse zu räumen. Das wollen sie möglichst tun, aber wie?!  Die Spannung wächst und dauert Minuten- die Autos fahren wild hin und her, kommen aber nicht von der Stelle. Die Passanten sind hilflos, erschrocken und bewegen sich  wie Hühner zwischen den vielen Autos.

Was passiert, wenn einige wütende Studenten sich das nicht gefallen lassen wollen und anfangen, Steine auf den jungen Soldaten und seinen Panzer zu werfen? Wird er schießen? Er hat bestimmt genau soviel Angst wie die Menschenmenge, denke ich. So entstehen Massaker. Schließlich fährt er doch ohne Blutvergießen durch.

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Dieses Mal bekomme ich komischerweise gar keine Angst- vielleicht, weil ich einer von vielen bin. Der Tod mit der Masse ist ein Segen, sagt ein altes arabisches Sprichwort. Scheinbar ist ein wahrer Kern daran.

Auch diese Begebenheit wollen meine Brüder nicht als besonders bedrohlich ansehen. Sie bezeichnen mich als „Kaninchen“. „Was würden die  Märtyrer dazu sagen, die echte Risiken eingingen“, flüstern sie spöttisch. „Sie können nichts mehr sagen, aber ich sage euch, kriegserprobte Kollegen bestätigten, dass es schief hätte gehen können“, erwidere ich.

Eine erschütternde Demonstration

Die dritte Geschichte wollte ich meinen „tapferen“ Brüdern nicht erzählen:

In der Birzeit Universität bin ich ein ungefährdeter Zuschauer, als es für andere um Kopf und Kragen geht. Zwei israelische Militärfahrzeuge versperren direkt die beiden Eingänge der Universität. „ Was sollen wir uns noch gefallen lassen“, skandieren die entsetzten Studenten und rufen ihre Kommilitonen zur Demonstration auf. Unsere Sekretärin Sandy spricht mich an: „ action, wir gehen mit“. Ich denke gar nicht daran. Ich glaube ohnehin, die Studenten bleiben im Campus, und ihre Führer ziehen nur eine Show ab, um die nächsten Asta-Wahlen zu gewinnen, aber nein, etwa 300 Studenten marschieren zu den  Fahrzeugen. Ich merke, die Sache wird ernst. Ich muss  mit den Tränen ringen. Werde ich Zeuge einer blutigen Auseinandersetzung sein? Wird die Universität neue Märtyrer beisetzen?   Es ist ein ungleicher Kampf. Ist es dies vielleicht der Grund meiner unendlichen Traurigkeit, oder ist es vielleicht meine  Hilflosigkeit?  Was können diese jungen Studenten gegen Maschinengewehre bewirken? Hat der ehemalige Gefangene recht, der nach vielen Foltertagen in einem israelischen Gefängnis tapfer blieb und beinahe den Verstand verloren hatte, als er mir vor vielen Jahren sagte: „ Auch wenn du unterlegen bist, musst du den stärkeren Folterern zeigen, dass du für eine Sache stehst und nicht nach der ersten Ohrfeige umknickst.“  Die Studenten erringen einen kleinen Sieg. Mit ihren geschleuderten Steinen vertreiben sie die schwerbewaffneten Soldaten.

Was für eine Erleichterung, dass es glimpflich gelaufen ist?! In der nächsten Nacht dringen die Soldaten in die Universität ein und verwüsten die Asta-Räume. Sie haben auch ihren kleinen Sieg – winzige Mosaiksteine eines uralten Konflikts zwischen zwei leidgeprüften Völkern.

Die Kursteilnehmer wollen nicht von der Politik lassen

Seit sechs Jahren leite ich zusammen mit bewährten Kolleginnen und Kollegen, wie Ulrika Müller, Marcel Pott und Nadia Odeh, einen Feature-Kurs an der Universität Birzeit, an dem junge Journalisten verschiedener Sender teilnehmen. Das Ganze erfolgt im Rahmen eines Projekts, das die Heinrich Böll Stiftung betreut und finanziert. Wir, die Dozenten, sind stets bemüht, dass die Teilnehmer sich nicht nur mit politischen Problemen beschäftigen. Wir konnten ihnen Themen, wie die Geschichte einer Gemüseverkäufern auf dem Ramallah-Markt  oder eines Straßenhändlers schmackhaft machen. Es geht uns darum, die kleinen

Leute und nicht nur die Politiker ins Programm zu holen, aber letztlich müssen die Autoren sich mit ihrem Produkt identifizieren. Das ist eine der Voraussetzungen für ein gutes Feature.

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Dieses Jahr wussten alle – es waren überwiegend Frauen – ganz genau, welche Themen sie bearbeiten wollen, und sie waren mehr oder weniger sehr politische Beiträge: „Die Geschichte einer 35-tägigen Blockade  (Beginn am 29. März 2002) – aus der Sicht eines Augenzeugen und seiner Frau erzählt“ – Der einfache Mann war in der Mukqataa die ganze Zeit mit Arafat eingesperrt; eine weitere Story beschäftigt sich mit der Erschießung des Journalisten Issam Tallawi bei einer Demonstration für die Befreiung Arafats, die am 22. September 2002 stattfand.

Am traurigsten war jedoch die Geschichte einer Familie, die im Al Amari-Flüchtlingslager vegetiert. Die wichtigste Person des Features ist Clevin, die 12-jährige Tochter, die schluchzend über ihren arbeitslosen Vater und ihr trauriges Leben in der Schule berichtet. Die Autorin, Duha Al Schami, leitet die Geschichte mit einem Vers des aus Nazareth stammenden palästinensischen Dichters Toufik Ziad ein: „ Ich gebe die Hälfte meines Lebens dafür, das ein weinendes Kind lächelt…“ Ich sah die feuchten Augen Duhas und des Technikers Muhanad, die bei der Montage des Radiobeitrags waren. Im Orient darf man weinen, aber darf ein deutsch-palästinensischer Dozent mitweinen?

Doch keine wirkliche Palästina-Reise

Ich war fast ausschließlich in Ramallah und Birzeit, aber eine echte Palästina-Reise ist es nicht geworden, weil dazu mindestens eine Fahrt zu meiner Heimatstadt Jenin und ein Besuch bei meiner Schwester und den vielen Verwandten und Freunden  in Nablus, Qalqilia,  Beit Sahour  gehören. Diese Städte sind aber mehr oder weniger belagert; eine Fahrt dorthin ist nahezu unmöglich, obwohl alle Orte normalerweise fast in einem Tag zu erreichen wären. So nahm ich am Ende meines Aufenthalts wieder das Sammeltaxi und begab mich über die Kalandia-Absperrung zur Koenig Hussain- Bruecke.

November 2002

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