Der Andere

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Dr. Hamid Fadlalla

Das Telefon läutete. Er griff nach dem Hörer und führte ihn an sein Ohr. Deutlich hörte er ihre Stimme. Sie entschuldigte sich, sie könne wegen einer leichten Unpässlichheit nicht kommen und versicherte, sie werde am nächsten Tag wieder im Büro sein. Sie wusste, dass die andere Sekretärin Urlaub hatte und dass sein Chauffeur krank war. Er bedankte sich für ihren Anruf und wünschte ihr gute Besserung. Dann legte er den Hörer auf und öffnete das Fenster. Die Kühle Luftströmte frisch und belebend herein. Er entschloss sich, direkt zur Bank zu gehen, um einige Finanzpapiere zu unterschreiben und den Direktor zu besuchen, der ihn mehrmals zum Kaffee eingeladen hatte, ohne dass er die Einladung hätte annehmen können. Er würde auch einige arabische Zeitschriften im Stadtzentrum kaufen.

Froh, dass die Anstrengungen des Tages hinter ihm lagen, verliess er unbeschwert seine Wohnung. Der Frühling hatte allem seinen Stempel aufgedrückt. Der Himmel war strahlend blau. In den Gärten spross frisches Grün. Die Narzissen waren aus ihrem Winterschlaf erwacht.
 

Um dem Verkehrsstau zu umgehen, entschloss er sich, an diesem Tag sein Auto zu Hause zu lassen und den Bus zu benutzen. Dieser Entschluss passte zu dem Elan, den er seit dem frühen Morgen spürte. Rasch stieg er in den Bus. Hinter ihm schloss die Tür automatisch. Er bemerkte, dass die Fahrgäste ihn mit fragenden oder ängstlichen Blicken musterten, als er sich auf dem einzigen freien Platz niederliess, neben einer Frau, die eilig ihre Handtasche beiseite nahm und fest an sich presste.

Er bemerkte sogar das Pulsieren des Blutes in den Adern auf ihren Händen. Im Stillen fragte er sich: „Was wäre, wenn ich mich neben einen Mann gesetzt hätte? Wie hätte der reagiert?“ Er stellte sich vor, dass der die Arme über der Brust gekreuzt, sie über dem Zwerchfell fest an den Körper gepresst und ihm einen vielsagenden Blick zugeworfen hätte.

Unmöglich!
 

Er wollte sich diesen Vorstellungen nicht weiter hingeben. Er verspürte eine Beklemmung. Eine dumpfe Unruhe überfiel ihn. Hilflos blickte er aus dem Fenster und musterte die Gebäude und die Passanten, ein Gewimmel von Menschen – Männer, Frauen und Kinder, die Geschäfte betraten oder verliessen. Unzählige Autos eilten auf der entgegengesetzten Fahrbahn vorbei. Er lenkte seine Blicke zurück in den Bus und liess sie zwischen den Fahrgästen herumschweifen, ohne sie wirklich wahrzunehmen. Bei einer blutjungen Frau, die im Gang zwischen den Sitzen stand, hielten sie inne. Er war gebannt von ihr, wie ein Falter vom Licht. Ein leichtes Zittern befiel ihn, das sich verstärkte und seinen ganzen Körper ergriff. Fast wäre er aufgesprungen, hätte sie umarmt und gerufen: „Monika, Monika“, aber er gewann seinen klaren Verstand zurück. Was für ein Unsinn! Wie hätte sie Monika sein können ?

In Minutenschnelle gingen ihm Erinnerungen aus den vergangenen drei Jahrzehnten durch den Sinn – Erinnerungen an die Jugend, das Studium, das ungebundene Leben, an die erste Begegnung mit Monika, an seine erste Liebe und seine erste Narrheit.

Ihre Familie war strikt gegen diese Verbindung gewesen. Ihr Vater hatte diese zum Vorwand genommen, mit seiner Familie in eine grössere Stadt zu übersiedeln, um einen höheren Posten anzunehmen. Und er hatte seine Tochter an eine andere Universität geschickt.

Es waren schreckliche Monaten gewesen, die ihn fast aus der Bahn geworfen hätten.

Er blickte auf die Frau, die immer noch im Gang zwischen den Sitzreihen stand. Fast wäre er aufgestanden und zu ihr gegangen, um sie zu fragen: „Bist Du ihre Tochter?“ Aber er beherrschte sich und blieb sitzen. „Es handelt sich gewiss nur um eine zufällige Ähnlichkeit“, redete er sich ein.
 

Plötzlich fühlte er sich beruhigt und lächelte vor sich hin. Aber er konnte seinen Blick nicht von ihr lösen. Er schaute in ihr strahlendes Gesicht – ihre elegante Kleidung: die Farbe ihres Kleides, die Farbe der Ohrringe, Armband und Handtasche passte. Er betrachtete sie wie ein Kunstwerk. Für seine Sekretärin in einem multinationalen Konzern hielt er sie.
 

Erneut dachte er an Monika. In diesem Augenblick sah sie ihn überrascht an. Er senkte den Blick zu ihrer Handtasche, die locker über ihrer linken Schulter hing. Nervös wandte sie ihm den Rücken zu und begab sich zu Tür. Als der Bus hielt, stieg sie schnell aus. 

Auch er verliess den Bus. An der Strassenkreuzung spürte sie seine Schritte hinter sich. Da eilte sie auf die andere Strassenseite, ohne auf das Rot der Verkehrsampel, das Rufen der Passanten und das Hupen zu achten. Sie lief Hals über Kopf davon, ohne sich umzusehen.

Er überquerte die Strasse mit den übrigen Passanten und ging auf die Bank zu. Das Gebäude ragte hoch vor ihm auf.

Er verspürte Beklemmung und tiefe Trauer. Etwas hatte sich verändert in dieser neuen alten Stadt – der Stadt seiner Jugend. Er hatte geglaubt, er sei in den langen Jahren einer ihrer Bürger geworden. 

Mit schweren Schritten ging er auf die Bank zu und überlegte, ob er nicht künftig doch wieder das Auto benutzen sollte – trotz der mörderischen Staus, die seit der Vereinigung der beiden Teile der Stadt herrschten. Oder sollte er weiter mit dem Bus fahren, mit einem dicken deutschen Buch unter dem Arm oder einer deutschen Zeitschrift in der Hand ?
 

Über diesen Gedanken musste er lachen.

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